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Erstes bis fünftes Bändchen
Einundzwanzigstes Kapitel.
Die Insel Tiboulen

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Betäubt; beinahe erstickt, hatte Dantes noch die Geistesgegenwart, seinen Atem zurückzuhalten, und da seine rechte Hand, für alle Fälle bereit, sein Messer geöffnet hielt, so schlitzte er rasch den Sack auf und streckte zuerst den Arm und dann den.Kopf heraus; nun aber fühlte er sich, trotz seiner Bewegungen, um die Kugel aufzuheben, fortwährend hinabgezogen; da bückte er sich, suchte den Strich welcher deine Beine zusammenhielt, und durchschnitt diesen mit einer äußersten Anstrengung gerade in dem Augenblick ab, wo er ersticken sollte. Hierauf stieg er mittelst eines kräftigen Fußstoßes frei auf die Oberfläche des Meeres, während die.Kugel in unbekannte Tiefen das grobe Gewebe hinabzog, welches ihm zum Leichentuche hatte dienen sollen. Dantes nahm sich nur Zeit, um Atem zu holen, und tauchte um zweiten Male unter, denn es mußte seine erste Vorsichtsmaßregel sein die Blicke zu vermeiden.

Als er zum zweiten Male erschien, war er bereits wenigstens fünfzig Schritte vom Orte seines Sturzes entfernt; er sah über seinem Haupte einen schwarzen stürmischen Himmel, an dessen Oberfläche der Wind eilige Wolken hinpeitschte, während zuweilen ein Azurwinkel entblößt wurde, auf welchem ein Stern hervortrat. Vor ihm dehnte sich die düstere, tosende Fläche aus, deren Wogen wie beim Herannahen eines Sturmes zu brodeln anfingen, während hinter ihm; schwärzer als das Meer, schwärzer als der Himmel, einem drohenden Gespenste ähnlich; der Granitriese sich erhob, dessen Spitze wie ein Arm anzuschauen war, der sich ausstreckte, um seine Beute wieder zu fassen. Auf dem höchsten Felsen erblickte er eine Stocklaterne, welche zwei Schatten beleuchtete. Es kam ihm vor, als neigten sich diese zwei Schatten unruhig zum Meere herab. Die seltsamen Totengräber mußten wirklich den Schrei gehört haben den er den Raum durchschneidend ausstieß. Dantes tauchte abermals unter und machte eine ziemlich lange Fahrt unter dem Wasser, dieses Manoeuvre war ihm einst eigenthümlich und versammelte gewöhnlich in der Bucht des Pharo zahlreiche Bewunderer um ihn, welche ihn sehr oft für den geschicktesten Schwimmer von Marseille erklärten.

Als er wieder auf die Oberfläche des Wassers kam, war die Stocklaterne verschwunden. Er mußte sich orientieren. Von allen Inseln welche das Schloß If umgeben, sind Ratonneau und Pomègue die nächsten, aber Ratonneau und Pomègue sind bewohnt; ebenso ist es mit der kleinen Insel Daume. Die sicherste Insel war also Tiboulen oder Lemaire. Die Inseln Tiboulen oder Lemaire sind eine starke Stunde von Castell If entfernt. Dantes beschloß nichtsdestoweniger eine von diesen beiden Inseln zu erreichen. Aber wie sie mitten in der Nacht finden, welche sich immer mehr um ihn her verdichtete? In diesem Augenblick sah er wie einen Stern den Leuchtturm von Planir. Wenn er sich gerade gegen diesen Leuchtturm wandte, ließ er die Insel Tiboulen etwas links, er mußte also die Insel auf seinem Wege finden, wenn er etwas links schwamm. Doch es war, wie gesagt, wenigstens eine starke Stunde von dem Castell If nach dieser Insel.

