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01 – 04. Bändchen
II.
Die Unbekannte
ОглавлениеIn dieser Stimme lag ein solcher Ausdruck von Furcht und angeborener Höhe, daß Maurice bebte. Diese vibrierende Stimme drang auch wie ein elektrischer Schlag bis in sein Herz.
Er wandte sich gegen die Freiwilligen um, welche unter sich berathschlagten. Gedemüthigt dadurch, daß sie ein einziger Mann im Schach gehalten, beriethen sie sich in der sichtbaren Absicht, den verlorenen Boden wiederzugewinnen; sie waren acht gegen Einen; drei hatten Flinten die Anderen Pistolen und Piken. Maurice hatte nur seinen Säbel; der Kampf konnte nicht gleich sein.
Die Frau begriff das selbst; sie ließ ihren Kopf aus die Brust sinken und stieß einen Seufzer aus.
Die Stirne gefaltet, die Lippe verächtlich ausgezogen, den Säbel immer noch aus der Scheide, blieb Maurice unentschlossen zwischen seinen Gefühlen als Mensch, die ihn diese Frau vertheidigen hießen, und seinen Bürgerpflichten, welche ihm sie preiszugeben riethen.
Plötzlich sah man an der Ecke der Rue des Bons-Eufants den Blitz von mehreren Flintenläufen glänzen und man hörte den abgemessenen Marsch einer Patrouille, welche, eine Versammlung erblickend, ungefähr zehn Schritte vor der Gruppe Halt machte und durch die Stimme ihres Corporals: »Wer da?« rief.
«Freund!« rief Maurice entgegen. »Freund, hierher, Lorin.«
Derjenige, an welchen diese Aufforderung gerichtet war, setzte sich in Marsch, trat an die Spitze und näherte sich, rasch gefolgt von acht Mann.
»Ah! Du bist es, Maurice,« sagte der Corporal, ah, Libertin! was machst Du in den Straßen zu dieser Stunde?«
»Du siehst es, ich komme von der Section der Brüder und Freunde.«
»Ja, wir kennen das, um in die der Schwestern und Freundinnen zu gehen.
»Horch, Schöne, aus die Kunde,
Daß in der Geisterstunde
Von heißer Lieb entsandt
Heut' eine treue Hand
Den Riegel sachte ziehe,
Der sonst, wenn's dunkelt hinter Dir,
Verschließt die schwere Thür.
Ist es nicht so?«
»Nein, mein Freund, Du täuschest Dich; ich wollte unmittelbar noch Hause zurückkehren, als ich die Bürgerin fand, welche sich unter den Händen von Bürgern Freiwilligen sträubte; ich lief herbei und fragte, warum man sie verhaften wolle.«
»Daran erkenne ich Dich,« versetzte Lorin;
»So ist in Frankreich ächter Rittersinn.«
Dann sich gegen die Freiwilligen umwendend:
»Und warum wolltet Ihr diese Frau verhaften?« fragt der poetische Corporal.
»Wir haben es dem Lieutenant schon gesagt,« antwortete der Anführer der kleinen Truppe, »weil sie kein Sicherheits-Karte hatte.«
»Bah! bah!« rief Lorin, »das ist ein schönes Verbrechen.«
»D« kennst also die Bestimmung der Gemeinde nicht? fragte der Anführer der Freiwilligen.
»Doch! doch! aber es gibt auch eine andere Bestimmung, welche diese aufhebt.«
»Welche?«
»Hört:
»Aus dem Pindus und Parnaß
Sollen ohne allen Paß
In dem Schmuck der Jugend
Schönheit, Anmuth, Tugend
Frei zu jeder Tagesstunde
Fröhlich halten ihre Runde,
So gebeut es Amor.
