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Erstes bis fünftes Bändchen
Fünfzehntes Kapitel.
Die Nummer 34 und die Nummer 27

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Dantes durchlief alle Stufen des Unglücks, welchen sich die in einem Kerker der Vergessenheit überantworteten Gefangenen zu unterziehen haben.

Er fing mit dem Stolze an, der eine Folge der Hoffnung und eines unschuldigen Gewissens ist. Dann kam er dazu, daß er an seiner Unschuld zweifelte, was die Ansichten des Gouverneur über eine Geistestörung einigermaßen rechtfertigte. Er fiel aber von der Höhe seines Stolzes herab, er flehte noch nicht zu Gott, sondern zu den Menschen, denn Gott ist die rechte Hilfsquelle. Der Unglückliche, der mit dem Herrn anfangen sollte, gelangt erst dazu, auf ihn zu hoffen, wenn er alle andern Hoffnungen erschöpft hat.

Dantes flehte also, man möchte ihn aus seinem Kerker ziehen, um ihn in einen andern zu bringen, und wäre er auch finsterer und tiefer. Eine Veränderung, und wenn auch eine unvorteilhafte, war doch immer eine Veränderung, und verschaffte Dantes wenigstens eine Zerstreuung von ein paar Tagen. Er bat, man möchte ihm den Spaziergang die Luft, Bücher, Instrumente bewilligen. Nichts von Allem wurde ihm bewilligt; aber gleichviel, er flehte immer. Er hatte sich daran gewöhnt mit seinem neuen Gefangenenwärter zu sprechen, obgleich dieser wo möglich noch stummer war, als der vorhergehende; aber mit einem Menschen sprechen, sogar mit einem stummen, war noch ein Vergnügen. Dantes sprach, um den Ton seiner eigenen Stimme zu hören. Er hatte es versucht, zu sprechen, wenn er allein war, aber dann machte er sich selbst bange.

In den Tagen seiner Freiheit hatte sich Dantes ein Schreckbild aus den Kameradschaften von Gefangenen, bestehend aus Landstreichern, Banditen und Mördern, gemacht, die sich in gemeiner Freude an unbegreiflichen Orgien ergötzen und furchtbare Freundschaften schließen. Jetzt kam er dazu, daß er in eine von diesen Höhlen versetzt zu werden wünschte, um andere Gesichter zu sehen, als das seines Gefangenenwärters, welcher nicht sprechen wollte. Er sehnte sich gleichsam nach dem Bagno mit seiner entehrenden Tracht, mit der Kette am Fuß und mit der Brandmarkung auf der Schulter. Die Galeerensklaven waren doch wenigstens in der Gesellschaft von ihres Gleichen, sie atmeten die Luft, sie sahen den Himmel, die Galeerensklaven waren sehr glücklich.

Er bat eines Tages den Kerkermeister, er möge einen Gefährten für ihn begehren, und wäre dieser Gefährte auch der verrückte Abbé, von dem er hatte sprechen hören. Unter der Rinde eines Kerkermeisters, so roh er auch sein mag, bleibt doch immer noch etwas von einem Menschen, dieser hatte oft im Grund seines Herzens, und obgleich sein Gesicht nichts davon sagte, den unglücklichen jungen Menschen beklagt, für den die Gefangenschaft so hart war. Er überbrachte die Bitte von Nummer 34 dem Gouverneur; aber klug, als wäre ein Politiker gewesen, bildete sich dieser ein, Dantes wolle die Gefangenen aufwiegeln, irgend ein Komplott anzetteln sich der Unterstützung eines Freundes bei einem Entweichungsversuche bedienen, und schlug ihm seine Bitte ab.

Dantes hatte den Kreis menschlicher Hilfsmittel erschöpft und kehrte, wie dies, kommen mußte, zu Gott zurück. Alle fromme, in der Welt zerstreute Gedanken, welche die unter dem Geschicke gebeugten Unglücklichen zusammenlesen, erfrischten nun seinen Geist, Er erinnerte sich der Gebete, die ihn seine Mutter gelehrt hatte, und fand in denselben einen ihm früher unbekannten Sinn; denn für den glücklichen Menschen bleibt das Gebet eine eintönige, leere Zusammenfassung, bis zu dem Tage wo der Schmerz dem Unglücklichen die erhabene Sprache erläutert, mit deren Hilfe er zu Gott spricht.

