Читать книгу Anonyme Alkoholiker (Das Blaue Buch) - Alcoholics Anonymous World Services Inc. - Страница 12
BILLS GESCHICHTE
ОглавлениеAuch die Stadt in New England, in die wir jungen Offiziere von Plattsburg aus verlegt wurden, war vom Kriegstaumel erfasst. Wir fühlten uns geschmeichelt, wenn uns angesehene Bürger in ihre Häuser einluden und uns das Gefühl gaben, Helden zu sein. Hier spürten wir mitten im Krieg Zuneigung und Anerkennung. Es waren erhabene Momente – und manchmal waren wir auch richtig ausgelassen und fröhlich. – Endlich ging das Leben nicht mehr an mir vorbei. In diesem Drunter und Drüber entdeckte ich den Alkohol. Eindringliche Warnungen und Vorurteile meiner Familie gegen das Trinken waren vergessen. – Kurz darauf waren wir auf dem Weg nach Europa. Ich fühlte mich sehr einsam und wandte mich wieder dem Alkohol zu.
Wir landeten in England. Ich besuchte Winchester Cathedral. Ich war davon sehr beeindruckt. Als ich draußen herumschlenderte, erweckte ein Vers auf einem alten Grabstein meine Aufmerksamkeit:
„Hier liegt ein Hampshire Grenadier,
der trank zu Tod sich, ach,
mit zu viel Krügen kühlem Bier.
Gedenken folgt dem Kriegsmann nach,
ob ihn der grimm’ge Tod erschlug
durch Kugel oder Krug.“
Eine Warnung, die ich in den Wind schlug.
Mit zweiundzwanzig Jahren schon Kriegsveteran, kam ich schließlich nach Hause. Ich fühlte mich als Führernatur, denn hatten mir nicht die Männer meiner Einheit gerade das immer wieder bestätigt? Mit meinem Führungstalent wollte ich an die Spitze großer Unternehmen kommen, die ich mit sicherem Geschick leiten würde.
Ich belegte einen Abendkursus in Rechtswissenschaft und bekam eine Anstellung als Schadenssachbearbeiter in einer Versicherungsgesellschaft. Das Streben nach Erfolg hatte mich gepackt. Ich würde der Welt zeigen, wie wichtig ich war. Meine Arbeit führte mich zur Wall Street und nach und nach begann ich, mich für die Börse zu interessieren. Viele verloren Geld – aber einige wurden auch sehr reich dabei. Warum nicht auch ich? Außer mit Jura befasste ich mich jetzt auch mit Wirtschaftswissenschaften. Da ich schon auf dem Weg zum Alkoholiker war, schaffte ich beinahe meinen Jurakursus nicht. Bei einer der Abschlussprüfungen war ich so betrunken, dass ich weder denken noch schreiben konnte. Obwohl ich noch nicht ständig trank, war meine Frau beunruhigt. In langen Gesprächen versuchte ich, sie zu beruhigen, indem ich ihr erzählte, dass geniale Männer ihre besten Einfälle im Suff hatten und so zu höchsten philosophischen Erkenntnissen gekommen waren.
Als ich den Kursus in Rechtswissenschaften beendet hatte, wusste ich, dass Jura nichts für mich war. Ich war in das Mahlwerk der Wall Street geraten. Wirtschafts- und Finanzbosse waren meine Vorbilder. Aus dieser Verbindung von Suff und Spekulationen begann ich die Waffe zu schmieden, die sich eines Tages wie ein Bumerang gegen mich richten und mich kaputtmachen würde. Meine Frau und ich lebten bescheiden und sparten 1000 Dollar. Wir legten das Geld in Wertpapieren an, die damals billig und kaum gefragt waren. Meine Vermutung, dass sie eines Tages im Kurs erheblich steigen würden, bestätigte sich später. Ich konnte Maklerfreunde jedoch nicht dazu bewegen, mich loszuschicken, um einen Überblick über Fabriken und Unternehmen zu gewinnen. Aber meine Frau und ich beschlossen, es trotzdem zu tun. Nach einer von mir entwickelten Theorie verloren die meisten Leute ihr Geld an der Börse durch Unkenntnis des Marktes. Später entdeckte ich noch viele andere Gründe dafür.
