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Erstes bis fünftes Bändchen
Sechzehntes Kapitel.
Ein gelehrter Italiener

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Dantes schloß diesen neuen, so lange und so ungeduldig erwarteten Freund in seine Arme, und zog ihn nach seinem Fenster, damit ihn das wenige Licht, welches in seinen Kerker drang, völlig beleuchtete.

Es war ein Mann von mittlerem Wuchse, mit Haaren. mehr durch Leiden, als durch das Alter gebleicht, mit einem unter dichtem grau werdenden Brauen verborgenen, durchdringenden Auge und einem noch schwarzen Barte, welcher auf seine Brust herabfiel. Die Magerkeit seines durch tiefe Runzeln ausgehöhlten Gesichtes, die kühne Linie seiner charakteristischen Züge verkündigten einen Mann, der mehr gewohnt war, seine moralischen Fähigkeiten, als seine körperlichen Kräfte zu üben. Die Stirne des Unbekannten war mit Schweiß bedeckt.

Was seine Kleidung betrifft, so ließ sich ihre ursprüngliche Form nicht unterscheiden, denn sie zerfiel in Lumpen.

Er schien wenigstens fünf und sechzig Jahre alt zu sein, obgleich eine gewisse Stärke in seinen Bewegungen andeutete, er zähle vielleicht weniger Jahre als seine lange Gefangenschaft seinem Äußeren verliehen hatte.

Er nahm mit einem gewissen Vergnügen die enthusiastischen Betheurungen des jungen Mannes auf. Seine vereiste Seele schien einen Augenblick bei der Berührung mit dieser glühenden Seele sich zu erwärmen und zu schmelzen. Er dankte ihm für seine Herzlichkeit mit einem gewissen Feuer, obgleich seine Enttäuschung groß gewesen war, als er einen zweiten Kerker da fand, wo er die Freiheit zu finden gehofft hatte.

»Wir wollen zuerst sehen,« sprach er, »ob wir ein Mittel haben, vor den Augen Ihrer Gefangenenwärter die Spuren meines Durchbruches verschwinden zu machen. Unsere ganze zukünftige Ruhe hängt davon ab, daß nicht bekannt wird. was vorgefallen ist.«

Dann bückte er sich nach der Öffnung, nahm den Stein, hob ihn trotz seines Gewichtes leicht auf und schob ihn in das Loch.

»Dieser Stein wurde auf eine sehr nachlässige Weise ausgebrochen,« sprach er den Kopf schüttelnd; »Sie haben also keine Werkzeuge?«

»Und Sie,« fragte Edmond erstaunt. »haben Sie?«

»Ich habe mir einige gemacht: außer einer Feile besitze ich Alles, was man braucht, Meißel, Beißzange, Hebel.«

»Oh, ich wäre sehr neugierig. diese Erzeugnisse Ihrer Geduld und Ihrer Geschicklichkeit zu sehen.« sprach Dantes.

»Sehen Sie, hier ist vor Allem ein Meißel.«

Und er zeigte ihm eine starke, scharfe Klinge, mit einem Hefte aus einem Stücke Buchenholz bestehend.

»Aus was haben Sie dies gemacht?«

»Aus einem von den Fischbändern meines Bettes. Mit diesem Werkzeug habe ich mir den ganzen Weg ausgehöhlt, der mich bis hierher führte, ungefähr fünfzig Fuß.«

»Fünfzig Fuß!« rief Dantes mit einer Art von Schrecken.

»Sprechen Sie leiser, junger Mann, sprechen Sie leiser; es geschieht oft, daß man an den Thüren der Gefangenen horcht.«

»Man weißt daß ich allein bin.«

»Gleichviel!«

»Und Sie sagen, Sie haben fünfzig Fuß durchhöhlt, um hierher zu gelangen?«

»Ja, dies ist ungefähr die Entfernung, welche mein Zimmer von dem Ihrigen trennt; nur habe ich in Ermangelung von geometrischen Instrumenten meine krumme Linie schlecht berechnet; statt vierzig Fuß Ellipse fanden sich fünfzig. Ich hoffte, wie ich Ihnen gesagt habe, bis zur äußeren Mauer zu gelangen, diese Mauer zu durchhöhlen und mich in das Meer zu werfen. Ich habe längs der Flur hin, an welche Ihr Zimmer stößt, gearbeitet, statt unter derselben durchzudringen. Meine ganze Arbeit ist verloren, denn diese Flur geht auf einen Hof, welcher voll von Wachen ist.«

