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Sechstes bis zehntes Bändchen
Sechstes Kapitel.
Das Haue Morrel
ОглавлениеWer, mit dem Innern des Hausen Morrel vertraut, Marseille ein paar Jahre zuvor verlassen hätte und zu der Zeit, zu der wir nunmehr gelangt sind, zurückgekehrt wäre, würde eine große Veränderung darin gefunden haben. Statt des lebendigen, behaglichen, glücklichen Anblicks den ein auf dem Pfade der Wohlfahrt begriffenes Haus gleichsam ausströmt, statt der freudigen, hinter den Fenstervorhängen erscheinenden Gesichter; statt der geschäftigen, mit der Feder hinter dem Ohr in den Gängen umherlaufenden Commis; statt des mit Ballen gefüllten, von dem Geschrei und Gelächter der Factoren wiederhallenden Hofes, hätte er etwas Trauriges, Totes in diesen öden Gängen und diesem leeren Hofe wahrgenommen. Von den zahlreichen Handlungsdienern, welche einst die Bureau bevölkerten, waren nur zwei geblieben; der eine war ein junger Mann von drei bis vierundzwanzig Jahren, Namens Emmanuel Raymond, welcher, verliebt in die Tochter von Herrn Morrel, in dem Hause verharrte, was auch seine Eltern tun mochten, um ihn daraus zu entfernen; der andere war ein alter, einäugiger Kassengehilfe, genannt Cocles, ein Spottnamen, den ihm die jungen Leute gegeben halten, welche einst den so gewaltig summenden, nun aber beinahe unbewohnten Bienenstock belebten; dieser Spottname hatte allmälig seinen wahren Namen so vollkommen ersetzt, daß er sich ohne Zweifel nicht einmal umgewendet haben würde, hätte man ihn bei dem letzteren gerufen.
Cocles war im Dienste von Herrn Morrel geblieben, und er hatte sich eine sonderbare Veränderung in der Lage des braven Mannes bewerkstelligt; er war zugleich zum Grade einen Kassiers avancirt und zum Range eines Bedienten herabgesunken. Darum war es nicht minder derselbe Cocles, gut, geduldig, ergeben, aber unbeugsam im Punkte der Arithmetik, dem einzigen Punkte, worin er der ganzen Welt, selbst Herrn Morrel, die Spitze geboten hättet seine pythagoräische Tabelle konnte er an den Fingern hersagen, wie man sie auch drehen und auf welche Weise man ihn in einen Irrtum zu versetzen suchen mochte.
Mitten unter der allgemeinen Traurigkeit, welche sich des Hauses Morrel bemächtigt hatte, war Cocles allein unempfindlich geblieben. Man täusche sich übrigens nicht, diese Unempfindlichkeit rührte nicht von einem Mangel an Zuneigung, sondern im Gegenteil von einer unerschütterlichen Überzeugung her. Wie die Ratten der Sage nach allmälig ein Schiff verlassen, das zum Voraus vom Schicksal im Meere unterzugehen bestimmt ist, so daß diese selbstsüchtigen Gäste in dem Augenblick, wo es die Anker lichtet, völlig ausgewandert sind, ebenso hatte die Menge von Commis und Angestellten aller Art, welche ihren Unterhalt von dem Hause Morrel bezogen, allmälig Bureau und Magazine im Stich gelassen; Cocles sah sie insgesamt weggehen, ohne sich über die Ursache ihren Abgangs Rechenschaft zu geben. Alles lief bei Cocles auf eine Ziffernfrage hinaus, und seit den zwanzig Jahren, die er in dem Hause Morrel war, hatte er die Zahlungen bei offenem Bureau mit solcher Regelmäßigkeit stattfinden sehen, daß er eben so wenig zugab, diese Regelmäßigkeit könnte aufhören und die Zahlungen dürften eingestellt werden, als ein Müller, der eine von dem Wasser eines reichen Flusses gespeiste Mühle besitzt, zugibt, dieser Fluß könnte zu laufen aufhören. Bin jetzt hatte sich wirklich nichts gegen die Überzeugung von Cocles erhoben. Der letzte Monatsschluß war mit der strengsten Pünktlichkeit durchgeführt worden. Cocles hatte einen Irrtum von siebzig Centimes, welcher zum Nachteil von Herrn Morrel begangen worden war, entdeckt und an demselben Tag den Mehrbetrag von vierzehn Sous seinem Principal überbracht, welcher diese mit einem schwermütigen Lächeln nahm, in eine beinahe leere Schublade fallen ließ, und zu dem Arithmeticer sagte:
