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VORWORT ZUR ZWEITEN AMERIKANISCHEN AUFLAGE

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Die Zahlenangaben in diesem Vorwort beschreiben die Gemeinschaft wie sie 1955 war.

Seitdem im Jahre 1939 das ursprüngliche Vorwort zu diesem Buch geschrieben worden ist, hat sich wahrhaft ein Wunder ereignet. In unserer frühesten Ausgabe sprachen wir die Hoffnung aus: „Jeder Alkoholiker, der auf Reisen ist, möge an seinem Reiseziel die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker vorfinden. Schon jetzt“, so fährt jener alte Text fort, „sind in anderen Gemeinden Gruppen mit zwei, drei oder fünf unserer Mitglieder entstanden.“

Seitdem wir dieses Buch zum ersten Mal in Druck gaben, sind bis zum Erscheinen der zweiten Auflage im Jahr 1955 sechzehn Jahre vergangen. In dieser kurzen Zeit ist die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker auf fast 6.000 Gruppen emporgeschossen; die Mitgliederzahl umfasst weit über 150.000 genesene Alkoholiker.“ (Zahlenangaben in diesem Vorwort beziehen sich auf den Stand, den die AA-Gemeinschaft 1955 erreicht hatte.) In jedem der Staaten der USA und in allen Provinzen Kanadas gibt es solche Gruppen. Die AA-Gemeinschaft hat blühende Zweige auf den Britischen Inseln, in den skandinavischen Ländern, in Südafrika, Südamerika, Mexiko, Alaska, Australien und Hawaii. Wenn man alles zusammenzählt, sind in etwa 50 fremden Ländern und Besitztümern der Vereinigten Staaten vielversprechende Anfänge gemacht worden. Solche Anfänge nehmen gerade jetzt in Asien Form an. Viele unserer Freunde stärken unseren Mut und sagen: Dies alles ist ja nur erst der Anfang; in ihm stecken die Vorzeichen einer bevorstehenden viel größeren Zukunft.

Der Funke, der die erste AA-Gruppe entflammen sollte, wurde im Juni 1935 in Akron, Ohio, bei einem Gespräch entzündet, das zwischen einem New Yorker Börsenmakler und einem Arzt aus Akron geführt wurde. Sechs Monate zuvor war der Finanzmann durch eine plötzliche spirituelle Erfahrung von seiner Trunksucht befreit worden. Dies war auf ein Zusammentreffen mit einem befreundeten Alkoholiker erfolgt, der mit den Oxford-Gruppen jener Tage in Berührung gekommen war. Eine andere große Hilfe war dem Makler durch einen New Yorker Spezialarzt in der Behandlung von Alkoholikern zuteilgeworden, durch den inzwischen verstorbenen Dr. William D. Silkworth, der heute von den AA-Mitgliedern beinahe wie ein medizinischer Heiliger verehrt wird. Dr. Silkworths Bericht über jene Anfangstage unserer Gemeinschaft erscheint auf den folgenden Seiten. Von diesem Arzt hatte der Makler erfahren, dass Alkoholismus eine lebensgefährliche Krankheit ist. Obwohl der Makler nicht alle Grundsätze der Oxfordgruppe annehmen konnte, war er doch davon überzeugt, dass eine Inventur in unserem Inneren notwendig sei, das Eingeständnis der Charakterfehler, die Wiedergutmachung an den Geschädigten, die Hilfsbereitschaft anderen gegenüber und die Notwendigkeit, an Gott zu glauben und von Ihm abhängig zu sein.

Vor seiner Reise nach Akron hatte sich der Makler mit vielen Alkoholikern große Mühe gegeben, weil er der Auffassung war, dass nur ein Alkoholiker einem anderen Alkoholiker helfen könne. Der Erfolg dieser Arbeit bestand aber nur darin, dass er selbst nüchtern geblieben war. Der Finanzmann war auf einer Geschäftsreise nach Akron gekommen. Das Geschäft war fehlgeschlagen. Und nun war bei ihm die große Furcht entstanden, dass er wieder zu trinken anfangen würde. Plötzlich wurde ihm klar, dass er, um sich selber zu retten, die Botschaft zu einem anderen Alkoholiker bringen müsse. Jener andere Alkoholiker war eben der Arzt in Akron.