»Das ist wahr,« sprach Dantes, »aber die Flur läuft nur an einer Seite meines Zimmers hin, und mein Zimmer hat vier.«

»Ja, richtig, aber hier ist vor Allem eine, deren Mauer der Felsen bildet. Es bedürfte einer zehnjährigen Arbeit von zehn mit allen ihren Werkzeugen versehenen Gräbern, um den Felsen zu durchdringen. Die andere muß sich an den Grund der Wohnung des Gouverneurs lehnen; wir würden in den Keller fallen, welcher offenbar mit dem Schlüssel verschlossen wird, und man wurde uns wieder gefangen nehmen. Die dritte Seite, warten Sie, wohin geht die dritte Seite?«

Diese Seite war diejenige, in der man das Luftloch angebracht hattet durch welches das Tageslicht eindrang. Dieses Luftloch, das sich immer mehr verengtet bis zu der Stelle, wo es dem Tageslichte Eingang gewährte, und wo ein Kind nicht hatte durchkommen können, war überdies mit drei Reihen von eisernen Stangen versehen, welche auch den argwöhnischsten Kerkermeister über die Furcht einer Entweichung beruhigen konnten.

Der Unbekannte aber zog, während er diese Frage machte, den Tisch unter das Fenster und sagte zu Dantes:

»Steigen Sie auf diesen Tisch.«

Dantes gehorchte, stieg auf den Tisch, lehnte, die Absicht seines Gefährten erratend, seinen Rücken an die Mauer und bot ihm seine zwei Hände.

Derjenige, welcher sich den Namen seines Zimmers gegeben hatte und Dantes noch nicht unter seinem wahren Namen bekannt war, stieg nun behender, als sein Alter vorhersehen ließ, und mit der Gewandheit der Katze oder der Eidechse zuerst auf den Tisch, dann auf die Hände von Dantes und von seinen Händen auf seine Schultern. Halb gebückt, denn das Gewölbe des Kerkers hinderte ihn, sich aufzurichten, streckte er den Kopf hiernach zwischen die erste Reihe der Stangen, und er konnte von da hinabschauen.

Einen Augenblick nachher zog er rasch den.Kopf zurück.

»Oh, oh!« sagte er. »ich hatte es vermutet.«

Und er ließ sich an dem Körper von Dantes auf den Tisch herabgleiten und sprang von da auf die Erde.

»Was hatten Sie vermutet?« fragte der junge Mann ängstlich, und sprang ebenfalls herab.

Der alte Gefangene überlegte.

»Ja,« sagte er. »so ist es, Die vierte Seite Ihres Kerkers geht auf die äußere Galerie, auf eine Art von Rundgang, über welchen die Patrouillen kommen und wo vier Schildwachen stehen.«

»Sind Sie dessen gewiss?«

»Ich habe den Tschako des Soldaten und das Ende seiner Flinte gesehen, und zog mich nur aus Furcht, er könnte mich wahrnehmen, so schnell zurück.«

»Nun?« sagte Dantes.

»Sie sehen. daß es unmöglich ist. durch Ihren Kerker zu entfliehen.«

»Hernach?« fuhr der junge Mann in seinem fragenden Tone fort.

»Hernach.« sprach der alte Gefangene; »es geschehe der Wille Gottes!«

Und ein Ausdruck tiefer Resignation verbreitete sich über die Gesichtszüge des Greises.

Dantes schaute diesen Mann, welcher mit so viel Philosophie auf eine seit langer Zeit genährte Hoffnung Verzicht leistete, mit einem mit Bewunderung gemischtem Erstaunen an.

»Wollen Sie mir nun sagen. wer Sie sind?« fragte Dantes.