»Gut, Cocles, Sie sind die Perle der Kassiere.« Cocles entfernte sieh äußerst zufrieden, denn ein Lob von Herrn Morrel, dieser Perle der ehrlichen Leute von Marseille, schmeichelte Cocles mehr als ein Geschenk von fünfzig Thalern. Aber seit diesem so glücklich durch geführten Monatsschluß hatte Herr Morrel grausame Stunden durchgemacht; um gegen diesen Monatsschluß Stand zu halten, hatte er alle seine Mittel zusammengerafft und war selbst, aus Furcht, das Gerücht von seiner Not könnte sich in Marseille verbreiten, wenn man ihn so zum Äußersten greifen sehen würde, auf die Messe von Beaucaire gereist, um einige Juwelen, welche seiner Frau und seiner Tochter gehörten, und einen Teil von seinem Silberzeug zu verkaufen. Mittelst dieses Opfers war diesmal noch Alles zur größten Ehre des Hauses Morrel vorübergegangen. Die Kasse aber blieb völlig leer. Erschreckt durch umlaufende Gerüchte zog sich der Credit mit seiner gewöhnlichen Selbstsucht zurück, und um gegen die hunderttausend Franken, welche am 15ten laufenden Monats zurückzubezahlen waren, und gegen die hunderttausend, welche am 15ten des folgenden verfielen, Stand zu halten, hatte Herr Morrel in Wirklichkeit nichts mehr, als die Hoffnung auf die Rückkehr des Pharaon, von dessen Abgang ein Schiff, das mit ihm die Anker gelichtet, Kunde gegeben hatte. Dieses Schiff, welches wie der Pharaon von Calcutta kam, war aber bereits seit vierzehn Tagen im Hafen eingelaufen, während man vom Pharaon keine Nachricht hatte.
So standen die Dinge, als der Abgesandte des Hauses Thomson und French in Rom am andern Tage, nachdem er die von uns mitgeteilte wichtige Angelegenheit mit Herrn von Boville abgemacht hatte, sich bei Herrn Morrel einfand. Emmanuel empfing ihn. Der junge Mann, den jeder neue Besuch erschreckte, denn jedes neue Gesicht kündigte einen neuen Gläubiger an, welcher in seiner Ungeduld herbeikam, um den Chef des Hauses auszuforschen, der junge Mann, sagen wir, wollte seinem Herrn das Ärgerliche dieses Besuches ersparen; er befragte den Eintretenden, dieser aber erklärte ihm, er hätte nichts mit Herrn Emmanuel zu tun, sondern müßte mit Herrn Morrel persönlich sprechen.
Emmanuel rief seufzend Cocles und befahl ihm, den Fremden zu Herrn Morrel zu führen. Cocles ging voraus und der Fremde folgte. Auf der Treppe begegnete man einem hübschen jungen Mädchen, das den Fremden voll Unruhe anschaute. Cocles bemerkte diesen Gesichtsausdruck nicht, der jedoch dem Fremden keines Wegs entgangen zu sein schien.
»Herr Morrel ist in seinem Cabinet, nicht wahr, Fräulein Julie?« fragte der Kassier.
»Ja, ich glaube wenigstens,« antwortete das Mädchen zögernd; »sehen Sie zuerst nach, Cocles, und wenn mein Vater dort ist, melden Sie den Herrn.«
»Es wäre unnütz, mich zu melden,« erwiderte der Engländer, »Herr Morrel kennt meinen Namen nicht. Dieser brave Mann mag ihm nur sagen, ich sei der erste Commis der Herren Thomson und French in Rom, mit denen das Haus Ihres Herrn Vaters in Verbindung steht.«
Das Mädchen erbleichte und ging vollends die Treppe hinab, und der Fremdling ging vollends hinauf. Julie, wie sie der Kassier genannt hatte, trat in das Bureau, wo sich Emmanuel aufhielt, und Cocles öffnete mit Hilfe eines Schlüssels, dessen Besitzer er war, eine Thüre in der Ecke des Ruheplatzes, im zweiten Stocke, führte den Fremden in ein Vorzimmer, öffnete eine zweite Thüre, die er wieder hinter sich schloß, und erschien sodann, nachdem er den Abgesandten des Hauses Thomson und French einen Augenblick allein gelassen hatte. abermals und bedeutete ihm durch ein Zeichen, er könnte eintreten. Der Fremde fand Herrn Morrel an seinem Schreibtische sitzend und erbleichend vor den furchtbaren Colonnen, in denen sein Passivum eingetragen war. Als Herr Morrel den Fremden erblickte, stand er auf und schob einen Stuhl vor; sobald er sah, daß der Fremde sich gesetzt hatte, setzte er sich ebenfalls wieder.