Wir gaben unsere Stellungen auf – und ab ging’s auf dem Motorrad, den Beiwagen vollgestopft mit Zelt, Decken, Kleidern zum Wechseln und drei großen Handbüchern des Finanzmarktes. Unsere Freunde meinten, man sollte uns auf unseren Geisteszustand untersuchen. Vielleicht hatten sie Recht. Da ich einigen Erfolg beim Spekulieren gehabt hatte, besaßen wir etwas Geld. Um unser kleines Kapital nicht angreifen zu müssen, arbeiteten wir einen Monat auf einer Farm. Für lange Zeit sollte das für mich die letzte ehrliche, körperliche Arbeit gewesen sein. Wir bereisten den ganzen östlichen Teil der Vereinigten Staaten in einem Jahr. Am Ende verschafften mir meine Berichte an die Wall Street dort eine neue Stellung und ich hatte ein hohes Spesenkonto zur Verfügung. Ein Termingeschäft brachte uns in jenem Jahr einen Gewinn von mehreren tausend Dollar.
In den nächsten paar Jahren flogen mir Geld und Beifall nur so zu. Ich hatte es geschafft. Das Rascheln der Geldscheine brachte viele dazu, meinem Beispiel zu folgen. Der Aufschwung der späten Zwanzigerjahre nahm überschäumende Formen an. Alkohol bildete einen wichtigen Bestandteil meines Lebens. In den Jazzlokalen der Stadt wurde hitzig debattiert. Jeder warf mit Tausendern nur so um sich und fantasierte von Millionen. Sollten die Spötter ruhig spotten, mir war’s gleich. Ich machte mich zum Gastgeber von Schönwetterfreunden.
Mein Trinken nahm ernstere Formen an, ich trank fast den ganzen Tag und beinahe jeden Abend. Die Vorhaltungen meiner Freunde führten zu Streit und machten mich zum Einzelgänger. In unserer aufwendigen Wohnung gab es hässliche Szenen. Meiner Frau war ich nie richtig untreu geworden. Vor Seitensprüngen bewahrte mich die Anhänglichkeit zu ihr und meine zeitweilig extreme Trunkenheit.
Im Jahre 1929 packte mich das Golffieber. Deshalb zogen wir aufs Land. Für meinen Ehrgeiz, den damals berühmten Golfspieler Walter Hagen zu schlagen, erwartete ich den Beifall meiner Frau. Aber der Alkohol holte mich schneller ein als ich Walter Hagen schlagen konnte. Das morgendliche Zittern begann. Beim Golfspiel war es möglich, von morgens bis abends zu trinken. Es machte mir Spaß, auf dem exklusiven Platz umherzustreifen, der in mir schon solche Ehrfurcht erweckt hatte, als ich noch ein Junge gewesen war. Meine Haut nahm die makellose Bräune der Wohlhabenden an. Mit amüsierter Skepsis beobachtete der örtliche Bankangestellte den regen Ein- und Ausgang meiner dicken Schecks.
Ganz unerwartet brach im Oktober 1929 an der New Yorker Börse die Hölle los. Nach einem dieser verteufelten Tage schwankte ich aus einer Hotelbar in ein Maklerbüro. Es war abends acht Uhr, fünf Stunden nachdem die Börse geschlossen hatte. Der automatische Kursanzeiger tickte immer noch. Ich starrte auf einen Papierstreifen mit der Notierung XYZ 32. Am Morgen waren es noch 52 gewesen. Wie so viele meiner Freunde war auch ich ruiniert. Die Zeitungen berichteten, dass Menschen von den hohen Dächern der Finanzburgen in den Tod gesprungen waren. Das widerte mich an. Ich würde nicht springen. Ich ging in die Bar zurück. Seit 10 Uhr morgens hatten meine Freunde mehrere Millionen verloren – na und? Morgen war ein neuer Tag. Beim Trinken kehrte meine alte, verbissene Entschlossenheit zu gewinnen, zurück.
Am nächsten Morgen rief ich einen Freund in Montreal an. Er hatte genügend Geld übrig behalten und meinte, es wäre besser, wenn ich nach Kanada ginge. Im Frühjahr des folgenden Jahres lebten wir wieder in unserem altgewohnten Stil. Ich fühlte mich wie Napoleon nach der Rückkehr von Elba. Für mich gab es kein St. Helena. Aber bald trank ich wieder – und mein großzügiger Freund war gezwungen, mich fallen zu lassen. Diesmal waren wir endgültig pleite.