»Oh! mein Gott, ja, wenn es Sie noch interessieren kann, jetzt, da ich zu nichts mehr für Sie gut bin.«

»Sie können mir dazu gut sein, daß Sie mich trösten und aufrecht erhalten, denn Sie scheinen mir ein Starker unter den Starken zu sein.«

Der Abbé lächelte traurig und sprach:

»Ich bin der Abbé Faria. Gefangener seit 1811, wie Sie wissen, im Castell If, war jedoch drei Jahre lang in der Festung Fenestrelle eingesperrt. Im Jahre 1808 brachte man mich von Piemont nach Frankreich. Damals erfuhr ich, daß das Schicksal, welches ihm zu jener Zeit unterthan zu sein schien, Napoleon einen Sohn gegeben hatte, und daß dieser Sohn in der Wiege zum König von Rom ernannt worden war. Ich war weit entfernt, zu vermuten, was Sie mir vorhin sagten, nämlich, daß vier Jahre später der Koloß eingestürzt wäre. Wer regiert denn in Frankreich? Napoleon II.?«

»Nein. Ludwig XVIII.«

»Ludwig XVIII. der Bruder Ludwig XIV. Die Beschlüsse des Himmels sind seltsam und geheimnisvoll. Was war die Absicht der Vorsehung, als sie den Mann erniedrigte, den sie erhoben hatte, und denjenigen erhob, den sie erniedrigt hatte?«

Dantes folgte mit den Augen diesem Manne, welcher einen Moment sein eigenes Schicksal vergaß, um sich mit dem Geschicke der Welt zu beschäftigen.

»Ja,« fuhr er fort, »es ist wie in England: nach Karl I. Cromwell, nach Cromwell Karl II. und vielleicht nach Jacob II. irgend ein Schwiegersohn, ein Verwandter, ein Prinz von Oranien, ein Stathouder, der sich zum König machen wird und dann neue Einräumungen für das Volk, dann eine Constiution, dann die Freiheit! Sie werden dies sehen, junger Mann,« sprach er, wandte sich gegen Dantes und schaute ihn mit glänzenden, tiefen Augen an, t wie sie die Propheten haben mußten. »Sie sind noch in einem Alter, um zu sehen, und werden es sehen.«

»Ja, wenn ich von hier wegkomme.«

»Ah! das ist richtig,« sprach der Abbé Faria, »wir sind Gefangene; es gibt Momente, wo ich es vergesse, und wo ich mich in Freiheit glaube, weil meine Augen die Wände durchdringen, die mich umschließen.«

»Aber warum sind Sie eingesperrt?«

»Ich? weil ich im Jahre1807, von dem Plane träumte, den Napoleon im Jahre 1811 verwirklichen wollte, weil ich, wie Macchiavell mitten unter diesen Fürstlein, welche aus Italien ein Nest tyrannischer, schwacher Königreiche machten, ein einziges und großes, compaktes und festes Reich wollte, weil ich meinen Cesare Borgia in einem einfältigen gekrönten Haupte zu finden glaubte, das sich den Anschein gabt als verstünde es mich, um mich besser erraten zu können. Es war der Plan von Alexander VI. und von Clemens VII.; er wird ewig scheitern, da sie diese Suche vergeblich unternommen haben und Napoleon dieselbe nicht zum Ende fuhren konnte; Italien ist offenbar verflucht.«

Und der Greis neigte sein Haupt.

Dantes begriff nicht, wie ein Mensch sein Leben für solche Interessen wagen konnte. War ihm Napoleon bekannt, weil er ihn gesehen und mit ihm gesprochen hatte, so wußte er dagegen allerdings nichts von Clemens VII. und Alexander VI.

»Sind Sie nicht,« sprach Dantes, der die Meinung seines Gefangenenwärters, welche die allgemeine im Castell If war, zu teilen anfing, »sind Sie nicht der Priester, den man für . . . krank hält?«

»Den man für verrückt hält, wollen Sie sagen, nicht wahr?«

»Ich wagte es nicht,« versetzte Dantes lächelnd.

»Ja, ja,« fuhr Faria mit einem bittern Lachen fort, »ja, ich gelte für einen Narren. Ich belustige seit geraumer Zeit die Gäste dieses Gefängnisses, und würde die kleinen Kinder belustigen, wenn es Kinder an diesem Wohnorte des trostlosen Schmerzes gäbe.«

Dantes blieb einen Augenblick unbeweglich und stumm vor Erstaunen.