Der Arzt hatte schon wiederholt spirituelle Methoden erprobt, um mit seinem Alkoholdilemma fertig zu werden. Er war jedoch dabei immer wieder gescheitert. Als der Makler ihm aber die Ansichten des Dr. Silkworth über den Alkoholismus und dessen Hoffnungslosigkeit mitteilte, entwickelte der Arzt eine Bereitschaft, die er bisher noch nie aufgebracht hatte, um das spirituelle Heilmittel für seine Krankheit zu erringen. Er wurde nüchtern und trank bis zum Augenblick seines Todes im Jahre 1950 keinen Alkohol mehr. Dies schien zu beweisen, dass ein Alkoholiker auf einen anderen eine Einwirkung ausüben konnte, wie es Nichtalkoholiker niemals fertigbrachten. Aber es zeigte auch, dass ein intensives Bemühen des einen Alkoholikers um den anderen für die dauernde Genesung lebensnotwendig war.

Von diesem Augenblick an arbeiteten die beiden Männer fast wie besessen mit Alkoholikern, die in die entsprechende Abteilung des Städtischen Krankenhauses in Akron kamen. Ihr allererster, ein wirklich verzweifelter Fall, konnte sofort genesen und wurde das AA-Mitglied Nummer drei. Er hat nie mehr einen Schluck Alkohol getrunken. Diese Arbeit in Akron dauerte den ganzen Sommer 1935 hindurch. Es gab auch viele Fehlschläge. Aber gelegentlich kam es doch zu einem ermutigenden Erfolg. Als der Makler im Herbst 1935 wieder nach New York zurückkehrte, war tatsächlich die erste AA-Gruppe entstanden, obwohl das um jene Zeit noch niemand so recht wahrnahm.

Eine zweite kleine Gruppe hatte sich in New York gebildet. Außerdem gab es verstreut wohnende einzelne Alkoholiker, welche die grundlegenden Ideen in Akron oder in New York erfasst hatten und nun versuchten, in anderen Städten Gruppen zu bilden. Gegen Ende 1937 war die Zahl der Mitglieder, die schon eine beträchtliche Zeit ihrer Nüchternheit erfolgreich bestanden hatten, so groß, dass die Gemeinschaft davon überzeugt war: Jetzt ist ein neues Licht in der finsteren Welt des Alkoholikers aufgegangen.

Nun war nach der Meinung der um ihre Existenz ringenden Gruppen die Zeit gekommen, dass sie ihre Botschaft und einzigartige Erfahrung der Welt zur Kenntnis brachten. Im Frühjahr des Jahres 1939 trug dieser Entschluss seine Frucht in der Veröffentlichung dieses Buches. Damals war die Mitgliederzahl auf etwa 100 Männer und Frauen gestiegen. Diese flügge gewordene Gemeinschaft, die bis dahin ohne Namen gewesen war, wurde von jetzt ab nach dem Titel ihres eigenen Buches „Anonyme Alkoholiker“ genannt. Die Zeit des Blindfliegens war zu Ende: Die Anonymen Alkoholiker traten in eine neue Phase ihrer Pionierzeit ein.