Wir zogen zu den Eltern meiner Frau. Ich fand Arbeit, die ich jedoch nach einer Schlägerei mit einem Taxifahrer verlor. Gott sei Dank konnte damals noch niemand voraussehen, dass ich fünf Jahre lang keinen festen Arbeitsplatz haben und genauso lange Zeit kaum nüchtern sein würde. Meine Frau nahm eine Stellung in einem Kaufhaus an. Wenn sie abends erschöpft nach Hause kam, fand sie mich betrunken vor. Ich wurde zum unerwünschten Herumtreiber in den Maklerbüros.
Alkohol war kein Luxus mehr, er wurde zur Notwendigkeit. Zwei bis drei Flaschen schwarz gebrannter Gin wurden zur Gewohnheit. Kleine Geschäfte brachten hin und wieder einige hundert Dollar, sodass ich meine Schulden in den Bars und Lebensmittelgeschäften bezahlen konnte. So ging es endlos weiter. Ich wachte morgens sehr früh auf und war dabei von heftigem Zittern geschüttelt. Um überhaupt frühstücken zu können, brauchte ich erst ein Wasserglas Gin und ein halbes Dutzend Flaschen Bier. Trotzdem glaubte ich immer noch, die Situation im Griff zu haben. Es gab aber auch nüchterne Phasen, die meiner Frau wieder Hoffnung machten.
Nach und nach wurde es schlimmer. Das Haus wurde von Gläubigern übernommen, meine Schwiegermutter starb, meine Frau und mein Schwiegervater wurden krank.
Dann bot sich mir eine vielversprechende Gelegenheit, ein Geschäft zu machen. Die Aktien waren auf dem Tiefstand von 1932 – und irgendwie gelang es mir, eine Käufergruppe zu bilden. Ich sollte großzügig am Gewinn beteiligt werden. Die guten Chancen verdarb ich mir durch eine neue Sauftour.
Ich wachte auf. Das musste ein Ende haben. Ich sah ein, dass ich nicht mal mehr ein einziges Glas trinken durfte. Ich war restlos fertig. Früher hatte ich die heiligsten, schriftlichen Versprechungen gemacht. Jetzt aber war meine Frau glücklich darüber, dass es mir dieses Mal ernst damit war. Es war mir ernst.
Kurz danach kam ich dennoch betrunken nach Hause. Ich hatte mich nicht dagegen gewehrt. Wo waren meine großen Vorsätze geblieben? Ich wusste es einfach nicht. Es war mir auch nicht bewusst geworden. Jemand hatte mir ein Glas zugeschoben – und ich hatte es ausgetrunken. War ich verrückt? Bei so viel Unüberlegtheit schien ich nicht weit davon entfernt zu sein.
Ich erneuerte meinen Vorsatz und versuchte es wieder. Nach einiger Zeit wurde das Selbstvertrauen von Überheblichkeit abgelöst. Ich konnte über die Schnapsbrennereien lachen. Jetzt wusste ich, worauf es ankam. Eines Tages betrat ich ein Café, um zu telefonieren. Plötzlich stand ich an der Bar, ohne zu wissen, wie ich dahin gekommen war. Als mir der Whisky zu Kopf stieg, sagte ich mir, dass ich es das nächste Mal besser machen würde. Jetzt wollte ich mich erst einmal besser fühlen und ließ mich volllaufen.
Die Reue, den Schrecken und die Hoffnungslosigkeit am nächsten Morgen werde ich nie vergessen. Der Mut zu kämpfen war weg. Mein Hirn raste unkontrolliert und ich hatte ein schreckliches Gefühl von drohendem Unheil. Es war noch nicht Tag und ich wagte kaum, über die Straße zu gehen, aus Angst, zusammenzubrechen und von einem Lieferwagen überfahren zu werden. Eine Kneipe, die die ganze Nacht geöffnet hatte, versorgte mich mit etlichen Glas Bier. Meine verkrampften Nerven kamen schließlich zur Ruhe. Durch eine Morgenzeitung erfuhr ich, dass an der Börse wieder der Teufel los war. In mir auch. Der Börsenmarkt würde sich erholen, ich aber nicht. Das war hart. Sollte ich Schluss machen? Nein – jetzt nicht. Ich war wie benebelt. Gin würde das beheben. Zwei Flaschen und – totales Vergessen.