Im Gefängnisse wiederholte Faria oft dem jungen Manne, wenn er ihn niedergeschlagen und träge sah, »Dantes, geben Sie sich nicht dieser Verweichlichung hin, Sie werden ertrinken, wenn Sie die Flucht versuchen und Ihre Kräfte sind nicht erhalten worden.« Unter der schweren, bitteren Welle tönte dieses Wort an das Ohr von Dantes, er beeilte sich aufzusteigen und die Wellen zu durchschneiden, um zu sehen, ob er wirklich seine Kräfte nicht verloren hätte: mit Freuden sah er, daß ihm seine gezwungene Untätigkeit nichts von seiner Macht und Behändigkeit genommen, und er fühlte, daß er noch Herr des Elementes war, an dem er sich schon als ein kleines Kind ergötzt hatte. Die Furcht, diese rasche Verfolgerin, verdoppeln überdies die Kräfte von Dantes. Auf die Höhe der Wellen geneigt, horchte er, ob kein Geräusch zu ihm drang. So oft er sich auf die Spitze einer Wege erhob, umfaßte sein rascher Blick den sichtbaren Horizont und suchte in die dicke Finsternis zu tauchen. Jede Welle, welche etwas höher war, als die andern, schien ihm eine zu seiner Verfolgung ausgeschickte Barke zu fein; dann verdoppelte er seine Anstrengungen, die ihn allerdings entfernten, aber durch Wiederholung rasch seine Kräfte aufzehrten.

Er schwamm jedoch! und bereits war das furchtbare Schloß etwas in dem nächtlichen Dunste verschmolzen. Er konnte es nicht mehr unterscheiden, fühlte es aber immer noch. Es verging eine Stunde, während welcher Dantes begeistert durch das Gefühl der Freiheit, das sich seiner ganzen Person bemächtigt hatte, die Wellen in der Richtung, die er gewählt, zu durchschneiden fortfuhr.

»Nun schwimme ich bald eine Stunde,« sagte er zu sich selbst, »doch da mir der Wind entgegen bläst, mußte ich eine Viertelstunde von meiner Geschwindigkeit verlieren. Ich kann indessen, wenn ich mich nicht in der Richtung getäuscht habe, jetzt nicht mehr fern von der Insel Tiboulen sein. Wenn ich mich aber getäuscht hätte!«

Ein Schauer durchlief den Körper des Schwimmers. Er suchte sich einen Augenblick auf den Rücken zu legen, um auszuruhen, aber das Meer wurde immer heftiger, und er fühlte, daß dieses Erleichterungsmittel, auf welches er gerechnet hattet unmöglich war.

»Nun wohl!« sagte er: »ich werde bis zum Ende fortfahren, bis meine Arme nachlassen, bis meine Beine erstarren, bis Krämpfe sich meines Körpers bemächtigen, und dann sinke ich auf den Grund.«

Und er schwamm wieder mit der Kraft und dem Antriebe der Verzweiflung. Plötzlich kam es ihm vor als ob der bereits dunkele Himmel sich noch mehr verdüsterte, und als ob eine dichte, schwere, gedrängte Wolke sich auf ihn herabsenkte. Zu gleicher Zeit fühlte er einen heftigen Schmerz am Knie. Die Einbildung mit ihrer unberechenbaren Geschwindigkeit sagte ihm nun, es wäre der Schlag einer Kugel, und er würde sogleich den Knall eines Flintenschusses hören, aber der Knall ertönte nicht; Dantes streckte die Hand aus und fühlte einen Widerstand. Er zog sein anderes Bein an sich und berührte die Erde. Nun sah er, was der Gegenstand war, den er für eine Wolke gehalten hatte. Zwanzig Schritte von ihm erhob sich eine Felsenmasse von so bizarren Formen, daß man sie hätte für einen mitten in seinem glühendsten Brande versteinerten Herd halten können. Es war die Insel Tiboulen.

Dantes erhob sich, machte ein paar Schritte vorwärts, und streckte sich aus, Gott auf den Granitspitzen dankend, welche ihm zu dieser Stunde weicher schienen, als ihm je das weichste Bett vorgekommen war. Dann entschlummerte er, trotz des Windes, trotz des Sturmes, trotz des Regens, welcher zu fallen anfing, völlig gerädert durch die Anstrengung, zu jenem köstlichen Schlummer des Menschen, dem der Körper erstarrt, dessen Seele aber mit dem Bewußtsein eines unerwarteten Glückes fortglüht. Nach einer Stunde erwachte Edmond wieder unter dem ungeheuren krachen eines Donners; der Sturm war im Raume entfesselt und peitschte die Luft mit seinem geräuschvollen Flügelschlage. Von Zeit zu Zeit fuhr ein Blitz wie eine Feuerschlange vom Himmel herab und beleuchtete die Wellen und die Wolken, welche vor einander herrollten, wie die Wogen eines unermeßlichen Chaos.