Er betete also, nicht mit Inbrunst, sondern mit Wut. Während er laut betete, erschrak er nicht mehr über seine Worte, sondern er gerieth in eine Extase; er sah Gott bei jedem Worte erscheinen, das er aussprach. Alle Handlungen seines bescheidenen Lebens bezog er auf den Willen dieses mächtigen Gottes, entnahm sich Lehren daraus und stellte sich Aufgaben, die er erfüllen wollte, und am Ende jedes Gebetes schlich sich der eigennützige Wunsch ein, den die Menschen viel öfter an ihre Mitmenschen, als an Gott zu richten Gelegenheit haben: Und vergib uns unsere Schuld wie wir vergeben unsern Schuldnern!

Trotz seiner heißen Gebete blieb Dantes gefangen.

Sein Geist wurde nun düster. Die Wolke vor seinen Augen, wurde immer schwerer. Dantes war ein einfacher Mensch ohne Erziehung. Die Vergangenheit war für ihn mit dem dunkeln Schleier bedeckt geblieben, welchen die Wissenschaft lüftet. In der Einsamkeit seines Kerkers, in der Wüste seines Geistes war er nicht im Stande, abgelaufene Jahrhunderte wieder zusammenzufügen, erloschene Völker wiederzubeleben, alte Städte wieder aufzubauen, welche die Einbildungskraft vergrößert und in ein dichterisches Gewand kleidet, welche riesenhaft und von dem Feuer des Himmels erleuchtet, wie die babylonischen Gemälde von Martin, vorüberziehen. Er hatte nichts, als seine so kurze Vergangenheit, seine so düstere Gegenwart, seine so zweifelhafte Zukunft: neunzehn Jahre Licht, um vielleicht in einer einzigen Nacht darüber nachzudenken. Keine Zerstreuung vermochte ihm zu Hilfe zu kommen: sein energischer Geist, der wohl nur zu gern durch Zeitalter hingeflogen wäre, war genötigt wie ein Adler in seinem.Käfig gefangen zu bleiben. Er klammerte sich dann an einen einzigen Gedanken, an den seines, ohne eine scheinbare Ursache und durch ein unerhörtes Mißgeschick zerstörten Glückes an. Er ergriff mit aller Leidenschaft diesen Gedanken, drehte ihn auf alle Seiten, und zerbiß ihn gleichsam mit gierigen Zähnen, wie in der Hölle von Dante der unbarmherzige Ugolin den Schädel des Erzbischof Robert zermalmt.

Die Wut folgte auf sein ascetisches Dasein. Edmond schleuderte Gotteslästerungen von sich, bei denen der Kerkermeister vor Abscheu zurückwich. Er raste mit seinem Leibe gegen die Mauern des Gefängnisses, er griff in voller Wut nach Allem, was ihn umgab, und besonders nach sich selbst bei dem geringsten Ärger, den ein Sandkorn, ein Strohhalm, ein Windhauch bei ihm erregte. Dann erinnerte er sich des denunzierenden Briefes, den er gesehen, den ihm Villefort gezeigt, den er berührt hatte, und jeder Buchstabe kam wie ein leckendes Feuer aus der Mauer hervor. Er sagte sich, es wäre der Haß der Menschen, und nicht die Rache Gottes, die ihn in diesen Abgrund gestürzt. Er übergab diese unbekannten Menschen allen Strafen, die seine glühende Einbildungskraft zu ersinnen vermochte, und fand, daß die furchtbarsten noch zu sanft und besonders zu kurz für sie waren; denn nach den Strafen kam der Tod, und der Tod warf wenn nicht die Ruhe, doch wenigstens die Unempfindlichkeit, welche ihr gleicht.

Dadurch, daß er sich in Beziehung auf seine Feinde immer wieder sagte, die Ruhe wäre im Tode, und derjenige, welcher grausam bestrafen wolle, bedürfe anderer Mittel, als des Todes, verfiel er in die Starrheit der Selbstmordgedanken. Wehe dem, welcher auf dem Abhange des Unglücks bei diesen unseligen Gedanken stille steht! Es ist eines von den toten Meeren, welche sich ausbreiten wie der Azur der reinen Wellen, in denen aber der Schwimmer seine Füße immer mehr in einem harzigen Gefäße festkleben fühlt, das ihn allmälig hinabzieht und verschlingt. Einmal auf diese Weise gefaßt, ist, wenn die göttliche Hilfe sich seiner nicht erbarmt, Alles vorbei, und jeder Versuch, den er unternimmt, reißt ihn nur noch mehr in die Arme des Todes.