Mit dem Erscheinen des neuen Buches nahmen viele Ereignisse ihren Anfang. Der bekannte Geistliche Dr. Harry Emerson Fosdick besprach das Buch mit warmer Zustimmung. Im Herbst 1939 druckte der damalige Herausgeber der Zeitschrift „Liberty“, Fulton Oursler, in seiner Zeitschrift einen Teil daraus ab unter der Überschrift „Alkoholiker und Gott“. Das brachte eine Flut von 800 dringenden Anfragen in das kleine Büro in New York, das inzwischen eingerichtet worden war. Jede Anfrage wurde gewissenhaft beantwortet, Broschüren und Bücher wurden versandt. Mitglieder bestehender Gruppen, die als Geschäftsleute viel unterwegs waren, wurden auf diese zukünftigen Neulinge aufmerksam gemacht. Neue Gruppen entstanden. Und man entdeckte zum allgemeinen Erstaunen, dass man die Botschaft von AA ebenso durch die Post wie durch das gesprochene Wort übermitteln konnte. Ende 1939 schätzte man, dass 800 Alkoholiker auf ihrem Weg zur Genesung waren.

Im Frühjahr des Jahres 1940 gab John D. Rockefeller für viele seiner Freunde einen Empfang, zu welchem er AA-Mitglieder einlud, damit sie dort ihre Lebensgeschichte erzählten. Die Nachricht hiervon ging durch die Kabel der Welt. Wieder gingen Erkundigungen ein und viele Menschen gingen zu den Buchläden, um das Buch „Anonyme Alkoholiker“ zu kaufen. Im März 1941 war die Mitgliederzahl auf 2.000 angewachsen. Dann schrieb Jack Alexander einen Artikel in der „Saturday Evening Post“ und stellte vor das allgemeine Publikum ein so überzeugendes Bild von der AA-Gemeinschaft hin, dass uns die Hilferufe von Alkoholikern geradezu überschwemmten. Gegen Ende 1941 zählte man 8.000 Mitglieder. Nun schossen überall die AA-Gruppen wie Pilze aus dem Boden. AA war zu einer festen Einrichtung in der amerikanischen Nation geworden.

Damit trat unsere Gemeinschaft in ihre gefährliche und aufregende Periode der Entwicklungsjahre ein. Sie musste die folgende Probe bestehen: Konnten diese großen Massen von Alkoholikern, die eben noch ein völlig ungeordnetes Leben geführt hatten, erfolgreiche Gemeinschaften miteinander bilden und zusammenarbeiten? Würde es Streitigkeiten über die Mitgliedschaft, die Leitung und das Geld geben? Würde es zu Kämpfen um Macht und Vorherrschaft kommen? Würden Spaltungen eintreten, welche die AA-Gemeinschaft wieder auseinanderrissen? Bald traten gerade diese Probleme überall und in jeder Gruppe auf. Jedoch erwuchs aus dieser Erfahrung mit ihren Sorgen und Zerreißproben die Überzeugung: Entweder müssen die Anonymen Alkoholiker eng zusammenhalten oder sie werden einzeln zugrunde gehen. Entweder mussten wir unsere Gemeinschaft zu einer Einheit zusammenschließen oder von der Bühne abtreten.

So wie wir die Grundsätze entdeckt hatten, nach denen der einzelne Alkoholiker sein Leben gestalten konnte, so mussten wir auch jene Regeln entwickeln, nach welchen die AA-Gruppen und die AA-Gemeinschaft als Ganzes am Leben bleiben und wirkungskräftig funktionieren konnten. Man kam zu der Überzeugung, dass man keinen Alkoholiker, keinen Mann und keine Frau, aus unserer Gemeinschaft ausschließen durfte. Unsere Leiter müssten dienen, sie dürften aber nie regieren. Jede Gruppe müsste selbstständig sein. Es dürfte bei uns keine hauptberuflich tätigen Therapeuten geben. Außerdem dürfte es keine Mitglieds- und andere Pflichtbeiträge geben. Unsere Ausgaben müssten durch unsere eigenen freiwilligen Beiträge gedeckt werden. Überhaupt sollte man selbst in unseren Zentralbüros mit einer möglichst geringen Organisation auskommen. Unsere Beziehungen zur Öffentlichkeit sollten eher auf Anziehung als auf Werbung gegründet sein. Es wurde die Entscheidung getroffen, dass alle Mitglieder auf der Ebene von Presse, Radio, Fernsehen und Film anonym bleiben müssten. Und wir dürften unter keinen Umständen Stellungnahmen abgeben, unseren Namen für andere Bestrebungen hergeben, Bündnisse mit ihnen eingehen oder uns in öffentliche Auseinandersetzungen verwickeln lassen.