Körper und Geist sind wunderbare Mechanismen. Sie hielten diese Qual noch zwei Jahre aus. In meiner schrecklichen morgendlichen Verfassung vergriff ich mich an dem dünnen Portemonnaie meiner Frau. Dann stand ich wieder einmal schwankend vor einem offenen Fenster oder am Medikamentenschrank, in dem Gift war und verfluchte mich als Schwächling. Durch Ausflüge in die Umgebung versuchten wir, dieser Situation zu entfliehen. Dann kam die Nacht, in der meine körperlichen und geistigen Qualen so höllisch waren, dass ich Angst hatte, durchs geschlossene Fenster zu springen. Irgendwie schaffte ich es, meine Matratze in ein unteres Stockwerk zu zerren, um die Gefahr zu verringern, falls ich plötzlich springen sollte. Ein Arzt kam und gab mir ein starkes Beruhigungsmittel. Am nächsten Tag nahm ich beides, Gin und Beruhigungsmittel. Diese Mischung gab mir bald den Rest. Alle fürchteten um meinen Verstand. Ich auch. Wenn ich trank, konnte ich wenig oder nichts essen. Ich hatte 40 Pfund Untergewicht.
Mein Schwager ist Arzt. Mit seiner und meiner Mutter Hilfe wurde ich in ein bekanntes Rehabilitationskrankenhaus für Alkoholiker gebracht. Durch eine sogenannte Belladonna-Behandlung wurde mein Hirn wieder klar. Hydrotherapie und leichte Gymnastik halfen viel. Doch das Beste war, dass ich einen freundlichen Arzt traf, der mir erklärte, dass ich zwar selbstsüchtig und leichtsinnig gewesen war, aber auch ernsthaft krank, körperlich und geistig.
Es erleichterte mich irgendwie, als ich erfuhr, dass Alkoholiker einen erstaunlich geschwächten Willen haben, wenn es darum geht, gegen Alkohol zu kämpfen, obwohl dieser Wille in anderer Beziehung oft stark bleibt. Das erklärte mein unglaubliches Benehmen bei dem verzweifelten Versuch, mit dem Trinken aufzuhören. Da ich nun wusste, wie es um mich stand, keimte neue Hoffnung in mir. Drei oder vier Monate hielt diese Stimmung an. Regelmäßig ging ich in die Stadt und verdiente sogar etwas Geld. Selbsterkenntnis – das war sicherlich die Antwort.
Es war nicht die Antwort, denn der gefürchtete Tag kam, an dem ich wieder trank. Mit meiner moralischen und körperlichen Gesundheit ging es rapide bergab. Nach kurzer Zeit war ich wieder im Krankenhaus. Das war das Ende, der Vorhang fiel, so schien es mir. Meiner besorgten und verzweifelten Frau wurde mitgeteilt, dass ich innerhalb eines Jahres entweder durch Herzversagen im Delirium tremens oder durch Gehirnerweichung enden würde. Sie müsse mich bald entweder dem Totengräber oder der Irrenanstalt überlassen.
Mir brauchte man das nicht zu sagen. Ich wusste es und begrüßte beinahe den Gedanken. Mein Stolz war aufs Tiefste verletzt. Ich, der ich so sehr von mir überzeugt war und von meiner Fähigkeit, Schwierigkeiten zu überwinden, war schließlich in die Ecke gedrängt. Nun sollte ich in die Dunkelheit fallen und mich den endlosen Reihen von Säufern anschließen. Ich dachte an meine arme Frau. Trotz allem waren wir glücklich gewesen. Was würde ich nicht alles geben, um wiedergutzumachen! Damit war es aber jetzt vorbei.
Worte können nicht die Einsamkeit und Verzweiflung wiedergeben, die ich im tiefen Morast des Selbstmitleids fand. Treibsand war um mich herum in allen Richtungen. Ich hatte mein Spiel gespielt – und verloren. Der Alkohol war mein Meister.
Zitternd verließ ich als gebrochener Mann das Krankenhaus. Furcht ernüchterte mich für kurze Zeit. Dann kam der heimtückische Irrsinn des ersten Glases – und am „Tag der Armee“ 1934 war ich wieder voll drin. Alle kamen zu der Überzeugung, dass man mich irgendwo einsperren müsse, oder ich würde elend zugrunde gehen. Wie dunkel ist es doch vor Tagesanbruch. In Wirklichkeit war das der Anfang meiner letzten Saufphase. Bald aber sollte ich in das geschleudert werden, was ich gern als die „Vierte Dimension“ des Daseins bezeichne. Ich sollte Glück, Frieden und eigene Nützlichkeit kennenlernen in einem neuen Leben, das mit fortschreitender Zeit immer schöner wird.