Vierzehn Jahre hatten eine gewaltige Veränderung bei dem würdigen Handelsherrn hervorgebracht, welcher, am Anfang dieser Geschichte sechsunddreißig Jahre alt. nun das fünfzigste erreichen auf dem Punkte stand. Seine Haare hatten sich gebleicht, seine Stirne war unter sorgenvollen Runzeln ausgehöhlt; sein einst so fester, bestimmter Blick war unbestimmt, unentschlossen geworden, und schien bange zu haben, er könnte genötigt werden, auf einem Gedanken oder auf einem Menschen zu haften. Der Engländer schaute ihn mit einem Gefühle der Neugierde an, das offenbar mit Teilnahme gemischt war.
»Mein Herr,« sagte Morrel, dessen Unbehaglichkeit dieses Anschauen zu verdoppeln schien, »Sie wünschten mich zu sprechen?«
»Ja, mein Herr; Sie wissen, in wessen Namen ich komme?«
»Im Namen des Hauses Thomson und French, wenigstens wie mir mein Kassier gesagt hat.«
»Er sagte Ihnen die Wahrheit. Das Haus Thomson und French soll im Laufe dieses Monats und des nächsten in Frankreich drei bis viermal hunderttausend Franken bezahlen, und hat, vertraut mit Ihrer strengen Pünktlichkeit. alle Pariere aufgekauft, welche es mit Ihrer Unterschrift finden konnte, wobei mir der Auftrag geworden ist, nach Maßgabe des Verfalls die Gelder bei Ihnen zu erheben und sodann zu verwenden.«
Morrel stieß einen tiefen Seufzer aus, fuhr mit der Hand über seine schweißbedeckte Stirne und erwiderte:
»Sie haben also von mir unterzeichnete Tratten?«
»Ja, mein Herr, für eine beträchtliche Summe.«
»Für welche Summe?« fragte Herr Morrel mit einer Stimme, welcher er Sicherheit zu verleihen strebte.
»Einmal,« sagte der Engländer, ein Päckchen aus der Tasche ziehend, »einmal habe ich hier eine Abtretung von zweimal hunderttausend Franken, ausgestellt an unser Haus von Herrn von Boville, Inspektor der Gefängnisse. Erkennen Sie an, daß Sie Herrn von Boville diese Summe schuldig sind?«
»Ja, mein Herr, er hat sie zu vier und einem halben Procent vor bald fünf Jahren bei mir angelegt.«
»Und Sie haben den Betrag zurückzubezahlen?«
»Hälftig am fünfzehnten dieses, hälftig am fünfzehnten des nächsten Monats.«
»So ist es; dann habe ich hier zweiunddreißig tausend fünfhundert Ende dieses; es sind von Ihnen unterzeichnete und von Dritten an unser Haus übertragene Tratten.«
»Ich erkenne sie an,« sagte Herr Morrel, dem beidem Gedanken, daß er zum ersten Male in seinem Leben vielleicht seiner Unterschrift nicht entsprechen könnte, die Schamröte in das Gesicht stieg. »Ist das Alles?«
»Ich habe noch auf Ende nächsten Monats diese Pariere, welche das Haus Pascale und das Haus Wild und Turner in Marseille an uns verkauften, etwa fünfundfünfzig tausend Franken, im Ganzen zweimal hundert siebenundachtzig tausend fünfhundert Franken.«
Es läßt sich nicht beschreiben, was der unglückliche Morrel während dieser Aufzählung litt.
»Zweimal hundert siebenundachtzig tausend fünfhundert Franken,« wiederholte er maschinenmäßig.
»Ja, mein Herr,« sprach der Engländer. »Ich kann Ihnen nun nicht verbergen,« fuhr er nach kurzem Stillschweigen fort, »daß, während man Ihre bis jetzt vorwurfsfreie Redlichkeit zu schützen weiß, in Marseille das Gerücht geht, Sie seien nicht im Stande, Ihre Angelegenheiten durchzuführen.«
Bei dieser beinahe rohen Eröffnung erbleichte Herr Morrel furchtbar.
»Mein Herr,« sagte er, »bis jetzt, und es sind mehr als zwanzig Jahre, seitdem ich das Haus aus den Händen meines Vaters übernommen habe, der es selbst fünfunddreißig Jahr führte, bin jetzt ist kein von Morrel und Sohn unterzeichnetes Papier an der Kasse präsentiert worden, ohne daß wir Zahlung dafür geleistet hatten.«
»Ja, ich weiß dies; doch sprechen Sie offenherzig, wie ein Ehrenmann zum andern: werden Sie diese Papiere mit derselben Pünktlichkeit bezahlen?«
Morrel bebte und schaute denjenigen an, welcher mit größerer Sicherheit zu ihm sprach, als er es bis dahin getan hatte.