Dantes hatte sich mit seinem Seemannsblicke nicht getäuscht: er hatte an der ersten von den zwei Inseln gelandet; welche wirklich Tiboulen ist; er wußte, daß sie kahl und öde war und nicht den geringsten Zufluchtsort bot. Wenn sich aber der Sturm gelegt hätte; würde er sich wieder in die See werfen und nach der; zwar ebenfalls unfruchtbaren; aber viel größeren und folglich gastlicheren Insel Lemaire schwimmen. Ein überhängender Felsen bot Dantes einen augenblicklichen Schutz; er flüchtete sich darunter; und beinahe gleichzeitig brach der Sturm in seiner ganzen Wut los. Edmond fühlte, wie der Fels zitterte, der ihn beschirmte; an der Base der riesigen Pyramide sich brechend; sprangen die Wellen bis zu ihm zurück. Obgleich in Sicherheit, wurde er unter diesem furchtbaren Tosen; unter diesen blendenden Blitzen von einer Art von Schwindel ergriffen; es kam ihm vor, als bebte die Insel unter ihm und würde jeden Augenblick, wie ein vor Anker liegendes Schiff; sein Kabeltau zerreißen und ihn in den ungeheuren Strudel fortziehen. Nun erinnerte er sich; daß er seit vier und zwanzig Stunden nichts gegessen; er hatte Hunger; er hatte Durst. Dantes streckte die Hände und den Kopf aus; und trank das Wasser des Sturmes aus der Höhlung des Felsen.

Als er sich erhob; beleuchtete ein Blitz, der den Himmel bis zu dem Fuße des blendenden Thrones von Gott zu öffnen schien, den weiten Raum. Bei dem Schimmer dieses Blitzes sah Dantes; zwischen der Insel Lemaire und dem Cap Croiselle; eine Viertelstunde von sich entfernt; wie ein von der Höhe einer Welle in den Abgrund geleitetes Gespenst, ein kleines Fischerfahrzeug erscheinen; das zugleich vom Sturme und der Woge fortgetragen wurde. Eine Sekunde nachher erschien das Gespenst; mit furchtbarer Geschwindigkeit sich nähernd, auf dem Gipfel einer zweiten Welle, Dantes wollte schreien; er suchte einen Fetzen Leinwand; den er in der Luft flattern lassen könnte; um ihnen anzudeuten; daß sie ihrem Verderben entgegen gingen; aber sie sahen es wohl selbst. Bei dem Schimmer eines andern Blitzes gewahrte der junge Mann vier an den Matten und Stangen angeklammerte Männer; ein fünfter hielt sich an der Stange des zerbrochenen Steuerruders. Diese Männer, welche er sah, sahen ihn wohl ebenfalls, denn verzweiflungsvolles Geschrei, von den pfeifenden Windspitzen fortgetragen, drang an sein Ohr. Über dem wie ein Rohr gekrümmten Maste flatterte ein Segel in Fetzen. Plötzlich brachen die Bande, welche es noch zurück hielten, und es verschwand, fortgerissen in den dunkeln Tiefen des Himmels, wie jene großen weißen Vögel, die sich auf den schwarzen Wolken hervorheben.

Zu gleicher Zeit vernahm man ein furchtbares Krachen, Todesgeschrei gelangte zu Dantes. Wie ein Sphinx an seinen Felsen geklammert, von wo er hinausschaute in die Sturmfluth, zeigte ihm der Blitz das zerschellte kleine Fahrzeuge und unter den Trümmern Köpfe mit verzweifeltem Gesicht und Arme zum Himmel emporgestreckt. Dann versank Alles in Nacht; das furchtbare Schauspiel hatte die Dauer des Blitzes gehabt.

Dantes stürzte nach dem schlüpfrigen Abhang des Felsen, auf die Gefahr, selbst in die See zu rollen. Er schaute, er horchte, aber er hörte und sah nichts mehr: kein Geschrei, keine Anstrengung eines Menschen mehr, der Sturm allein, diese große Sache Gottes, fuhr fort mit den Winden zu brüllen und mit den Wellen zu schäumen. Nach und nach legte sich der Wind, der Himmel wälzte gegen Westen große graue, durch den Sturm gleichsam entfärbte Wolken; das Azur erschien wieder mit Sternen, welche heller funkelten als je, bald zeigte gegen Osten ein langer röthlicher Streifen am Horizont schwarzblaue Wellenlinien, die Wogen sprangen, ein rascher Schimmer lief über ihre Höhe hin und verwandelte ihre schäumenden Gipfel in eine Goldmähne. Es war der Tag.