»Sie leisten also Verzicht auf die Flucht?« fragte er.

»Ich sehe, daß die Flucht unmöglich ist. Das versuchen, was nach Gottes Willen nicht geschehen soll, hieße Gott versuchen.«

»Warum lassen Sie sich entmutigen? Mit dem ersten Schlage siegen zu wollen, wäre zu viel von der Vorsehung verlangt. Können Sie nicht in einer andern Richtung wieder anfangen, was Sie in dieser getan haben?«

»Wissen Sie, was ich getan habe, daß Sie von Wiederanfangen sprechen? Wissen sie daß ich vier Jahre brauchte, um die Werkzeuge zu verfertigen, welche ich besitze? wissen Sie, daß ich seit zwei Jahren eine Erde auskratze und aushöhle, die so hart ist wie Granit? Wissen Sie, daß ich Steine lösen mußte, welche ich früher nicht bewegen zu können glaubte, daß ganze Tage in dieser Titanenarbeit vergingen, und daß ich zuweilen am Abend glücklich war, wenn ich einen Quadratzoll von diesem alten Cement weggebrochen hatte, das so hart geworden war, wie der Stein selbst? Wissen Sie, daß ich um alle diese Erde und alle diese Steine unterzubringen, das Gewölbe einer Treppe durchbrechen mußte, unter welchem nach und nach alle diese Trümmer begraben wurden, so daß der früher leere Raum gänzlich voll ist, und daß ich nicht wußte, wohin ich nur noch eine Handvoll Staub legen sollte? Wissen Sie endlich, daß ich das Ziel aller meiner Arbeiten zu berühren glaubte, daß ich gerade nur die Kraft in mit fühlte, dieser Aufgabe zu entsprechen, und daß Gott dieses Ziel nicht nur zurück rückt, sondern es, ich weiß nicht wohin versetzte? Ah! ich wiederhole Ihnen, ich werde fortan nichts mehr versuchen, um meine Freiheit zu erringen, da sie nach dem Willen Gottes auf immer verloren sein soll.«

Edmond senkte den Kopf, um nicht diesem Manne zu gestehen, daß die Freude, einen Gefährten zu haben, ihn verhinderte, Mitleid mit dem Schmerze zu fühlen, den der Gefangene darüber empfand, daß er sich nicht hatte flüchten können.

Der Abbé Faria ließ sich auf das Bett von Edmond nieder, Edmond aber blieb stehen.

Der junge Mann hatte nie an die Flucht gedacht. Es gibt Dinge, welche so unmöglich erscheinen, daß man nicht einmal den Gedanken hat, sie zu versuchen, und daß man sie instinktartig vermeidet. Fünfzig Fuß unter der Erde graben, dieser Operation eine Arbeit von drei Jahren widmen, um, wenn sie gelingt, an einen senkrecht nach dem Meere laufenden Absturz zu gelangen: sich fünfzig, sechzig, hundert Fuß vielleicht hinabwerfen, um sich beim Fallen den Schädel auf irgend einem Felsen zu zerschmettern, wenn man nicht bereits von der Kugel der Schildwache getötet worden ist; entgeht man allen diesen Gefahren, schwimmend eine Meile zurücklegen müssen, das war zu viel, um nicht darauf Verzicht zu leisten, und wir haben gesehen, daß Dantes seine Resignation beinahe bis zum Tode trieb.