Und das geschah so: Gegen Ende dieses tristen Novembers saß ich in meiner Küche und trank. Mit einer gewissen Befriedigung dachte ich daran, dass genug Gin im Hause versteckt war, um mich durch die Nacht und über den nächsten Tag zu bringen. Meine Frau arbeitete. Ich überlegte, ob ich es wagen konnte, eine Flasche Gin am Kopfende unseres Bettes zu verstecken. Vor Tagesanbruch würde ich sie brauchen.
Meine Überlegungen wurden durch das Telefon unterbrochen. Mit munterer Stimme fragte ein alter Schulfreund, ob er mal rüberkommen könne. Er war nüchtern. Soweit ich mich erinnern konnte, lag es Jahre zurück, dass er in diesem Zustand nach New York gekommen war. Ich war überrascht. Gerüchten zufolge hatte man ihn wegen alkoholischen Irrsinns in eine Klinik eingewiesen. Ich fragte mich, wie er da hatte herauskommen können. Sicher würde er zu Abend essen und dann könnte ich ganz offen mit ihm trinken. Ohne Rücksicht auf sein Wohlergehen dachte ich nur daran, den Geist früherer Tage heraufzubeschwören. Als Krönung einer Sauftour hatten wir einmal sogar ein Flugzeug gechartert. Sein Kommen war wie eine Oase in dieser trostlosen Wüste sinnlosen Lebens. Das war es – eine Oase! Säufer sind so.
Die Tür ging auf, er stand da, frisch rasiert und strahlend. Da war etwas in seinem Blick. Er war auf unerklärliche Weise verändert. Was war geschehen?
Ich schob ihm einen Drink zu. Er lehnte ihn ab. Enttäuscht, aber neugierig überlegte ich, was mit dem Kerl geschehen war. Er war nicht mehr er selbst.
„Komm, was soll das alles?“, fragte ich mit Nachdruck.
Er schaute mich offen an. Lächelnd sagte er einfach: „Ich habe meinen Glauben gefunden.“
Ich war bestürzt. Das war es also. Im vergangenen Sommer ein alkoholischer Spinner und jetzt ein leicht spinnender Glaubensbruder, argwöhnte ich. Er hatte diesen verklärten Blick. Ja, der alte Bursche hatte Feuer gefangen. Lass ihn schwätzen, meinen Segen hat er! Außerdem würde mein Gin länger halten als sein Predigen.
Aber es war kein Geschwätz. Mit einfachen, knappen Worten berichtete er, wie zwei Männer vor Gericht erschienen waren und den Richter dazu gebracht hatten, seinen Einweisungsbeschluss aufzuheben. Sie hatten von einem einfachen Glaubensgedanken und einem praktischen, zu Aktivität auffordernden Arbeitsprogramm gesprochen. Das war vor zwei Monaten – und das Ergebnis war offensichtlich. Es funktionierte!
Er war gekommen, um seine Erfahrungen an mich weiterzugeben – wenn ich Wert darauf legte. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, aber dennoch interessiert. Gewiss war ich interessiert. Ich musste es sein, denn ich war ohne Hoffnung.
Er sprach stundenlang. Kindheitserinnerungen tauchten in mir auf. Es war mir, als hörte ich die Stimme des Pfarrers, wenn ich an stillen Sonntagen weit draußen auf den Hügeln saß. Da war dieser Vorschlag zu einem Nüchternheitsgelübde, dem ich nie gefolgt war. Ebenso erinnerte ich mich an den gutmütigen Spott meines Großvaters über die Geistlichkeit und deren Getue; auch daran, dass er darauf beharrte, es gäbe wirklich Musik in den Sphären. Gleichzeitig aber sprach er dem Pfarrer das Recht ab, ihm vorzuschreiben, wie er den Klängen zu lauschen habe. Ich dachte an die Furchtlosigkeit, mit der mein Großvater von all diesen Dingen kurz vor seinem Tode gesprochen hatte. Bei diesen Gedanken, die aus der Vergangenheit auftauchten, hatte ich einen Kloß im Hals.
Der Kriegstag in der alten Winchester Cathedral tauchte wieder auf.
Ich hatte immer an eine Macht, größer als ich selbst, geglaubt und hatte mir oft über diese Dinge Gedanken gemacht. Ich war kein Atheist. Tatsächlich gibt es nur wenige Atheisten, denn Atheismus bedeutet blind der seltsamen Theorie zu vertrauen, dass das Universum aus dem Nichts kommt und ziellos in das Nichts rast. Die von mir anerkannten geistigen Größen aus der Chemie, der Astronomie, ja sogar die aus der Abstammungslehre sprachen von allumfassenden Gesetzen und Kräften, die am Werk waren. Trotz aller gegenteiligen Anzeichen gab es bei mir wenig Zweifel, dass eine machtvolle Absicht und Ordnung allem zugrunde lag. Wie konnte es ohne Geist und Verstand so genaue und unwandelbare Gesetze geben? Ich musste ganz einfach an einen Geist des Universums glauben, der weder Zeit noch Grenzen kennt. Bis dahin war ich mit meinen Gedanken gekommen.