Dantes blieb unbeweglich und stumm vor diesem großen Schauspiel, als, erblickte er es zum ersten Male, er hatte es in der Tat seit der Zeit, die er im Castell If war, vergessen. Sich nach der Festung umwendend, befragte er mit einem Kreisblicke zugleich das Land und das Meer. Das düstere Gebäude trat aus dem Schooße der Wellen mit der eindrucksvollen Majestät der unbeweglichen Dinge hervor, welche zugleich zu bewachen und zu befehlen scheinen. Es mochte ungefähr fünf Uhr sein; das Meer beruhigte sich immer mehr. »In zwei bis drei Stunden,« sagte Edmond zu sich selbst. »wird der Schließer in mein Zimmer kommen, den Leichnam meines armen Freundes finden, ihn erkennen, mich vergebens suchen und Lärm machen. Dann wird man das Loch, die Galerie finden; man wird die Menschen befragen, welche mich in das Meer geschleudert und den Schrei, den ich ausstieß, hören mußten. Sobald die Barken mit bewaffneten Soldaten gefüllt sind, werden sie dem unglücklichen Flüchtling nachsetzen, da man wohl weiß, daß er nicht fern sein kann. Die Kanone wird die ganze Küste benachrichtigen, daß sie einem Menschen, den man umherirrend, nackt und ausgehungert finden werde, keine Zufluchtsstätte geben soll. Die Spione und Alguazils werden in Kenntnis gesetzt und durchstreifen die Küste, während der Gouverneur der Insel If das Meer durchstreift. Umstellt auf dem Wasser, abgeschnitten auf dem Lande, was soll dann aus mir werden? Ich hungere, ich friere, ich habe Alles bis auf das rettende Messer, das mir im Schwimmen hinderlich war, weggeworfen; ich bin der Gnade des nächsten Bauern preisgegeben, der gern durch meine Auslieferung zwanzig Franken verdienen möchte; ich habe weder mehr Kraft, noch einen Gedanken, noch Entschlossenheit. Oh! mein Gott! mein Gott! Siehe, ob ich genug gelitten habe, und ob Du für mich mehr tun kannst, als ich selbst für mich zu tun vermag.«

In dem Augenblick, wo Edmond in einer Art von Delirium, veranlaßt durch die Erschöpfung seiner Kräfte und die Leere seines Gehirns, angstvoll dem Schlosse If zugewendet, dieses glühende Gebet sprach, sah er an der Spitze der Insel Pomègue; sein lateinisches Segel vom Horizont abhebend, und wie eine Möwe, welche die Wellen kreisend einherfliegt, ein kleines Fahrzeug erscheinen, in welchem nur das Auge eines Seemanns eine genuesische Tartane auf der noch dunkeln Linie des Meeres zu erkennen vermochte. Sie kam aus dem Hafen von Marseille und gewann die Höhe; indem sie den funkelnden Schaum vor dem scharfen Vorderteil hertrieb; das ihren runden Seiten eine leichtere Bahn öffnete.

»Oh!« rief Edmond; »wenn ich bedenke, daß ich in einer halben Stunde dieses Schiff erreicht hätte, befürchtete ich nicht, befragt, für einen Flüchtling erkannt und nach Marseille zurückgeführt zu werden! Was soll ich tun? was soll ich sagen? welche Fabel soll ich erfinden, von der sie bethört werden dürften? Diese Leute sind insgesamt Schleichhändler, Halbpiraten. Unter dem Vorwande der Küstenfahrerei treiben sie Seeräuberei; sie werden mich lieber verkaufen; als eine unfruchtbare, wenn auch gute Handlung ausführen, Wir wollen warten . . . Doch das Warten ist etwas Unmögliches; ich sterbe vor Hunger; in ein paar Stunden wird das Wenige, was mir von Kraft übrig geblieben ist; vollends verschwunden sein; überdies naht die Stunde des Besuches, man hat noch nicht Lärm gemacht, vielleicht wird man nichts vermuten, ich kann mich für einen von den Matrosen des kleinen Schiffes ausgeben, das in dieser Nacht gescheitert ist, dieser Fabel wird es nicht an Wahrscheinlichkeit gebrechen. Keiner wird zurückkehren, um mir zu widersprechen, denn das Meer hat sie insgesamt verschlungen.«.