Jetzt aber, da der junge Mann einen Greis erblickte, der sich so mächtig an das Leben anklammerte und ihm ein Beispiel verzweiflungsvoller Entschlüsse gab, fing er an nachzudenken und seinen Mut zu messen. Ein Anderer hatte versucht, was zu tun ihm nicht einmal in den Sinn kam; ein Anderer, minder jung, minder stark, minder gewandt als er, hatte sich durch Geschicklichkeit und Geduld alle die Werkzeuge verschafft, deren er für seine unglaubliche Arbeit bedurfte, die nur eine schlecht getroffene Maßregel scheitern machen konnte; ein Anderer hatte alles dies getan, es war also Dantes nichts unmöglich: Faria hatte fünfzig Fuß durchgraben, er würde hundert durchgraben, Faria hatte in einem Alter von fünfzig Jahren drei Jahre zu seinem Werke verwendet, er war nur halb so alt als Faria und wurde sechs dazu verwenden. Faria, ein Abbé, ein Gelehrter, ein Mann der Kirche, hatte sich nicht vor dem Wagniß gefürchtet, schwimmend vom Castell If die Insel Daume, Ratonneau oder Lemaire zu erreichen; er, Edmond, der Seemann, der kühne Taucher, der so oft einen Korallenzweig auf dem Grunde des Meeres gesucht, sollte zögern, eine Meile schwimmend zurückzulegen? Wie viel bedurfte man, um eine Meile weit zu schwimmen? eine Stunde. War er nicht oft ganze Stunden im Meer geblieben, ohne am Ufer Fuß zu fassen! Nein, nein, Dantes bedurfte nur der Ermutigung durch ein Beispiel. Alles, was ein Anderer getan hat, oder hätte tun können, wird auch Dantes tun . . .

Der junge Mann überlegte einen Augenblick.

»Ich habe gefunden, was Sie suchten,« sagte er zu dem Greise.

Farin bebte.

»Sie?« sprach er, indem er den.Kopf mit einer Miene empor richtete, welche andeutetet daß, wenn Dantes die Wahrheit sprach, die Entmutigung seines Gefährten nicht von langer Dauer sein sollte; »lassen Sie hören, was haben Sie gefunden?«

»Die Flur, welche Sie durchgraben haben, um von Ihnen aus hierher zu kommen, läuft in derselben Richtung, wie die äußere Galerie, nicht wahr.«

»Ja.«

»Sie kann nur etwa fünfzehn Schritte davon entfernt sein.«

»Höchstens.«

Nun, wir graben gegen die Mitte der Flur einen Weg, welcher gleichsam den Zweig eines Kreuzes bildet; diesmal nehmen Sie Ihre Maßregeln besser. Wir münden nach der äußern Galerie aus. Wir töten die Wache und entfliehen. Damit dieser Plan gelinge, bedarf es nur des Mutes, und Mut haben Sie; es bedarf nur der Stärke, und daran fehlt es mir nicht. Ich spreche nicht von der Geduld, Sie haben Proben davon abgelegt, und ich werde die meinigen auch ablegen.«

»Einen Augenblick,« antwortete der Abbé, »Sie wußten nicht, mein lieber Gefährte, von welcher Art mein Mut ist, und wie ich meine Kraft anzuwenden gedenke. Was die Geduld betrifft, so glaube ich allerdings geduldig genug gewesen zu sein, indem ich jeden Morgen die Aufgabe der Nacht, und jede Nacht die Aufgabe des Tages wieder anfing. Aber hören Sie wohl, junger Mann, es kam mir vor, als diente ich Gott, indem ich eines von seinen Geschöpfen befreite, das, insofern es unschuldig war, nicht hatte verdammt werden können.«

»Nun?« fragte Dantes, »steht die Sache nicht auf demselben Punkte, und haben Sie sich als schuldig erkannt, seitdem Sie mich trafen?«

»Nein, aber ich will es nicht werden. Bis jetzt glaubte ich es nur mit den Dingen zu tun zu haben; bei denn was Sie mir vorschlagen, hatte ich es mit den Menschen zu tun. Ich habe eine Mauer durchbohrt und eine Treppe zerstört; aber ich werde nicht eine Brust durchbohren und ein Dasein zerstören.«

Dantes machte eine leichte Bewegung des Erstaunens.

»Wie,« sagte er. »da Sie frei werden können, lassen Sie sich durch eine solche Bedenklichkeit zurückhalten?«

»Warum haben Sie nicht selbst eines Abends Ihren Kerkermeister mit dem Fuße Ihres Tisches totgeschlagen und dann seine Kleider angezogen, und sind damit entflohen?« entgegnete Faria.

»Weil mir dieser Gedanken nicht gekommen ist.« sprach Dantes.