Dieser Zustand des moralischen Todeskampfes ist indessen minder furchtbar, als das Leiden, das ihm vorhergegangen ist, und als die Strafe, die ihm vielleicht folgen wird. Es ist eine Art von schwindelartigem Troste, der uns den gähnenden Schlund, in der Tiefe dieses Schlundes aber das Nichts zeigt. Bis dahin gelangt, fand Edmond eine Tröstung in diesem Gedanken. Alle seine Schmerzen, alle seine Leiden, das Gefolge von Gespenstern, welche sie nach sich zogen, schienen aus der Ecke des Gefängnisses zu entfliehen, wohin der Engel des Todes seinen schweigsamen Fuß zu setzen vermochte. Dantes betrachtete mit Ruhe sein vergangenes Leben, mit Schrecken sein zukünftiges Leben, und wählte diesen mittleren Punkt, der ihm eine Zufluchtsstätte zu sein schien.

Zuweilen sagte er dann zu sich selbst: auf meinen entfernten Reisen, als ich noch ein Mensch war, und dieser Mensch frei und mächtig anderen Menschen Befehle zuschleuderte, welche ausgeführt wurden, sah ich den Himmel sich öffnen, das Meer leben und murren, den Sturm in einem Winkel des Himmels entstehen und wie ein riesiger Adler die zwei Horizonte mit seinen zwei Flügeln schlagen; dann fühlte ich, daß mein Schiff nur eine ohnmächtige Zufluchtsstätte war, denn mein Schiff, leicht wie eine Feder in der Hand eines Riesen, zitterte und bebte selbst. Bald stürzten bei dem Geräusche eines brausenden Windstoßes Wasserberge über mein Haupt, das furchtbare Tosen der Wellen, der Anblick der schneidenden Felsen verkündigten mir den Tod, und der Tod erschreckte mich, und ich strengte alle meine Kräfte an, um ihm zu entgehen, und ich raffte die ganze Stärke des Menschen und den ganzen Verstand des Seemannes zusammen, um mit Gott zu kämpfen!« . . . Es geschah dies, weil ich damals glücklich war, weil zum Leben zurückkehren zum Glücke zurückkehren hieß, weil ich diesen Tod nicht gerufen, nicht gewählt hatte, weil mir der Schlaf hart schien auf diesem Bette von Meergras und Kieselsteinen, weil ich darüber entrüstet war, ich, der ich mich für ein Geschöpf nach dem Bilde Gottes hielt, daß ich nach meinem Tode den Gölanden und Geiern zum Futter dienen sollte. Aber heute ist es etwas Anderes; ich habe Alles verloren, was mich das Leben lieben lassen konnte. Heute lächelt mir der Tod zu, wie eine Amme dem Kinde, das sie wiegt. Heute sterbe ich nach meinem Wohlgefallen, und ich entschlummere müde und gelähmt, wie ich nach einem von jenen Abenden der Verzweiflung und Wut entschlummerte, während deren ich dreitausend Gänge in meinem.Zimmer, das heißt dreißigtausend Schritte, das heißt beinahe Zehn Stunden Wegs gezählt hatte.«

Sobald dieser Gedanke in dem Geiste des jungen Mannes gekeimt hatte, wurde er sanfter, freundlicher, er fügte sich besser in sein hartes Bett und in sein schwarzes Brot, aß weniger, schlief nicht mehr, und fand diesen Reit des Daseins, den er, wann er wollte, von sich zu werfen sicher war, wie man ein abgetragenes Kleid von, sich wirft, beinahe erträglich.

Es gab zwei Mittel. zu sterben: das eine war einfach; er durfte nur sein Sacktuch an eine Fensterstange binden und sich hängen; das andere bestand darin. Daß er sich stellte, als äße er und sich Hungers sterben ließ. Das erste widerstrebte Dantes. Er war im Abscheu von den Seeräubern aufgezogen worden, vor diesen Menschen, welche man an den Raaen aufhängt; das Hängen war für ihn eine Art von entehrender Strafe, die er nicht an sich selbst vollziehen wollte. Er wählte also das zweite Mittel und begann die Ausführung noch an demselben Tage.

Es waren beinahe vier Jahre in den von uns erzählten Alternativen hingegangen. Am Ende des zweiten hatte Dantes die Tage zu zählen aufgehört und war wieder in die Unwissenheit der Zeit verfallen, der ihn einst der Inspector entzog.