Damit hörte die Gemeinsamkeit zwischen der Geistlichkeit, den Weltreligionen und mir schon auf. Wenn sie von einem Gott sprachen, der mir nahe stand, der ein Gott der Liebe, der übermenschlichen Stärke und der Wegweisung war, wurde ich verwirrt – und mein Geist verschloss sich solchen Theorien.
Ich war bereit, zuzugestehen, dass Christus ein großer Mann gewesen war, in weitem Abstand gefolgt von denjenigen, die ihn für sich beanspruchen. Seine geistige Lehre hielt ich für ausgezeichnet. Für mich hatte ich das akzeptiert, was mir passte und bequem war; den Rest beachtete ich nicht.
Die Kriege, die Verbrennungen und Grausamkeiten, die durch Religionsstreitigkeiten entfacht worden waren, machten mich krank. Mir kamen ehrliche Zweifel, ob die Religionen den Menschen überhaupt Gutes gebracht hatten. Wenn ich davon ausging, was ich in Europa und danach gesehen hatte, konnte ich von göttlichem Wirken zwischen den Menschen nichts spüren. Hier noch von Brüderlichkeit zu reden war ein grausamer Witz. Wenn es einen Teufel gab, schien er der Herr der Welt zu sein – und mich hatte er mit Sicherheit in seiner Gewalt.
Aber nun saß mein Freund vor mir und erklärte mir geradeheraus, dass Gott für ihn das getan hatte, was er selbst für sich nicht hatte tun können. Sein menschlicher Wille hatte versagt. Ärzte hatten ihn für unheilbar erklärt. Die Gesellschaft war drauf und dran, ihn einzusperren. Wie ich hatte auch er seine totale Niederlage eingestanden. Dann war er tatsächlich wieder von den Toten auferstanden, von einem Abfallhaufen in ein Leben, wie er es besser nie gekannt hatte.
Kam diese Kraft aus ihm selbst? Offensichtlich nicht. In ihm war nicht mehr Kraft gewesen als in diesem Augenblick in mir war – und da war gar keine.
Das haute mich um. Es dämmerte mir, religiöse Menschen könnten trotz allem Recht haben. Hier war etwas im Menschenherzen am Werk, was Unmögliches möglich machte. In dem Moment wurde meine Vorstellung von Wundern drastisch verändert. Weg mit dem alten Hut. Hier saß mir ein Wunder am Küchentisch gegenüber und verkündete große, gute Neuigkeiten.
Ich sah, dass mein Freund mehr als eine innerliche Wandlung durchgemacht hatte. Er hatte eine andere Basis. Er wurzelte in neuem Boden.
Trotz des lebenden Beispiels meines Freundes blieben in mir Reste meines alten Vorurteils. Das Wort Gott erweckte in mir immer noch eine Art Antipathie. Dieses Gefühl verstärkte sich bei dem Gedanken, dass es einen mir nahestehenden Gott geben sollte. Mir lag dieser Gedanke nicht. Für Begriffe wie schöpferische Intelligenz, allumfassender Geist oder Naturgeist konnte ich mich begeistern, aber ich widersetzte mich dem Gedanken an einen Herrscher im Himmel, wie liebevoll seine Herrschaft auch immer sein mochte. Ich habe seither mit einer Menge von Leuten gesprochen, die früher genauso empfunden hatten.
Mein Freund machte einen Vorschlag, der mir damals als ein neuer Gedanke erschien. Er sagte: „Warum suchst du dir nicht deinen eigenen Begriff von Gott?“
Diese Aufforderung überzeugte mich. Sie ließ den geistigen Eisberg schmelzen, in dessen Schatten ich viele Jahre gelebt und gezittert hatte. Schließlich stand ich im Sonnenlicht.
Es kam nur darauf an, bereit zu sein, an eine Macht, größer als ich selbst, zu glauben. Mehr wurde von mir für meinen Anfang nicht gefordert. Ich erkannte, dass von hier aus das Wachstum beginnen konnte. Auf dem Fundament vollständiger Bereitschaft könnte ich das aufbauen, was ich in meinem Freund sah. Würde ich die Bereitschaft haben? Selbstverständlich würde ich.