»Weil Sie einen so starken instinktmäßigen Abscheu vor einem solchen Verbrechen hatten, weil Sie einen solchen Abscheu hatten, daß Sie nicht einmal daran dachten.« versetzte der Greis; »denn bei einfachen und erlaubten Dingen belehrt uns unser natürliches Gelüste, daß wir nicht von der Linie unseres Rechtes abgehen. Der Tiger, der Blut in einem Naturtriebe vergießt, dessen Bestimmung dies gleichsam ist, bedarf nur eines Umstandes: sein Geruchsinn muß ihn belehren, daß er Beute in seinem Bereiche finden kann, sogleich springt er nach dieser Beute, fällt über sie her und zerfleischt sie. Es ist sein Instinkt und er gehorcht demselben. Der Mensch hat im Gegenteil einen Widerwillen gegen das Blut. Es sind nicht die gesellschaftlichen Gesetze, welche dem Morde widersprechen, es sind die natürlichen Gesetze.«

Dantes blieb ganz verblüfft, es war dies wirklich die Erklärung dessen, was, ohne daß er das Bewußtsein davon hatte, in feinem Geiste oder vielmehr in seinem Gemüthe vorgegangen war, denn es gibt Gedanken. welche vom.Kopfe kommen und andere, welche vom Herzen kommen.

»Und dann.« fuhr Faria fort. »seit den zwölf Jahren, welche ich im Gefängnisse bin, habe ich in meinem Innern alle berühmten Entweichungen durchgangen; gewaltsame Entweichungen sah ich aber nur selten gelingen. Die glücklichen Entweichungen, die mit einem gänzlichen Erfolge gekrönten Entweichungen sind die sorgfältig überdachten und langsam vorbereiteten. So entkam der Herzog von Beaufort aus dem Schlosse Vincennes, der Abbé Duhuquoi aus dem Fort l’Eveque und Latude aus der Bastille. Es gibt noch andere, welche der Zufall bieten kann, und diese sind die besten. Glauben Sie mir, wir wollen auf eine Gelegenheit warten, und wenn sich eine solche Gelegenheit bietet, sie benützen.«

»Sie konnten warten,« sprach Dantes seufzend. »diese lange Arbeit gab Ihnen jeden Augenblick Beschäftigung, und hatten Sie nicht Ihre Arbeit, um sich zu zerstreuen, so hatten Sie Ihre Hoffnung zum Troste.«

»Ich beschäftigte mich nicht allein mit diesem,« entgegnete der Abbé.

»Was thaten Sie sonst?«

»Ich schrieb oder studierte.«

»Man gab Ihnen also Papier, Feder und Tinte.«

»Nein,« sagte der Abbé. »aber ich mache mir.«

»Sie machen sich Papier, Federn und Tinte!« rief Dantes.

»Ja!«

Dantes schaute diesen Mann mit Bewunderung an; nur hatte er Mühe. an das zu glauben. was er ihm sagte, Farin bemerkte seinen leichten Zweifel.

»Wenn Sie zu mir kommen.« sprach er. »werde ich Ihnen ein vollständiges Werk zeigen, das Resultat von Gedanken, von Nachforschungen, und Betrachtungen meines ganzen Lebens, die ich im Schatten des Colisseum in Rom, am Flusse der Sanct-Marcus-Säule in Venedig, an den Ufern des Arno in Florenz angestellt habe, ohne daß ich vermutete, meine Kerkermeister würden mir einst die Muße lassen, meine Gedanken zwischen den vier Mauern des Castells If auszuführen. Es ist eine Abhandlung über die Möglichkeit einer allgemeinen Monarchie in Italien, und wird einen Band in Quart geben.«

»Und Sie haben dies bereits geschrieben?«

»Auf zwei Hemden. Ich habe eine Vorbereitung erfunden, welche das Weißzeug glatt und eben macht wie Pergament.«

»Sie sind also Chemiker?«

»Ein wenig. Ich habe Lavoisier kennen gelernt und stand mit Cabanis in Verbindung.«

»Doch zu einem solchen Werke mußten Sie geschichtliche Forschungen machen. Sie besaßen also Bücher?«