Dantes hatte gesagt: Ich will sterben, und hatte sich sodann seine Todesart gewählt; er hatte sie wohl in das Auge gefaßt, und aus Furcht, er könnte von seinem Entschlusse abgehen, sich selbst einen Eid geleistet, so zu sterben. »Wenn man mir mein Frühstück und mein Abendbrot bringt, so werfe ich die Speisen zum Fenster hinaus, und man wird glauben, ich habe sie verzehrt.«

Er that, wie er zu tun sich gelobt hatte. Zweimal des Tages warf er durch die kleine vergitterte Öffnung die ihn nur den Himmel erschauen ließ, die Streifen, Anfangs heiter, dann mit Überlegung, und endlich mit Bedauern. Er mußte sich des Schwures erinnern, den er sich geleistet hatte, um die Kraft zu besitzen, seinen furchtbaren Plan zu verfolgen. Die Lebensmittel, welche ihn einst angewidert hatten, ließ ihm der Hunger mit den spitzigen Zähnen appetitlich für das Auge und ausgesucht für den Geruch erscheinen. Zuweilen hielt er eine Stunde lang die Platte, auf der sie lagen, in der Hand, das Auge starr auf ein Stück faules Fleisch, auf den übelriechenden Fisch und auf das schwarze schimmelige Brot gerichtet. Es waren dies die letzten Instinkte des Lebens, welche noch in ihm kämpften und zuweilen seinen Entschluß niederwarfen. Dann erschien ihm sein Kette nicht mehr so düster und sein Zustand minder verzweiflungsvoll. Er war noch jung, er mußte erst fünf oder sechs und zwanzig Jahre alt sein, es blieben ihm noch fünfzig Jahre zu leben übrig, das heißt, zwei Mal so viel, als er bereits gelebt hatte. Welche Ereignisse konnten während diesen unermeßlichen Zeitraumes die Thüren sprengen, die Mauern des Castells If umstürzen und ihn der Freiheit wiedergeben. Dann näherte er seine Zähne dem Mahle, das er, ein freiwilliger Tantalus, selbst von seinem Munde entfernte. Doch er erinnerte sich seines Schwures wieder, und diese edelmütige Natur hatte zu sehr bange, sich selbst zu verachten, als daß sie ihren Schwur verletzt hätte. Er verbrauchte also streng und unbarmherzig das wenige Leben, das ihm noch übrig blieb, und es erschien ein Tag, wo er nicht mehr die Kraft hatte, aufzustehen, um das Abendbrot, das man ihm brachte, durch das Luftloch zu werfen.

Am andern Tag sah er nicht mehr, hörte er kaum.

Der.Kerkermeister glaubte an eine ernste Krankheit, Edmond hoffte auf einen nahen Tod.

So verlief der Tag, Edmond fühlte, daß eine unbestimmte Erstarrung, der es nicht an einem gewissen Wohlbehagen mangelte, sich seiner bemächtigte. Die Nervenzuckungen seines Magens hatten sich gemildert. Wenn er die Augen schloß, sah er eine Menge von glänzenden Punkten, den Irrlichtern ähnlich, welche in der Nacht über den sumpfigen Boden hinlaufen. Es war die Dämmerung des unbekannten Landes, das man den Tod nennt.

Plötzlich vernahm er Abends um neun Uhr ein dumpfes Geräusche an der Wand, an der er lag.

E. hatten so viele abscheuliche Tiere in diesem Gefängnisse Lärmen gemacht, daß Edmond allmälig seinen Schlaf daran gewöhntet sich nicht mehr durch solche Kleinigkeiten stören zu lassen. Aber mögen nun seine Sinne durch die Enthaltsamkeit exaltiert gewesen sein, war der Lärm wirklich stärker als gewöhnlich, erhielt in diesem letzten Augenblick Alles ein besonderes Gewicht – Edmond erhob sich, um besser zu hören.

Es war ein Kratzen, das eine ungeheure Kralle, oder einen mächtigen Zahn, oder den Druck irgend eines Werkzeuges auf die Steine anzuzeigen schien.