»Auf so offenherzig gestellte Fragen,« antwortete er, »muß ich eine offenherzige Antwort geben. Ja, mein Herr, ich bezahle, wenn mein Schiff, wie ich hoffe, glücklich im Hafen einläuft, denn seine Ankunft wird mir den Credit wiedergeben, den mir schnell auseinander folgende Unglücksfälle, deren Opfer ich gewesen bin, geraubt haben: bliebe aber der Pharaon, die letzte Quelle, auf die ich zähle, aus . . . «
Die Tränen traten dem armen Reeder in die Augen.
»Nun?« fragte der Engländer, »bliebe diese letzte Quelle aus?«
»Es ist grausam zu sagen . . . doch, bereits an das Unglück gewöhnt, muß ich mich auch an die Schmach gewöhnen . . . nun! ich glaube, daß ich genötigt wäre, meine Zahlungen einzustellen.«
»Haben Sie keine Freunde, welche Sie unter diesen Umständen unterstützen könnten?« fragte der Engländer.
Herr Morrel lächelte traurig und erwiderte:
»In den Geschäften hat man keine Freunde, wie Sie wissen, sondern nur Correspondenten.«
»Das ist wahr, murmelte der Engländer.
»Sie nähren also keine Hoffnung mehr.«
»Eine einzige.«
»Die letzte?«
»Die letzte.«
»Und wenn diese Hoffnung sich nicht verwirklicht?«
»Bin ich zu Grunde gerichtet, mein Herr, völlig zu Grunde gerichtet.«
»Als ich zu Ihnen kam, lief ein Schiff im Hasen ein.«
»Ich weiß es. Ein junger Mann, der mir im Unglück treu geblieben ist, bringt einen Teil seiner Zeit auf einem Belvedere oben auf dem Hause zu, in der Hoffnung, mir zuerst eine gute Nachricht mitteilen zu können. Von ihm habe ich die Ankunft dieses Schiffes erfahren.«
»Ist es nicht das Ihrige?«
»Nein, es ist ein bordolesiscben Schiff, die Gironde; es kommt ebenfalls von Indien, ist aber nicht dasjenige, welches ich erwarte.«
»Vielleicht hat es Kenntnis vom Pharaon und bringt Ihnen Kunde.«
»Sol! ich es Ihnen sagen, mein Herr, ich fürchte beinahe eben so sehr. Nachricht von meinem Dreimaster zu erhalten, als in Ungewissheit zu bleiben. Die Ungewissheit ist noch Hoffnung.«
Dann fügte Herr Morrel mit dumpfem Tone bei:
»Diesen Zögern ist nicht natürlich, der Pharaon ist am 5. Februar von Calcutta abgegangen und sollte seit mehr als einem Monat hier sein.«
»Was ist das?« fragte der Engländer horchend; »in an soll diesen Geräusch bedeuten?«
»Ah, mein Gott! mein Gott!« rief Morrel erbleichend, »was gibt es wieder?«
Es entstand wirklich ein gewaltigen Geräusch auf der Treppe, man ging ab und zu, man hörte sogar einen Schrei des Schmerzes Morrel stand auf, um die Thüre zu öffnen, doch es gebrach ihm an Kraft, und er fiel in seinen Stuhl zurück.
Die zwei Männer blieben einander gegenüber Morrel an allen Gliedern zitternd, der Engländer ihn mit einem Ausdrucke tiefen Mitleids anschauend. Der Lärmen hörte auf, aber es schien dennoch, als ob Morrel etwas erwartete: dieser Lärmen hatte eine Ursache und mußte eine Folge haben. Es kam dem Fremden vor, als stiege man sachte die Treppe herauf, und als ob die Tritte, welche von mehren Personen herrührten, auf dem Ruheplatz anhielten. Ein Schlüssel wurde in das Schloß der ersten Thüre gesteckt, und man hörte diese auf ihren Angeln knarren
»Nur zwei Personen haben den Schlüssel zu dieser Thüre,« murmelte Morrel: »Cocles und Julie.«
Zu gleicher Zeit öffnete sich die Thüre, und man sah das Mädchen bleich und die Wangen in Tränen gebadet erscheinen. Morrel stand zitternd auf und stützte sich auf den Arm seines Lehnstuhles, denn er hätte sich nicht aufrecht zu halten vermocht. Seine Stimme wollte fragen, aber er hatte keinen Ton mehr.
»Oh, mein Vater!« sagte das Mädchen. die Hände faltend, »verzeihen Sie Ihrem Kinde, das es Ihnen eine schlimme Botschaft bringt.«
Morrel wurde furchtbar bleich; Julie warf sich in seine Arme.
»Oh, mein Vater! mein Vater!« rief sie, »Mut gefaßt!«
»Der Pharaon ist also zu Grunde gegangen?« fragte Morrel mit zusammengeschnürter Stimme.