»Ha! was sagst Du zu diesem Decret, Bürger? es ist galant, wie mir scheint.«
»Ja, doch es scheint mir nicht peremptorisch. Einmal kommt es nicht im Moniteur vor, dann sind wir weder aus dem Pindus, noch aus dem Parnaß, und endlich ist es nicht Tag; auch ist die Bürgerin vielleicht weder jung, noch schön, noch anmuthig.«
»Ich wette das Gegentheil,« rief Lorin. »Laß sehen, Bürgerin, beweise mir, daß ich Recht habe, schlage Deine Hemde zurück, damit alle Welt beurtheilen kann, ob Du den Bedingungen des Decrets entsprichst.«
»Ah! mein Herr,« sagte die junge Frau, indem sie sich an Maurice preßte, »nachdem sie mich gegen Ihre Feinde beschützt haben, beschützen Sie mich auch gegen Ihre Freunde. … ich flehe Sie an.«
»Seht Ihr, seht Ihr,« rief der Anführer der Freiwilligen, »sie verbirgt sich. Meiner Meinung nach ist es eine Spionin der Aristokraten, eine Schelmin, eine Straßenläuferin.«
»Oh! mein Herr,« sprach die junge Frau, indeß sie Maurice einen Schritt vorwärts gehen ließ und ein durch Schönheit, Jugend und Erhabenheit bezauberndes Gesicht entblößte, das durch die Helle des Scheinwerfers beleuchtet wurde, »oh! schauen Sie mich an: sehe ich aus, als wäre ich das, was sie sagen?«
Maurice war geblendet. Nie war ihm etwas dem, was er jetzt erblickt hatte, Aehnliches im Traum erschienen. Wir sagen, was er erblickt hatte, denn die Unbekannte verschleierte abermals ihr Gesicht, und zwar so schnell, als sie es entblößt hatte.
»Lorin,« sagte leise Maurice, »fordere die Gefangene, im sie nach Deinem Posten zu bringen, Du hast als Anführer der Patrouille das Recht dazu.«
»Gut!« erwiderte der junge Corporal, ich verstehe auch ein halbes Wort.«
Dann wandte er sich gegen die Unbekannte um und sprach:
»Vorwärts, meine Schöne, da Du uns nicht den Beweis geben willst, daß Du den Bedingungen des Decrets entsprichst, mußt Du uns folgen,«
»Warum Euch folgen?« versetzte der Anführer der Freiwilligen.
»Allerdings, wir führen die Bürgerin aus den Posten des Stadthauses, wo wir die Wache haben, und dort werden wir die Sache näher untersuchen.«
»Keines Wegs, keines Wegs,« entgegnete der Anführer der ersten Truppe. »Sie gehört uns und wir werden sie bewachen.«
»Ah! Bürger, Bürger,« rief Lorin, »wir werden uns ärgern.«
»Aergert Euch oder ärgert Euch nicht, das ist uns, beim Teufel! Gleichgültig. Wir sind wahre Soldaten der Republik, und während Ihr in den Straßen patrouillirt, gehen wir hin und vergießen unser Blut an der Grenze.«
»Nehmt Euch in Acht, daß Ihr es nicht aus dem Wege vergießt, Bürger, und das könnte Euch wohl begegnen, wenn Ihr nicht artiger seid,«
»Die Artigkeit ist eine Aristokraten-Tugend, und wir sind Sans-culottes,« erwiderten die Freiwilligen,
»Schweigt doch,« versetzte Lorin, »sprecht nicht von dergleichen Dingen vor dieser Frau. Sie ist vielleicht eine Engländerin. Aergere Dich nicht über eine solche Vermuthung, mein schöner Nachtvogel,« fügte er bei, indem er sich galant an die Unbekannte wandte:
»Höret, was ein Dichter sprach,
Leise hallen wir es nach:
Was ist der Britten weites Reich?,
Ein Schwanennest in ungemeßnem Teich.«
»Ah! Du verräthst Dich,« rief der Anführer der Freiwilligen; »ah! Du gestehst zu, daß Du eine Creatur von Pitt, ein Besoldeter von England, ein . . .«
»Stille,« sagte Lorin, »Du verstehst nichts von der Poesie, mein Freund; ich will auch in Prosa mit Dir sprechen. Höre, wir sind sanfte, geduldige Nationalgarden, aber insgesamt Kinder von Paris, was so viel sagen will, daß wir, wenn man uns die Ohren erhitzt, gehörig zuschlagen.«
»Madame,« sprach Maurice, »Sie sehen, was vorgeht, und errathen, was vorgehen wird: in fünf Minuten werden sich zehn bis zwölf Menschen für Sie erwürgen, Verdient die Sache, der sich diejenigen, welche Sie vertheidigen wollen, angenommen haben, das Blut, das deßhalb, fließen soll?«
»Mein Herr,« antwortete die Unbekannte die Hände faltend, »ich kann Ihnen nur Eines sagen: wenn Sie mich verhaften lassen, wird daraus für mich und Andere so großes Unglück entstehen, daß ich Sie bitte, mir lieber das Herz mit der Waffe, die Sie in der Hand halten, zu durchbohren und meinen Leichnam in die Seine zu werfen.«
»Es ist gut, Madame,« versetzte Maurice; «ich nehme Alles auf mich.«
Und er ließ die Hände der schönen Unbekannten, die er in den seinigen hielt, fallen und sprach zu den Nationalgarden:
»Bürger, als Euer Officier, als Patriot, als Franzose befehle ich Euch, diese Frau zu beschützen, und Du, Lorin, wenn diese ganze Canaille ein Wort sagt, zum Bajonnet gegriffen!«
»Ergreift die Waffen!« sprach Lorin!