Obgleich geschwächt, wurde das Gehirn des jungen Mannes durch den beständig dem Geiste der Gefangenen gegenwärtigen Gedanken, durch den Gedanken an die Freiheit berührt. Dieses Geräusch kam so gerade in dem Augenblick, wo alles Geräusch bei ihm aufhören sollte, da es ihm schien, als wollte sich Gott endlich barmherzig gegen seine Leiden zeigen und ihm dieses Geräusch zuschicken, um ihm zu verkündigen, er solle am Rande des Grabes, an welchem bereits sein Fuß wankte, stille stehen. Wer konnte wissen, ob nicht einer von feinen Freunden, eines von den geliebten Wesen, an die er so oft gedacht hatte. daß sein Geist beinahe völlig dadurch abgenutzt worden war, sich in diesem Augenblicke mit ihm beschäftigte und die Entfernung. die sie von einander trennte, nahe zu rücken suchte?

Aber nein. Edmond täuschte sich ohne Zweifel, und es war einer von den Träumen, welche an der Pforte des Todes schweben.

Edmond hörte jedoch immer noch dieses Geräusch. Es dauerte ungefähr drei Stunden; dann vernahm Edmond eine Art von Rollen, und das Geräusch hörte auf.

Einige Stunden später hörte er es wieder näher und stärker.

Bereits nahm Edmond Anteil an dieser Arbeit, welche ihm Gesellschaft leistete; plötzlich trat der Gefangenenwärter ein.

Seit den acht Tagen, da er zu sterben sich entschlossen hatte, seit den vier Tagen, in denen er diesen Entschluß ausführte, hatte Edmond mit diesem Menschen kein Wort gesprochen. Er antwortete ihm nicht, wenn er ihn anredete und fragte, von welcher Krankheit er befallen zu sein glaubte, und wandte sich nach der Mauer um, wenn er zu aufmerksam betrachtet wurde. Aber heute konnte der Gefangenenwärter das dumpfe Geräusch vernehmen, sich darüber beunruhigen, demselben ein Ende machen und auf diese Art irgend eine Hoffnung zerstören, die schon im Gedanken die letzten Augenblicke von Dantes bezauberte.

Der Gefangenenwärter brachte sein Frühstück.

Dantes erhob sich in seinem Bette und begann, seine Stimme anschwellend, über alle möglichen Gegenstände zu sprechen, über die schlechte Beschaffenheit der Speisen, die man ihm brachte, über die Kälte, an der man in seinem.Kerker litt; er murrte und brummte und ermüdete die Geduld des Gefangenenwärters, der gerade an diesem Tage sich für den Gefangenen Fleischbrühe und weißes Brot erbeten hatte, und ihm diese Fleischbrühe und dieses Brot überbrachte.

Zum Glück glaubte er, Dantes delirire; er stellte die Speisen auf den schlechten, hinkenden Tisch, auf welchem sie gewöhnlich standen, und entfernte sich.

Nun wieder frei, fing Edmond abermals an, freudig zu horchen.

Das Geräusch wurde so deutlich, daß es der junge Mann jetzt ohne die geringste Anstrengung hören konnte.

»Es unterliegt keinem Zweifel mehr,« sagte er zu sich selbst: »da dieses Geräusch, obgleich es bereits Tag ist, fortdauert, so muß es ein unglücklicher Gefangener wie ich sein, der an feiner Befreiung arbeitet. Oh! wenn ich bei ihm wäre, wie wollte ich ihn unterstützen!«

Dann überzog plötzlich eine düstere Wolke, die Morgenröthe von Hoffnung in diesem Gehirne, das an das Unglück gewöhnt war und sich nur schwer in menschliche Freuden schicken konnte. Es entstand in ihm der Gedanke, dieses Geräusch werde durch einige Arbeiter verursacht, welche der Gouverneur zur Ausbesserung in einem benachbarten Zimmer verwende.

Er konnte sich leicht hiervon überzeugen; aber wie sollte er eine Frage wagen? Es war allerdings ganz einfach, die Erscheinung des Kerkermeisters abzuwarten, ihn das Geräusch hören zu lassen und seine Miene zu beobachten, wenn er es hörte. Aber hieß eine solche Befriedigung nicht die kostbarsten Interessen für einen kurzen Genuß verraten? Leider war der Kopf von Edmond eine leere Glocke, durch das Gesumme eines Gedankens betäubt; er war so schwach, daß sein Geist wie ein Dunst umherschwamm und sich nicht um einen Gedanken her verdichten konnte. Edmond fand nur ein Mittel seiner Überlegung Genauigkeit und seinem Urteil Klarheit zu geben: er wandte seine Augen nach der noch rauchenden Fleischbrühe, welche der Gefangenenwärter auf den Tisch gestellt hatte, stand auf, ging wankend bis zu derselben, nahm die Tasse, setzte sie an den Mund und schlürfte den Trank, den sie enthielt, mit einem unbeschreiblichen Gefühle des Wohlbehagens.