So wurde ich davon überzeugt, dass Gott für uns Menschen da ist, wenn wir Ihn wirklich wollen. Endlich sah ich, fühlte ich, glaubte ich. Stolz und Vorurteile fielen wie Schuppen von meinen Augen. Eine neue Welt tat sich auf.
Die wirkliche Bedeutung meines Erlebnisses in der Kathedrale ging mir plötzlich auf. Für einen kurzen Augenblick hatte ich Gott gebraucht und gewollt. In mir war eine demütige Bereitschaft, Ihn bei mir zu haben, und Er kam. Aber bald wurde das Gefühl für Seine Gegenwart überdeckt durch laute Geschäftigkeit, vor allem in mir selbst. Und so war es seitdem immer. Wie blind war ich!
Den letzten Alkoholentzug machte ich im Krankenhaus. Die Behandlung erschien ratsam, denn ich hatte Anzeichen von Delirium tremens.
Dort empfahl ich mich demütig Gott, so wie ich Ihn damals verstand und bat Ihn, mit mir zu tun, was Er wolle. Ich vertraute mich uneingeschränkt Seiner Fürsorge und Leitung an. Zum ersten Mal gab ich zu, dass ich von mir aus nichts war; ohne Ihn war ich verloren. Schonungslos bekannte ich mich zu meinen Sünden und war bereit, sie von diesem neu gewonnenen Freund mit Stumpf und Stiel von mir nehmen zu lassen. Seitdem habe ich keinen Alkohol mehr getrunken.
Mein Schulfreund besuchte mich und ich vertraute ihm voll meine Probleme und Mängel an. Wir machten eine Liste von Menschen, die ich verletzt hatte und gegen die ich Groll hegte. Ich erklärte meine völlige Bereitwilligkeit, diesen Leuten meine Fehler einzugestehen. Niemals mehr wollte ich sie kritisieren. All diese Dinge musste ich nach besten Kräften in Ordnung bringen.
Ich musste mein Denken im Licht meiner neuen Gotteserkenntnis überprüfen. Was mir früher als „gesunder Menschenverstand“ erschien, war mir jetzt gar nicht mehr so selbstverständlich. Im Zweifel würde ich mich ruhig hinsetzen, Ihn nur um Leitung und Kraft bitten, mich meinen Problemen in Seinem Sinn stellen zu können. Niemals wollte ich etwas für mich selbst erbitten, es sei denn, ich könnte damit anderen nützlich sein. Nur so konnte ich erwarten, etwas zu erhalten. Und das würde in hohem Maße sein.
Mein Freund versprach, ich würde in eine neue Beziehung zu meinem Schöpfer treten, wenn diese Dinge getan wären. Ich würde die Grundlagen für eine neue Lebensform erhalten und Antworten auf alle meine Probleme. Die wesentlichen Voraussetzungen waren: Glaube an die Macht Gottes, dazu genug Bereitwilligkeit, Ehrlichkeit und Demut, den Dingen einen neuen Stellenwert zu geben und zu erhalten.
Einfach, aber nicht leicht: Ein Preis musste bezahlt werden. Das bedeutete Zerstörung der Ichbezogenheit. Ich muss mich in allem an den Vater des Lichts wenden, der über uns allen steht.
Das waren revolutionäre und einschneidende Vorschläge, aber in dem Augenblick, in dem ich sie voll annahm, hatten sie eine elektrisierende Wirkung. Da war in mir Siegesgefühl, dem Frieden und Gelassenheit folgten, wie ich es vorher nie gekannt hatte. Das gab mir unendliches Vertrauen. Ich fühlte mich emporgehoben, wie von einem starken, frischen Bergwind durchweht. Gott offenbart sich den meisten Menschen zögernd. Aber auf mich war sein Wirken schlagartig und tief greifend.
Für einen Augenblick war ich stark beunruhigt und rief meinen Freund, den Arzt, um ihn zu fragen, ob ich noch bei Verstand sei. Er hörte mir erstaunt zu.
Schließlich schüttelte er seinen Kopf und sagte: „Mit dir ist etwas geschehen, was ich nicht verstehe. Aber bleib nur dabei. Besser so als vorher.“ Der gute Doktor hat später noch viele Menschen erlebt, die solche Erfahrungen gemacht haben und er wusste dann, dass es so etwas wirklich gibt.