Das Mädchen antwortete nicht, sondern machte nur ein bejahenden Zeichen mit seinem an die Brust des Vaters angelehnten Kopfe.
»Und die Mannschaft?« fragte Morrel.
»Gerettet,« antwortete das Mädchen, »gerettet durch das bordolesische Schiff, das so eben in den Hafen eingelaufen ist.«
Morrel hob seine beiden Hände mit einem Ausdruck voll Resignation und erhabener Dankbarkeit zum Himmel empor und sprach:
»Ich danke, mein Gott, ich danke; wenigstens schlägst Du nur mich allein.«
So phlegmatisch der Engländer war, so befruchtete doch eine Träne sein Augenlied.
»Tretet ein,« sagte Herr Morrel, »denn ich vermuthe, Ihr seid Alle vor der Thüre.«
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als wirklich Madame Morrel schluchzend eintrat; Emmanuel folgte ihr; im Vorzimmer sah man die rauhen Gesichter von sieben bin acht halb nackten Matrosen. Beim Anblick dieser Menschen bebte der Engländer, er machte einen Schritt, als wollte er auf sie zugehen, aber er bemeisterte sich und drückte sich im Gegenteil in den entferntesten, dunkelsten Winkel den Cabinets. Madame Morrel setzte sich in den Lehnstuhl und nahm eine von den Händen ihren Gatten in die ihrigen, während Julie an die Brust ihres Vaters gelehnt, stehen blieb. Emmanuel stand mitten im Zimmer und schien als Band zwischen der Gruppe der Familie Morrel und den Matrosen an der Thüre zu dienen.
»Wie hat sich das zugetragen? fragte Herr Morrel.
»Tretet näher Penelon,« sagte der junge Mann, »und erzählt das Ereignis.«
Ein alter, von der Sonne den Äquators bronzirter Matrose trat, zwischen seinen Händen den Überrest einen Hutes hin- und herdrehend, vor und sagte
»Guten Morgen, Herr Morrel,« als ob er Marseille am Tage vorher verlassen hätte und von Aix oder Toulon käme.
»Guten Morgen, mein Freund,« erwiderte Herr Morrel, der sich einen Lächelns unter seinen Tränen nicht enthalten konnte: »aber wo ist der Kapitän?«
»Was den Kapitän betrifft, Herr Morrel, er ist krank in Palma geblieben; doch wenn es Gott gefällt, wird es nichts sein, nur Sie sehen ihn in einigen Tagen so wohl und gesunde, als wir Beide sind, ankommen.«
»Gut . . . nun sprecht, Penelon.«
Penelon ließ seinen Kautabak aus der linken Backe in die rechte übergehen, hielt die Hand vor seinen Mund, schleuderte in das Vorzimmer einen Guß schwärzlichen Speichels, rückte den Fuß vor und sprach, sich auf seinen Hüften wiegend:
»Herr Morrel, wir waren so etwas zwischen dem Cap Blanc und dem Cap Boyador, und liefen mit einem guten Süd-Süd-West, nachdem wir nun acht Tage lang mit der Windstille abgemühet hatten, als sich der Kapitän Goumard mir näherte (ich muß Ihnen bemerken, daß ich am Steuerruder war), und zu mir sagte: »»Vater Penelon,«« sagte er, »»was denkst Du von den Wolken, die sich dort am Horizont erheben?«« Ich betrachtete sie mir gerade in diesem Augenblick. »»Was ich davon denke, Kapitän? ich denke, sie steigen ein wenig schneller, als es sich gebührt, und sind schwärzer, als es Wolken zusteht, welche keine schlimme Absicht haben.«« – »»Das ist auch meine Meinung,««sagte der Kapitän, »»ich will immerhin Vorsichtsmaßregeln treffen.Wir haben zu viele Siegel für den Wind, der sogleich kommen wird . . . Holla! He! bindet die Bramsegel ein und holt den fliegenden Klüver an.«« Es war die höchste Zeit. der Befehl war nicht sobald ausgeführt, als wir den Wind auf den Fersen hatten und das Schiff sich auf die Seite legte. »»Gut!«« sagte der Kapitän, »»wir haben noch zu viel Tuch außen: geit das große Segel auf!«« Fünf Minuten nachher war das große Segel gegeit und wir liefen mit der Focke, dem Marnsegel und den Toppsegeln. »»Nun, Vater Penelon,« sagte der Kapitän zu mir, »»was hast Du denn mit dem Kopfe zu schütteln.«« – Was ich habe? an Ihrer Stelle würde ich nicht auf so schönem Wege bleiben.«« »»Ich glaube, Du hast Recht, Alter, wir werden einen Windstoß bekommen.«« – »»Ah, den Teufel, Kapitän!«« antwortete ich, »»weh uns, was sich da unten braut, für einen Windstoß abkaufte, würde etwas dabei gewinnen; es ist ein guter schöner Sturm, oder ich verstehe mich nicht darauf.«« Das heißt, man sah den Wind kommen, wie man den Staub in Mondredon ankommen sieht; zum Glücke hatte er es mit einem Manne zu tun, der ihn kannte. »»Nehmt zwei Ringe in den Marssegeln ein, »rief der Kapitän, »»laßt die Boleinen laufen, braßt an, streicht die Marnsegel ein, zieht die Takel auf die Rahen herunter!««
»Das war in jener Gegend nicht genug,« sagte der Engländer; »ich hätte vier Ringe genommen und mich der Focke entledigt.«
Diese feste, sonore, unerwartete Stimme machte Jedermann beben. Penelon hielt seine Hand über die Augen und schaute denjenigen an, welcher mit so viel Sicherheit das Mauoeuvre seinen Kapitän beurteilte.