Während Dantes diese Worte sprach, wandte er die Augen nach der Stelle, wo das kleine Schiff zerschellt war, und bebte. An dem Rande eines Felsen war die phrygische Mütze von einem der schiffbrüchigen Matrosen hängen geblieben, und’ nahe dabei schwammen einige Trümmer vom Kiel. träge Balken, die das Meer an die Base der Insel warf, an welche sie wie ohnmächtige Widder stießen.

Der Entschluß von Dantes war auf der Stelle gefaßt, er warf sich in die See, schwamm nach der Mütze, bedeckte sich den Kopf damit, ergriff einen von den Balken. und wandte sich, um in die Linie zugelangen, welche das Schiff verfolgen mußte.

»Nun bin ich gerettet.« murmelte er.

Und diese Überzeugung, verlieh ihm wieder seine Kräfte. Bald erblickte er die Tartane, welche, da sie widrigen Wind hatte, zwischen dem Schlosse If und dem Thurme von Planir lavierte. Dantes befürchtete einen Augenblick, das kleine Schiff könnte statt sich an der Küste zu halten, in die offene See gehen, wie es dasselbe zum Beispiel getan hätte, wenn Corsica oder Sardinien seine Bestimmung gewesen wäre; aber an der Art und Weise, wie es manoeuvrirte, erkannte der Schwimmer, daß es, nach der Gewohnheit der Schiffe, welche nach Italien gehen, zwischen der Insel Jaros und der Insel Calasareigne durchzufahren wünschte.

Indessen näherten sich das Schiff und der Schwimmer einander unmerklich; bei einem seiner Schläge kam sogar das kleine Fahrzeug auf eine Viertelstunde zu Dantes. Da erhob er sich auf den Wellen und bewegte seine Mütze als Notzeichen, aber Niemand bemerkte ihn auf dem Schiffe, welches schwankte und einen neuen Schlag begann. Dantes gedachte zu rufen, er maß jedoch mit dem Auge die Entfernung und sah ein, daß seine Stimme, zum Voraus weggetragen und bedeckt von dem Seewind und dem Geräusche, der Wellen, nicht bis zu dem Schiffe gelangen würde. Er wünschte sich nun Glück, daß er so vorsichtig gewesen, sich auf einem Balken auszustrecken, Geschwächt, wie er war, hätte er sich vielleicht nicht auf dem Meere halten können, bis er die Tartane, erreicht haben würde, und fuhr die Tartane vorüber, ohne ihn zu sehen, was im Reiche der Möglichkeit lag, so wäre er nicht im Stande gewesen, die Küste wieder zu erreichen. Obgleich des Weges beinahe gewiss, den das Schiff verfolgte, begleitete es Dantes doch mit seinen Augen in einer gewissen Angst bis zu der Minute, wo es umlegte und zu ihm zurückkam; dann schwamm er ihm entgegen; aber ehe sie zusammentrafen, fing das Schiff an umzudrehen. Sogleich erhob sich Dantes mit einer äußersten Anstrengung, daß er beinahe auf dem Wasser stand, bewegte seine Mütze in der Luft und gab einen von jenen kläglichen Schreien von sich, wie die Seeleute in der Not ausstoßen, und die eines Meergeistes Klage zu fein scheinen.

Diesmal hörte und sah man ihn. Die Tartane unterbrach ihr Manoeuvre und drehte ihr Vorderteil nach seiner Seite; zu gleicher Zeit bemerkte er, daß man eine Schaluppe in das Meer zu setzen sich anschickte. Einen Augenblick nachher wandte sich die Schaluppe, mit zwei Matrosen bemannt und das Meer mit seinem doppelten Ruder peitschend gegen ihn. Dantes ließ nun den Balken los, dessen er nicht mehr zu bedürfen glaubte, und schwamm kräftig, um denjenigen, welche ihm entgegenkamen, den halben Weg zu ersparen. Der Schwimmer hatte indessen auf beinahe mangelnde Kräfte gerechnet; er fühlte nun, von welchem Nutzen ihm das Stück Holz gewesen wäre, das bereits träge hundert Schritte von ihm schwamm. Seine Augen fingen an steif zu werden, seine Beine hatten ihre Biegsamkeit verloren, seine Bewegungen wurden hart und gestoßen, seine Brust keuchte.

Er stieß einen zweiten Schrei aus, die Ruderer verdoppelten ihre Thätigkeit, und einer von ihnen rief ihm italienisch: »Mut!« zu. Das Wort drang in dem Augenblick zu ihm, wo eine Woge, die er zu überwältigen nicht mehr Kraft hatte, über seinem.Kopfe hinging und ihn mit Schaum bedeckte.