Das war der wesentliche Inhalt der „Zwölf Traditionen“ der Anonymen Alkoholiker, die im Anhang dieses Buches ausführlich behandelt werden. Obwohl keiner dieser Grundsätze die Kraft von Vorschriften oder Gesetzen besaß, waren sie doch um 1950 so weithin angenommen, dass sie von unserer Ersten Internationalen Konferenz in Cleveland bestätigt wurden. Heute ist diese bemerkenswerte Einigkeit in der AA-Gemeinschaft einer der allerwichtigsten Aktivposten, den wir haben.

Im selben Maß wie die inneren Schwierigkeiten unserer Reifejahre allmählich ausgebügelt wurden, nahm die Öffentlichkeit die Anonymen Alkoholiker mit einer stürmisch wachsenden Freundlichkeit an. Dafür gab es zwei Hauptgründe: die große Zahl der Genesungen und die wiedervereinigten Familien. Diese machten überall einen starken Eindruck. Von den Alkoholikern, die zu den AA kamen und einen ernsthaften Versuch damit machten, wurden 50 Prozent nüchtern und blieben es auch; 25 Prozent wurden erst nach verschiedenen Rückfällen nüchtern; und von den restlichen 25 Prozent erfuhren die, die weiter bei den AA blieben, eine Besserung ihrer Krankheit. Weitere Tausende nahmen an ein paar AA-Meetings teil und lehnten das Programm zunächst ab. Aber auch von diesen kamen zahlreiche, ungefähr zwei von Dreien, im Laufe der Zeit wieder zurück.

Ein weiterer Grund dafür, dass die AA-Gemeinschaft so weithin angenommen wurde, war die Hilfe unserer Freunde – der Freunde aus dem Bereich der Medizin, der Religion, der Presse, zusammen mit zahllosen anderen, die unsere sachkundigen, ständigen Fürsprecher wurden. Ohne eine solche Unterstützung hätte die Gemeinschaft sich viel langsamer entwickelt. Im Anhang dieses Buches findet man manche Empfehlungen von jenen frühen medizinischen und theologischen Freunden der Anonymen Alkoholiker.

Die AA-Gemeinschaft ist keine religiöse Organisation. Auch nehmen wir keinen speziellen medizinischen Standpunkt ein. Trotzdem arbeiten wir mit den Männern der Medizin und Religion eng zusammen.

Da der Alkoholismus jeden ohne Ansehen seiner Person befallen kann, stellen unsere Mitglieder einen genauen Querschnitt durch die Bevölkerung von Amerika dar; und derselbe Prozess geht nun auch in fernen Ländern vor sich. Nach der Religionszugehörigkeit haben wir unter uns: Katholiken, Protestanten, Juden, Hindus und – in geringer Zahl – auch Moslems und Buddhisten. Mehr als 15 Prozent unserer Mitglieder sind Frauen.

Unsere Mitgliederzahlen wachsen gegenwärtig in jedem Jahr um etwa sieben Prozent. Angesichts der Not von vielen Millionen tatsächlicher und möglicher Alkoholiker in der Welt ist unser Wirken von relativ geringem Einfluss. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden wir auch nie in der Lage sein, uns mit mehr als nur einem Bruchteil des gesamten Alkoholproblems in allen seinen Verzweigungen zu befassen. Ganz gewiss beanspruchen wir kein Monopol auf die eigentliche Therapie des Alkoholikers. Doch erfüllt uns die große Hoffnung, dass alle diejenigen, die bisher noch keine Lösung ihres Alkoholproblems gefunden haben, auf den Seiten dieses Buches vielleicht eine Antwort finden und dass sie sich uns auf dem Höhenweg zu einer neuen Freiheit anschließen mögen.

Anonyme Alkoholiker (Das Blaue Buch)

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