Während ich im Krankenhaus lag, kam mir der Gedanke, dass es Tausende von hoffnungslosen Alkoholikern gab, die glücklich darüber wären, das zu erhalten, was mir so großmütig gegeben worden war. Vielleicht könnte ich einigen von ihnen helfen. Sie wiederum könnten es anderen weitergeben.
Mein Freund verwies darauf, wie notwendig es sei, diese Prinzipien allen meinen persönlichen Angelegenheiten zugrunde zu legen. Dazu gehörte vorrangig, mit anderen so zusammenzuarbeiten, wie er es mit mir getan hatte. Glaube ohne Taten sei leblos, sagte er. Wie einleuchtend und wahr für den Alkoholiker! Wenn ein Alkoholiker es versäumte, sein spirituelles Leben durch Arbeit und selbstlose Hilfe für andere zu vervollkommnen und zu erweitern, konnte er nicht die mit Sicherheit vor ihm liegenden Versuchungen und Tiefschläge überleben. Wenn er nicht in diesem Sinn arbeitet, wird er bestimmt wieder trinken – und wenn er wieder trinkt, wird er bestimmt sterben. Deshalb ist der Glaube ohne Taten wirklich tot. Und das trifft auf uns ganz sicherlich zu.
Meine Frau und ich widmeten uns mit Begeisterung der Aufgabe, anderen Alkoholikern bei der Lösung ihrer Probleme zu helfen. Das traf sich gut. Meine alten Geschäftsfreunde blieben nämlich skeptisch, sodass ich anderthalb Jahre kaum Arbeit fand. Damals ging es mir nicht besonders gut, Wellen von Selbstmitleid und Groll überschwemmten mich. Das trieb mich manchmal fast zum Glas zurück. Bald fand ich heraus: Wenn alle anderen Mittel versagten, konnte ich den Tag retten, indem ich mich um einen anderen Alkoholiker kümmerte. Oft bin ich verzweifelt zu meinem alten Krankenhaus gegangen. Wenn ich mich dort mit jemandem unterhielt, war ich verblüfft, wie schnell ich wieder aufgerichtet und auf die Füße gestellt war. Das ist ein Lebensrezept, das in schwierigen Zeiten hilft.
Schnell fanden wir viele Freunde. Es bildete sich eine Gemeinschaft und es ist eine wunderbare Sache, daran teilzuhaben. Wir können uns des Lebens freuen, selbst unter Druck und Schwierigkeiten. Ich habe Hunderte von Familien gesehen, die ihre Füße auf diesen Weg gesetzt haben, der wirklich zu einem Ziel führt. Wir haben gesehen, dass die unmöglichsten häuslichen Verhältnisse wieder in Ordnung kamen. Streit und Verbitterung aller Art verschwanden. Ich habe Menschen gesehen, die aus Anstalten kamen und ihren wichtigen Platz im Leben der Familien und Gemeinden wieder einnahmen. Geschäftsleute und Akademiker haben ihr Ansehen wiedergewonnen. Es gibt kaum eine Form von Ärger und Elend, die wir nicht bewältigt haben. In einer Stadt im Westen und in deren Umgebung gibt es Tausend von uns und unseren Familien. Wir treffen uns häufig, sodass Neulinge die Gemeinschaft finden können, die sie suchen. An diesen zwanglosen Zusammenkünften nehmen oft zwischen fünfzig und zweihundert Personen teil. An Zahl und Kraft nehmen wir ständig zu.1
Ein Alkoholiker, der noch am Glas hängt, ist kein liebenswertes Geschöpf. Unser Ringen um sie ist unterschiedlich anstrengend, oft komisch und manchmal tragisch. Ein armer Kerl beging bei uns zu Haus Selbstmord. Er konnte oder wollte unsere Art zu leben nicht begreifen.
Dennoch haben wir viel Freude an allem. Ich vermute, dass mancher schockiert ist über unsere scheinbare Frivolität und Weltlichkeit. Dahinter aber verbirgt sich tödlicher Ernst. Der Glaube muss 24 Stunden am Tag in uns und durch uns arbeiten, oder wir kommen um.
Die meisten von uns erkennen, dass wir nicht weiter nach Utopia suchen müssen. Wir haben es jetzt und hier. Täglich wird aus dem einfachen Gespräch mit meinem Freund in unserer Küche ein sich erweiternder Kreis von Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.
Bill W., Mitbegründer der AA-Gemeinschaft, ist am 24. Januar 1971 gestorben.
1 2015 besteht AA weltweit aus ca. 115.000 Gruppen