»In Rom hatte ich in meiner Bibliothek ungefähr fünftausend Bände. Dadurch, daß ich dieselben las und wieder las, entdeckte ich, daß man mit hundert und fünfzig gut ausgewählten Werken, wenn nicht den Gesamtinhalt aller menschlichen Kenntnisse, doch wenigstens das besitzt, was einem Menschen zu wissen frommt. Ich habe drei Jahre dazu verwendet, um diese hundert und fünfzig Bände zu lesen und wieder zu lesen, und wußte sie so beinahe auswendig, als man mich verhaftete. In meinem Gefängnis erinnerte ich mich derselben mit einer leichten Anstrengung des Gedächtnisses. Ich könnte Ihnen Thuchdides, Xenophon, Livius, Tacitus, Strada, Jornandes, Dante, Montaigne, Shakespeare, Spinoza, Macchiavell und Boffuet auswendig hersagen. Ich nenne Ihnen hier nur die wichtigsten.«

»Sie verstehen also mehrere Sprachen?«

»Ich spreche fünf lebende Sprachen: Deutsch. Französisch, Italtenisch, Englisch und Spanisch. Mit Hilfe des Altgriechischen verstehe ich das Neugriechische; ich spreche es nur schlecht, studiere es aber in diesem Augenblick.«

»Sie studieren es?« fragte Dantes.

»Ja, ich habe mir ein Vocabularium aus den Wörtern gemacht, die ich weiß, ja, habe sie geordnet, zusammengesetzt, gedreht und wieder umgedreht. so daß sie mir genügen, um meine Gedanken auszudrücken. Ich weiß ungefähr taufend Wörter; mehr brauche ich im Ganzen nicht, obgleich es, wie ich glaube, hunderttausend in den Wörterbüchern gibt. Nur werde ich nicht beredt sein; aber ich werde mich völlig verständlich zu machen wissen, und das ist hinreichend.«

Immer mehr erstaunt, fing Edmond an, die Fähigkeiten dieses seltsamen Mannes beinahe für übernatürlich zu halten. Er wollte in irgend einem Punkte einen Mangel bei ihm finden, und fuhr fort:

»Aber wenn man Ihnen keine Federn gegeben hat, womit konnten Sie eine so umfangreiche Abhandlung schreiben?«

»Ich habe mir vortreffliche gemach, man zöge sie den gewöhnlichen Federn vor, wenn man den Stoff kennen würde, Sie bestehen aus den Knorpeln der Köpfe der ungeheuren Merlane, die man uns an Fasttagen zu essen gibt. So sehe ich immer mit Vergnügen den Mittwochen, den Freitagen und den Samstagen entgegen, weil sie mir die Hoffnung geben, meinen Federnvorrath zu vermehren, denn meine geschichtlichen Arbeitern ich muß es gestehen, sind meine süßeste Beschäftigung. Wenn ich in die Vergangenheit hinabsteige, vergesse ich die Gegenwart, schreite ich frei und unabhängig in der Geschichte umher, so erinnere ich mich nicht mehr, daß ich ein Gefangener bin.«

»Aber die Tinte?« sprach Edmond, »womit haben Sie sich Tinte gemacht?«

»Früher war ein Kamin in meinem Gefängnisse,« sagte Faria, »dieser Kamin wurde ohne Zweifel einige Zeit vor meiner Ankunft verstopft, aber man hatte wohl viele Jahre lang Feuer darin gemacht, und so ist das ganze Innere mit Ruß bedeckt. Ich löse diesen Ruß mit einer Portion Wein auf, den man mir jeden Sonntag gibt, und das liefert mir vortreffliche Tinte. Für besondere Noten, welche die Augen auf sich ziehen sollen, steche ich mir die Finger auf und schreibe mit meinem Blut.«

»Und wann kann ich alles Dies sehen?« fragte Dantes.

»Wann Sie wollen,« antwortete Faria.

»Oh, sogleich!« rief der junge Mann.

»Folgen Sie mir also, sagte der Abbé. und kehrte in den unterirdischen Gang zurück, wo er verschwand. Dantes folgte ihm.

Der Graf von Monte Christo

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