»Oh! mein Gott! mein Gott!« rief die Unbekannte, indem sie ihren Kopf in ihren Capuchon hüllte und sich an einen Weichstein anlehnte. »Oh! mein Gott! beschütze ihn.«
Die Freiwilligen versuchten es, sich in Vertheidigungsstand zu setzen. Einer von ihnen drückte sogar eine Pistole ab, deren Kugel den Hut von Maurice durchbohrte.
»Kreuzt die Bajonnete,« rief Lorin. »Ram, plan, plan, plan, plan, plan, plan.«
Es trat dann in der Finsterniß ein Augenblick des Kampfes und der Verwirrung ein, wobei man ein paar Flintenschüsse, Verwünschungen, Geschrei, Blasphemien hörte, doch Niemand kam, denn es ging, wie gesagt, ein dumpfes Gerücht von einer bevorstehenden Metzelei, und man glaubte, diese Metzelei beginne. Es öffneten sich nur zwei oder drei Fenster, um sich sogleich wieder zu schließen.
Minder zahlreich und minder gut bewaffnet, wurden die Freiwilligen in einem Augenblick kampfunfähig macht. Zwei von ihnen waren schwer verwundet, vier Andere, jeder mit einem Bajonnet auf der Brust, gleichsam an die Wand geklebt.
»So ist es gut,« sprach Lorin, »ich hoffe, Ihr werdet nun sanft sein, wie die Lämmer Dich, Bürger Maurice, Dich beauftrage ich, diese Frau auf den Posten des Stadthauses zu führen. Du begreifst, daß Du für sie verantwortlich bist.«
»Ja,« erwiderte Maurice, und fügte dann leise bei:
»Und das Losungswort?«
»Oh! Teufel,« versetzte Lorin, sich hinter dem Ohre kratzend, »das Losungswort. . . es ist . . .«
»Befürchtest Du etwa, ich könnte einen schlechten Gebrauch davon machen?«
»Oh! meiner Treue, mache einen Gebrauch davon, welchen Du willst, das ist Deine Sache.«
»Du sagst also?«
»Ich sage, daß ich es Dir sogleich nennen will; doch zuerst laß mich diese Bursche wegschaffen. Dann wäre es mir nicht unangenehm, Dir, ehe ich von Dir gehe, mit ein paar Worten einen guten Rath zu geben.«
»Es sei, ich werde Dich erwarten.«
Lorin kehrte zu den Freiwilligen zurück, welche die Nationalgarden immer noch im Respect erhielten,
»Nun,« sagte er, »habt Ihr genug?«
»Ja, Hund von einem Girondisten,« erwiderte der Anführer.
»Du täuschest Dich, mein Freund,« sprach Lorin voll Ruhe, »wir sind bessere Sans-culottes als Du, in Betracht, daß wir zu dem Club der Thermopylen gehören, dessen Vaterlandsliebe man hoffentlich nicht in Zweifel ziehen wird. Laßt die Bürger gehen,« fuhr Lorin fort, »sie ziehen nichts in Zweifel.«
»Es ist darum nicht minder wahr, daß diese Frau eine Verdächtige ist. . .«
»Wenn sie eine Verdächtige wäre, so würde sie sich während der Schlacht geflüchtet haben, statt zu warten, wie Du siehst, bis die Schlacht beendigt war.«
»He,« rief einer von den Freiwilligen, »was der Bürger da sagt, ist ziemlich richtig.«
»Uebrigens werden wir es erfahren, da sie mein Freund auf den Posten führt, während wir aus die Gesundheit der Nation trinken gehen.«
»Wir gehen trinken?« fragte der Anführer.
»Gewiß, ich habe gewaltig Durst, und ich kenne eine hübsche Schenke an der Ecke der Rue Thomas du Louvre!«
»Ei! warum sagst Du das nicht sogleich? Es ärgert ms, daß wir an Deinem Patriotismus gezweifelt haben; und zum Beweis, umarmen wir uns im Namen der Nation und des Gesetzes.«
Und die Freiwilligen und die Nationalgarden umarmten sich voll Begeisterung. In jener Zeit übte man ebenso gern die Umhalsung, als die Enthalsung.