»Wir thaten noch etwas Besseres,« sagte er mit einer gewissen Achtung, »denn wir geiten die ganze Brigantine und legten den Helmstock nach dem Winde, um vor dem Sturm zu laufen. Zehn Minuten nachher geiten wir die Marnsegel auf und trieben vor Topp und Tafel.
Der Engländer schüttelte den Kopf und sprach:
»Dan Schiff war zu alt, um dies zu wagen.«
»Das ist es gerade, was unser Verderben herbeiführte. Nachdem wir zwölf Stunden lang hin- und hergeworfen worden waren, zeigte sich ein Leck. »»Penelon,«« sagte der Kapitän zu mir, »»ich glaube, wir sinken, mein Alter; gib mir das Steuerruder und steige in den Raum hinab.«« Ich gebe ihm das Steuerruder und gehe hinab; es hatte bereits drei Fuß Wasser. Ich steige wieder hinauf und rufe: »»Zu den Puinpen! Zu den Pumpen!«« Ah! ja wohl; es war zu spät. Man ging an die Arbeit; aber ich glaube, je mehr wir herauszogen, desto mehr kam hinein. Ho! Nach einer vierstündigen Arbeit . . . sinken wir, so wollen wir sinken lassen, man stirbt nur einmal. »»Ah! Meister Penelon,«« spricht der Kapitän, »»Ihr gebt ein solches Beispiel? wohl, wartet, wartet!«« Er holt ein Paar Pistolen aus der Kajüte und ruft zurückkehrend: »»»Dem Ersten, der die Pumpe verläßt, zerschmettere ich die Hirnschale!««
»Schön,« sagte der Engländer.
»Nichts verleiht so viel Mut, als gute Gründe,« fuhr der Matrose fort; »überdieß hatte sich das Wetter mittlerweile aufgehellt und der Wind sich gelegt; nichtsdestoweniger stieg das Wasser fortwährend, nicht um viel, vielleicht um zwei Zell in der Stunde, aber es stieg; zwei Zoll in der Stunde, sehen Sie, das sieht aus wie nichts, aber in zwölf Stunden macht es nicht weniger als vierundzwanzig Zoll, und vierundzwanzig geben zwei Fuß. Zwei Fuß und drei, die wir schon hatten, das machte uns fünf. Wenn aber ein Schiff fünf Fuß Wasser im Bauche hat, so kann es für wassersüchtig angesehen werden. »»Gut,«« sagte der Kapitän, »»es ist genug so, und Herr Morrel kann uns keinen Vorwurf machen; wir haben getan, was wir tun konnten, um das Schiff zu retten; nun müssen wir die Mannschaft zu retten suchen. An die Schaluppe, Kinder, so geschwind als immer möglich!««
»Hören Sie, Herr Morrel, »fuhr Penelon fort, »wir liebten den Pharaon ungemein; aber wie sehr auch der Seefahrer sein Schiff lieben mag, so liebt er doch noch mehr seine Haut. Wir ließen es uns auch nicht zweimal sagen: dabei war es, als spräche das Schiff zu uns: »»Geht doch! geht doch!«« und er log nicht, der arme Pharaon, wir fühlten ihn buchstäblich unter unseren Füßen in die Tiefe sinken. So viel ist gewiss, daß in einem Nu die Schaluppe in der See war und wir uns alle Acht darin befanden. Der Kapitän stieg zuletzt hinab, oder Vielmehr nein, er stieg nicht hinab, denn er wollte das Schiff nicht verlassen; ich faßte ihn mit dem Arme um den Leib, warf ihn den Kameraden zu und sprang dann ebenfalls. Es war die höchste Zeit. Kaum hatte ich den Sprung gemacht, als das Verdeck mit einem Geräusche zersprang, daß man es hätte für die Lage eines Schusses von achtundvierzig Kanonen halten sollen. Zehn Minuten nachher tauchte es mit dem Vorderteile unter, dann mit dem Hinterteile, dann drehte es steh um sich selbst, wie ein Hund, der seinem Schweife nachläuft, und endlich eine gute Nacht der Gesellschaft, brrrrrn! . . . Alles war abgetan, kein Pharaon mehr!