Er erschien wieder, das Meer mit den ungleichen verzweifelten Bewegungen eines Ertrinkenden bearbeitend, stieß einen dritten Schrei aus und fühlte, wie er untersank, als hätte er noch die tödliche Kugel am Fuße. Das Wasser ging über seinen Kopf, und durch das Wasser sah er den bleifarbigen Himmel mit schwarzen Flecken. Eine gewaltige Anstrengung brachte ihn auf die Oberfläche zurück. Es kam ihm vor, als ob man ihn bei den Haaren faßte, dann sah er nichts mehr, hörte er nichts mehr: er war ohnmächtig. Als er die Augen wieder öffnete, befand er sich auf dem Verdeck der Tartane, die ihren Weg fortsetzte; er schaute vor Allem, welche Richtung sie verfolgte; man entfernte sich immer mehr von dem Schlosse If.

Dantes war so erschöpft, daß der Ausruf der Freude den er von sich gab, für einen Schmerzensseufzer gehalten wurde. Er lag, wie gesagt, auf dem Verdeck; ein Matrose rieb ihm die Glieder mit einer wollenen Decke; ein Anderer, den er als denjenigen erkannte, welcher ihm Mut zugerufen hatte, schob ihm die Mündung einer Kürbisflasche durch die Lippen, ein Dritter, ein alter Seemann, der zugleich der Lotse und der Patron war, schaute ihn mit dem selbstsüchtigen Mitleid an, das im Allgemeinen die Menschen für ein Unglück fühlen, welchem sie am Tage zuvor entgangen sind, und das sie am nächsten Tage treffen kann. Einige Tropfen Rhum, welche die Kürbisflasche enthielt, belebten den geschwächten Magen des jungen Mannes, während die Reibungen, die der vor ihm kniende Matrose mit der Wolle an seinem Körper fortsetzte, seinen Gliedern wieder Geschmeidigkeit verliehen.«

»Wer seid Ihr?« fragte in schlechtem Französisch der Patron.

»Ich bin ein maltesischer Matrose,« antwortete Dantes in schlechtem Italienisch; »wir kommen von Syrakus und hatten Wein und Panoline geladen. Der Sturm von dieser Nacht überfiel uns bei Cap Morgiou, und wir scheiterten an den Felsen. die Ihr dort sehet.«

»Woher kommt Ihr?«

»Von jenen Felsen, an denen ich mich glücklicher Weise anklammern konnte, während sich unser armer Kapitän den.Kopf daran zerschellte. Unsere anderen drei Gefährten ertranken, und ich bin, glaube ich, allein am Leben geblieben; ich erblickte Euer Schiff, befürchtete zu lange auf der Einsamen, öden Insel warten zu müssen, und wagte mich auf ein Trumm unseres Fahrzeuges, um zu Euch zu gelangen. Ich danke, daß Ihr mir das Leben gerettet habt; ich war verloren, als mich einer von Euren Matrosen bei den Haaren faßte.«

»Das war ich,« sagte ein Matrose mit treuherzigem, von einem langen schwarzen Barte umgebenen Gesichte, »und es war Zeit, denn Ihr sanket unter.«

»Ja,« sprach Dantes, ihm die Hand reichend, »ja, mein Freund, ja, und ich danke Euch zum zweiten Male.«

»Meiner Treue!« sagte der Matrose, »ich zögerte beinahe; mit Eurem sechs Zoll langen Barte und Euren Fuß langen Haaren habt Ihr eher das Aussehen eines Räubers, als das eines ehrlichen Mannes.«

Dantes erinnerte sich in der Tat, daß er sich seit seinem Aufenthalt im Schlosse If weder die Haare geschnitten noch rasiert hatte. »Ja,« sagte er, »ich habe in einem Augenblick der Gefahr der heiligen Jungfrau ein Gelübde getan, mir zehn Jahre lang weder die Haare noch den Bart abzuschneiden. Heute läuft mein Gelübde ab, und ich wäre beinahe am Jahrestage ertrunken.«

»Was sollen wir nun mit Euch machen?« fragte der Patron,

»Ach, ! was Ihr wollt. Die Felucken, zu der ich gehörte, ist verloren, der Kapitän ist tot. Ich bin demselben Schicksale entgangen, aber wie Ihr seht; völlig nackt. Zum Gluck darf ich mich als einen ziemlich guten Matrosen betrachten. Setzt mich in dem nächsten dem besten Hafen, wo Ihr Euch vor Anker legt, aus, und ich werde auf einem Handelsschiffe Beschäftigung finden.«