»Vorwärts, Freunde,« riefen nun die zwei vereinigten Truppen, »an die Ecke der Rue Thomas du Louvre.«
»Und wir!« sagten die Verwundeten mit kläglicher Stimme, »wird man uns hier zurücklassen?«
»Oh! ja wohl, zurücklassen!« sagte Lorin; »Brave zurücklassen, welche für das Vaterland kämpfend gefallen sind, es ist wahr, gegen Patrioten kämpfend, doch aus Irrthum, das ist abermals wahr; man wird Euch Tragbahren schicken. Mittlerweile singt die Marseillaise, das wird Euch zerstreuen.
»Allez enfants de la patrie,
Le jour de gloire est arrive«
Dann näherte er sich Maurice, der mit seiner Unbekannten an der Ecke der Rue du Coq stehen blieb, während die Nationalgarden und die Freiwilligen Arm in Arm nach der Place du Palais-Egalité hinausgingen, und sagte:
»Maurice, ich habe Dir einen Rath versprochen, höre ihn, Komm lieber mit uns, als daß Du Dich gefährdest, indem Du die Bürgerin beschützest, die mir allerdings reizend vorkommt, aber darum nur um so verdächtiger ist, denn die reizenden Frauen, welche um Mitternacht in den Straßen umherlaufen. . .«
»Mein Herr,« versetzte die Unbekannte, »ich bitte Sie beurtheilen Sie mich nicht nach dem Anschein.«
»Vor Allem sagen Sie: mein Herr, was ein großer Fehler ist, hörst Du, Bürgerin? Oh! nun sage ich selbst Sie.«
»Ja, ja, Bürger, laß Deinen Freund seine gute Handlung vollenden.«
»Wie dies?«
»Dadurch, daß er mich bis in meine Wohnung zurückführt und mich den ganzen Weg entlang beschützt.«
»Maurice, Maurice,« versetzte Lorin, »Du gefährdest Dich furchtbar.«
»Ich weiß es wohl,« antwortete der junge Mann; »doch was willst Du? wenn ich die arme Frau verlasse, wird sie aus jedem Schritt von Patrouillen festgenommen werden.«
»Oh! ja, ja, während ich mit Ihnen, mein Herr, während ich mit Dir, Bürger, will ich sagen, gerettet bin.«
»Du hörst es, gerettet!« sprach Lorin. »Sie läuft also große Gefahr?«
»Höre, mein lieber Lorin,« entgegnet Maurice, »wir wollen gerecht sein. Es ist eine gute Patriotin oder eine Aristokratin. Ist es eine Aristokratin, so hatten wir Unrecht, sie zu beschützen; ist es eine gute Patriotin, so entspricht es unserer Pflicht, sie zu behüten.«
»Verzeih, verzeih, lieber Freund, es thut mir leid für Aristoteles; doch Deine Logik ist albern. Du bist wie derjenige, welcher sagte:
»Iris stahl mir die Vernunft,
Fordert Weisheit dann von mir.«
»Höre Lorin,« sprach Maurice, »ich bitte Dich, laß Dorat, Parny, Gentil-Bernard ruhen. Sprechen wir im Ernste: willst Du mir das Losungswort geben oder nicht geben?«
»Das heißt, Maurice, Du versetzt mich in die Nothwendigkeit, meine Pflicht meinem Freunde, oder meinem Freund meiner Pflicht zu opfern. Ich befürchte aber sehr, Maurice, die Pflicht wird geopfert werden.«
»Entschließe Dich zu dem Einen oder zu dem Andern, mein Freund. Doch im Namen des Himmels, entschließe Dich aus der Stelle.«
»Du wirft keinen Mißbrauch davon machen?«
»Ich verspreche es Dir.«
»Das ist nicht genug; schwöre!«
»Aus was?«
»Schwöre auf den Altar des Vaterlands.«
Lorin nahm seinen Hut ab, streckte ihn gegen Maurice auf der Seite der Cocarde aus, und Maurice, der die Sache ganz einfach fand, leistete, ohne zu lachen, den verlangten Eid auf den improvisirten Altar.
»Uno nun,« sagte Lorin, »und nun höre das Losungswort: Gallien und Lucretia. Vielleicht begegnen Dir einige, die Dir sagen wie mir: Gallien und Lucretia; bah! laß es gut sein, das ist immer noch römisch.«
»Bürgerin,« sprach Maurice, »nun bin ich zu Ihren Diensten. Ich danke, Lorin.«
»Glückliche Reise,« versetzte dieser, während er sich Wieder mit dem Altar des Vaterlandes bedeckte; und getreu seinem anakreontischen Geschmack entfernte er sich, während er murmelte:
»Lenore, Du hast sie gelaunt,
Die Sünde im Rosengewand;
Du hast sie gefürchtet und dennoch begangen,
Du hast sie ersehnt mit heimlichem Bangen,
Sag an, ob sie schrecklich?. . .«