»Wir brachten drei Tage zu, ohne zu essen und zu trinken, und sprachen schon davon, das Loos zu ziehen, wer den Anderen zur Nahrung dienen sollte, als wir die Gironde gewahrten; wir machten ihr Signale, sie sah uns, segelte auf uns zu schickte uns ihre Schaluppe und nahm uns auf. So hat sich die Sache ereignet, auf Ehrenwort, Herr Morrel, auf Seemannswort! Nicht wahr, Ihr Leute?«
Ein allgemeines Gemurmel der Beistimmung deutete an, daß der Erzähler alle Stimmen durch die Wahrheit der Hauptsache und durch das Pittoreske der einzelnen Umstände vereinigt hatte.
»Gut, mein Freund,« sagte Herr Morrel, »Ihr seid brave Leute, und ich wußte zum Voraus. daß bei dem Unglück, das mir begegnet ist, niemand Anderes die Schuld hatte, als mein Verhängnis. Es ist der Wille Gottes, und nicht der Fehler der Menschen. Verehren wir den Willen Gottes. Nun sagt, wie viel Sold ist man Euch schuldig?«
»Ah! bah . . . sprechen wir nicht davon, Herr Morrel.«
»Im Gegenteil. sprechen wir davon,« erwiderte mit einem traurigen Lächeln der Reeder.
»Nun wohl, man ist uns drei Monate schuldig.«
»Cocles, bezahlen Sie jedem von diesen braven Leuten zweihundert Franken. In einer andern Epoche, meine Freunde,« fuhr Herr Morrel fort, »hätte ich beigefügt: Geben Sie jedem zweihundert Franken als außerordentliches Geschenk, aber die Zeiten sind ungünstig, meine Freunde, und das wenige Geld, das mir übrig bleibt, ist nicht mehr mein Eigentum; entschuldigt mich also und liebt mich darum nicht minder.«
Penelon machte eine Grimasse der Rührung, wandte sich gegen seine Gefährten um, sprach einige Worte, mit ihnen, kam dann zurück und sagte, nachdem er seinen Kautabak in die andere Seite des Mundes übergearbeitet und einen zweiten Guß Speichel, welcher das Pendant zu dem ersten werden sollte, in das Vorzimmer geschleudert hatte.
»Was das betrifft, Herr Morrel, was das betrifft . . . «
»Was denn?«
»Das Geld.«
»Nun?«
»Nun, Herr Morrel, die Kameraden meinen, sie hätten für diesen Augenblick mit fünfzig Franken jeder genug, und sie könnten mit dem Reste warten.«
»Ich danke, meine Freunde,« rief Herr Morrel, tief erschüttert; »Ihr seid brave Leute; aber nehmt nur, nehmt, und wenn Ihr einen guten Dienst findet, tretet ein, Ihr seid frei.«
Diese letzten Worte brachten eine wunderbare Wirkung auf die Matrosen hervor; sie schauten einander mit bestürzter Miene an. Penelon, dem es an Atem fehlte, hätte beinahe seinen Kautabak verschluckt; zum Glück fuhr er zu rechter Zeit mit der Hand an seine Zunge.
»Wie, Herr Morrel!« sagte er mit einer zusammengepreßten Stimme, »wie! Sie schicken uns weg, Sie sind also unzufrieden mit uns?«
»Nein, meine Kinder,« erwiderte der Reeder, »nein, ich bin nicht unzufrieden mit Euch, im Gegenteil; nein, ich schicke Euch nicht weg. Aber was wollt Ihr, ich habe kein Schiff mehr, und bedarf folglich auch keiner Matrosen.«
»Wie! Sie haben keine Schiffe mehr?« rief Penelon; »wohl, Sie lassen andere bauen, und wir warten.«
»Ich habe kein Geld mehr, um Schiffe bauen zulassen, Penelon,« entgegnete Herr Morrel traurig lächelnd; »ich kann also Euer Anerbieten nicht annehmen, so freundlich es auch ist.«
»Wohl, wenn Sie kein Geld haben, so müssen Sie uns nicht bezahlen, wir machen es, wie es der arme Pharaon gemacht hat, und treiben vor Topp und Tafel.«
»Genug, genug, meine Freunde,« erwiderte Herr Morrel, dem vor Rührung die Sprache beinahe versagte. »Wir werden uns in besseren Zeiten wiederfinden. Emmanuel,« fügte der Reeder bei, »begleiten Sie diese braven Leute und seien Sie dafür besorgt, daß meine Wünsche erfüllt werden.«
»Also wenigstens auf Wiedersehen, nicht wahr Herr Morrel?« versetzte Penelon.