»Ihr kennt das mittelländische Meer?«

»Ich fahre darauf seit meiner Kindheit.«

»Ihr wißt, wo gute Ankerplätze zu finden sind?«

»Es gibt wenige Häfen, selbst unter den schwierigsten, wo ich nicht mit geschlossenen Augen aus und einzufahren vermöchte.«

»Sagt, Patron,« fragte der Matrose, welcher Dantes Mut zugerufen hatte, »warum soll der Kamerad nicht bei uns bleiben, wenn er die Wahrheit spricht?«

»Ja, wenn er die Wahrheit spricht,« erwiderte der Patron mit einer Miene des Zweifels; »aber in dem Zustande, in welchem sich der arme Teufel befindet, verspricht man viel, und hält dann eben gerade, was man kann.«

»Ich werde mehr halten, als ich versprochen habe.« versetzte Dantes.

»Oh! oh!« rief der Patron lachend. »wir werden sehen.«

»Wann Ihr wollt.« sagte Dantes aufstehend. »Wohin fahrt Ihr?«

»Nach Livorno.«

»Warum preßt Ihr nicht, statt Schläge zu tun, wobei Ihr eine kostbare Zeit verliert, ganz einfach den Wind so fest als möglich,«

»Weil wir gerade auf die Insel Rion zulaufen würden.«

»Ihr kommt auf mehr als zwanzig Faden daran vorbei.«

»So nehmt das Steuerruder,« sagte der Patron, »und wir werden Euer Wissen beurteilen.«

Der junge Mann setzte sich an das Steuerruder, überzeugte sich durch einen leichten Druck, daß das Schiff gehorsam war, und rief, als er sah, daß es, ohne von erster Feinheit zu sein, sich nicht weigerte:

»An die Brassen und Boleinen.«

Die vier Matrosen, welche die Mannschaft bildeten, liefen an ihre Posten; während ihnen der Patron zuschaute.«

»Holt an!« fuhr Dantes fort.

Die Matrosen gehorchten ziemlich pünktlich.

»Und nun bindet an; gut.«

Dieser Befehl wurde wie die zwei ersten ausgeführt, und statt mit Schlägen fortzulaufen; rückte das kleine Schiff gegen die Insel Rion vor, an welcher es, wie dies Dantes vorhergesagt hatte, vorüber kam, indem es dieselbe auf zwanzig Faden vom Steuerbord ließ.

»Bravo!« rief der Kapitän.

»Bravo!« wiederholten die Matrosen.

Und Alle schauten verwundert diesen Mann an; dessen Blick wieder einen Geist, dessen Körper wieder eine Kraft gefunden hatte, wie man es entfernt nicht bei ihm vermutete.

»Ihr seht,« sagte Dantes; den Helmstock verlassend; »Ihr seht, daß ich Euch auf der Fahrt wenigstens zu etwas nütze sein könnte; wollt Ihr mich in Livorno nicht behalten, nun, so laßt Ihr mich dort, und von meinen ersten Monaten Sold entschädige ich Euch für meine Kost bis dahin und für die Kleider; die Ihr mir leihen werdet.«

»Gut! Gut!« versetzte der Patron. »Die Sache läßt sich machen; wenn Ihr billig sein werdet.«

»Ein Mann ist so viel wert, als der andere,« sprach Dantes; »was Ihr den Kameraden gebt, gebt Ihr mir auch, und es ist abgemacht.«

»Das ist nicht richtig;« rief der Matrose, welcher Dantes aus dem Meere gezogen hatte; »denn Ihr versteht mehr als wir.«

»Was den Teufel geht das Dich an, Jacopo,« sagte der Patron; »es steht Jedem frei; sich für die Summe zu verdingen, die ihm beliebt.«

»Allerdings,« versetzte Jacopo, »es war auch nur eine Bemerkung von mir.«

»Du würdest besser daran tun; diesem braven Jungen, der ganz nackt ist eine Hose und ein Wamms zu leihen, vorausgesetzt, Du hast so viel Vorrath.«

»Nein,« sagte Jacopo, »aber ich habe ein Hemd und eine Hose.«

»Mehr brauche ich nicht,« rief Dantes; »ich danke, mein Freund.«

Jacopo schlüpfte durch die Luke hinab und kam in einem Augenblick mit den zwei Kleidungsstücken zurück, welche Dantes mit unbeschreiblicher Freude anzog.