»Ja, meine Freunde, ich hoffe wenigstens; geht.
Auf ein Zeichen seiner Hand marschierte Cocles voran. Die Matrosen folgten dem Kassier und Emmanuel folgte den Matrosen.
»Nun laßt mich einen Augenblick allein,« sagte der Reeder zu seiner Frau und zu seiner Tochter, »ich habe mit diesem Herrn zu sprechen.«
Und er bezeichnete mit den Augen den Bevollmächtigten des Hauses Thomson und French, welcher unbeweglich in seiner Ecke während dieser Szene stehen geblieben war, an der er nur mit den von uns erwähnten paar Worten Teil genommen hatte. Die Frauen schauten den Fremden an, den sie völlig vergessen hatten, und entfernten sich sodann; aber während sich die Tochter zurückzog, warf sie auf diesen Mann einen erhabenen Blick inständiger Bitte, den er mit einem Lächeln erwiderte, welches auf diesem eisigen Gesichte hervortreten zu sehen, ein kalter Beobachter erstaunt sein würde. Die zwei Männer blieben allein.
»Nun, mein Herr,« sagte Morrel, »Sie haben Alles gesehen, Alles gehört, und ich habe Ihnen nichts mehr mitzutbeilen.«
»Ich habe gesehen, mein Herr,« erwiderte der Engländer, »daß Ihnen ein neues Unglück, so unverdient als die anderen, widerfahren ist, und das hat mich in meinem Wunsche, Ihnen angenehm zu sein. Bestärkt.«
»Oh! mein Herr . . . «
»Ich bin einer von Ihren Hauptgläubigern, nicht wahr?«
»Sie sind wenigstens derjenige, welcher die kurzsichtigsten Wechsel von mir in Händen hat.«
»Sie wünschen eine Fristverlängerung, um mich zu bezahlen?«
»Eine Fristverlängerung könnte mir die Ehre und folglich das Leben retten.«
»Wie viel verlangen Sie?«
»Zwei Monate,« sagte Morrel zögernd.
»Gut,« sprach der Fremde, »ich gebe Ihnen drei.«
»Doch glauben Sie, daß das Haus Thomson und French . . . ?«
»Seien Sie unbesorgt, ich nehme Alles auf mich, . . . Wir haben heute den 5. Juni?«
»Ja.«
»Nun, erneuern Sie mir alle diese Papiere auf den 5. September, und am 5. September um elf Uhr Morgens (die Pendeluhr bezeichnete gerade in diesem Augenblick die elfte Stunde), werde ich mich bei Ihnen einfinden.«
»Ich werde Sie erwarten, mein Herr, und Sie sollen Bezahlung erhalten, oder ich bin tot.«
Diese letzten Worte sprach Morrel so leise, dass sie der Fremde nicht hören konnte. Die Papiere wurden erneuert, man zerriß die alten, und der arme Reeder hatte wenigstens drei Monate vor sich, um seine letzten Mittel aufzubieten. Der Engländer empfing seinen Dank mit dem seiner Nation eigenthümlichen Phlegma und nahm von Morrel Abschied, der ihn unter Segnungen bis an die Thüre zurückführte. Auf der Treppe traf er Julie; das Mädchen that, als ob es hinabginge, aber es wartete auf ihn.
»O! mein Herr . . . « rief Julie, die Hände faltend.
»Mein Fräulein,« sagte der Fremde, »Sie werden eines Tages einen Brief, unterzeichnet . . . Simbad der Seefahrer . . . bekommen. Thun Sie Punkt für Punkt, was der Brief sagt, so seltsam Ihnen auch die Aufforderung erscheinen mag.«
»Gut, mein Herr,« erwiderte Julie.
»Versprechen Sie es mir?«
»Ich schwöre es Ihnen.«
»Leben Sie wohl, mein Fräulein; bleiben Sie stets ein gutes, frommes Mädchen, und ich hoffe, Gott wird Sie dadurch belohnen, daß er Ihnen Herrn Emmanuel zum Gatten gibt.«
Julie stieß einen leichten Schrei aus, wurde rot wie eine Kirsche, und hielt sich am Geländer, um nicht zu fallen. Der Engländer entfernte sich mit einer Gebärde des Abschiedes. Im Hofe begegnete er Penelon; dieser hatte eine Rolle von hundert Franken in jeder Hand, und schien sich nicht entschließen zu können, das Geld fortzutragen.
»Kommt, mein Freund,« sagte der Engländer zu ihm, »ich habe mit Euch zu sprechen.«