»Braucht Ihr noch etwas Anderes?« fragte der Patron.

»Ein Stück Brot und noch einen Schluck von dem vortrefflichen Rhum, den ich gekostet, denn ich habe sehr lange nichts mehr zu mir genommen.«

In der Tat ungefähr vierzig Stunden.

Man brachte Dantes ein Stück Brot und Jacopo reichte ihm die Flasche.

»Den Helmstock an Backbord,« rief der Patron sich gegen den Rudergänger umwendend.

Dantes warf einen Blick nach derselben Seite, während er die Flasche nach seinem Munde führte, aber die Flasche blieb auf halbem Wege.

»Halt,« fragte der Patron, »was geht im Castell If vor?«

Eine kleine weiße Wolke, welche die Aufmerksamkeit von Dantes erregt hatte, war wirklich die Zinnen der südlichen Bastei von Castell If bekränzend erschienen. Eine Secunde nachher erstarb der Lärmen eines entfernten Knalles an Bord der Tartane. Die Matrosen schauten einander an.

»Was soll das bedeuten?« fragte der Patron.

»Es wird ein Gefangener in dieser Nacht entwichen sein, und man feuert die Lärmkanone ab,« sagte Dantes.

Der Patron warf einen Blick auf den jungen Mann, der, während er diese Worte sprach, die Kürbisflasche an den Mund gesetzt hatte, aber er sah ihn den Trank, den sie enthielt, mit solcher Ruhe schlürfen, daß wenn er einen Verdacht hatte, dieser nur seinen Geist durchzog und sogleich wieder erlosch.

»Euer Rhum ist teufelsmäßig stark,« sagte Dantes, mit dem Hemdärmel seine von Schweiß triefende Stirne abtrocknend.

»Ist er es,« murmelte der Kapitän ihn anschauend, »desto besser, ich habe in jedem Fall einen tüchtigen Mann bekommen.«

Unter dem Vorwande von Müdigkeit bat Dantes, sich an das Steuerruder setzen zu dürfen. Sehr erfreut, seiner Funktionen überhoben zu sein, fragte der Rudergänger den Patron mit dem Auge, und dieser bedeutete ihm durch ein Zeichen, er könnte den Helmstock seinem neuen Gefährten übergeben. In dieser Stellung konnte Dantes seine Augen auf Marseille gerichtet halten.

»Den wievielten des Monats haben wir?« fragte Dantes Jacopo, der sich das Castell If aus dem Gesichte verlierend zu ihm gesetzt hatte.

»Den 28sten Februar,« antwortete dieser.

»Von welchem Jahre?« fragte abermals Dantes.

»Von welchem Jahre? Ihr fragt, von welchem Jahre?«

»Ja,« versetzte der junge Mann.

»Ihr habt das Jahr vergessen, in welchem wir uns befinden?«

»Was wollt Ihr,« sagte Dantes lachend, »ich habe diese Nacht eine solche Angst ausgestanden, daß ich darüber beinahe den Geist verlor, und mein Gedächtnis ist noch völlig gestört, ich frage Euch also den 28sten von welchem Jahre haben wir?«

»Vom Jahre 1829,« sagte Jacopo.

Es waren auf den Tag vierzehn Jahre, daß man Dantes verhaftet hatte. Mit neunzehn Jahren war er in das Castell If gekommen, und er verließ dasselbe mit drei und dreißig Jahren. Ein schmerzliches Lächeln zog über seine Lippen hin; er fragte sich, was aus Mercedes während dieser Zeit, wo sie ihn hatte für tot halten müssen, geworden wäre. Dann entzündete sich ein Blitz des Hasses in seinen Augen, indem er an die drei Menschen dachte, denen er eine so lange und grausame Gefangenschaft zu verdanken hatte, und er erneuerte gegen Danglars, Fernand und Villefort den Schwur unversöhnlicher Rache, den er in seinem Gefängnis ausgesprochen hatte; und sein Schwur war keine leere Drohung, denn zu dieser Stunde hätte der beste Schnellsegler des mittelländischen Meeres sicherlich die kleine Tartane nicht mehr einholen können, welche mit voller Kraft nach Livorno fuhr.

Der Graf von Monte Christo

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