Dann hatte er den Mut. hierbei zu bleiben: er erinnerte sich, gehört zu haben, daß unglückliche Schiffbrüchige. welche man vor Hunger entkräftet gefunden hatte, daran gestorben waren, daß sie heißgierig eine zu substantielle Speise verschlangen. Edmond setzte das Brot auf den Tisch, das er bereits im Bereich seines Mundes hielt, und legte sich wieder nieder. Bald fühlte er, daß der Tag in sein Gehirn zurückkehrte. Alle seine schwankenden, beinahe unergreifbaren Ideen nahmen wieder ihren Platz auf dem wunderbaren Schachbrette ein, wo ein Feld mehr vielleicht genügt, um die Erhabenheit des Menschen über dem Tiere festzustellen. Er konnte denken und seine Gedanken mit der Vernunft befestigen.

Dann sagte er zu sich selbst:

»Man muß die Probe machen, aber ohne Jemand zu gefährden. Ist derjenige, dessen Geräusch ich vernehme, ein gewöhnlicher Arbeiter, so brauche ich nur an die Mauer zu schlagen, und er wird sogleich sein Geschäft einstellen und zu erraten suchen, wer der Schlagende ist und in welcher Absicht er schlägt. Da aber seine Arbeit nicht nur erlaubt, sondern sogar befohlen ist, so wird er sie alsbald wieder fortsetzen, ist er im Gegenteil ein Gefangener, so wird ihn der Lärmen, den ich mache, im Gegenteil erschrecken. Er wird befürchten, entdeckt zu werden, seine Arbeit aufgeben und erst am Abend, wenn er Jedermann eingeschlafen glaubt, von Neuem beginnen.«

Sogleich erhob sich Edmond zum zweiten Male. Dies Mal wankten seine Beine nicht mehr, und seine Augen waren nicht mehr geblendet. Er ging in eine Ecke seines Gefängnisses, machte einen durch die Feuchtigkeit unterhöhlten Stein los und schlug gerade an der Stelle, wo das Geräusch am Deutlichsten war, an die Mauer.

Er klopfte drei Mal.

Schon bei dem ersten Schlage hörte des Geräusch wie durch einen Zauber auf.

Edmond horchte mit seiner ganzen Seele. Eine Stunde verging, zwei Stunden vergingen, kein neues Geräusch ließ sich vernehmen. Edmond hatte auf der andern Seite der Wand ein vollkommenes Stillschweigen bewirkt.

Voll Hoffnung aß Edmond einige Bissen von seinem Brot, trank ein paar Schlucke Wasser, und bei der mächtigen Körperbeschaffenheit, mit der ihn die Natur begabt hatte, befand er sich beinahe wieder wie zuvor.

Der Tag verging, die Stille dauerte fort. Die Nacht kaum ohne daß das Geräusch wieder begonnen hatte.

»Es ist ein Gefangener,« sagte Edmond mit unbeschreiblicher Freude zu sich selbst.

Von dieser Zeit an entzündete sich sein Kopf, und das Leben kehrte mit voller Thätigkeit zurück.

Die Nacht ging vorüber, ohne daß sich der geringste Lärmen vernehmen ließ.

Edmond schloß die Augen in dieser Nacht nicht.

Der Tag erschien. Der Gefangenenwärter kam und brachte die gewöhnlichen Mundvorräthe. Edmond hatte die vorhergehenden bereits verschlungen; er verschlang auch die neuen, horchte unabläßig auf das Geräusch das nicht wieder kam, zitterte, es könnte für immer aufgehört haben, machte fünf bis sechs Meilen in seinem Kerker, rüttelte zwei Stunden lang an den eisernen Stangen seines Luftloches, gab seinen Gliedern durch eine Übung, welcher er längst entwöhnt war, die Elasticität und Stärke wieder, und schickte sich am Leib an Leib mit seinem Schicksale zu kämpfen, wie es seine Arme ausstreckend und seinen Körper mit Öl bestreichend der Ringer that, der die Arena betreten will. In den Zwischenräumen dieser fieberhaften Thätigkeit horchte er, ob das Geräusch nicht wiederkehrte, und er ärgerte sich über die Klugheit des Gefangenen, der nicht vermutete, daß er in seinem Befreiungswerke von einem anderen Gefangenen gestört worden war, welcher wenigstens eben so große Eile hatte, frei zu werden, als er selbst.

Es vergingen drei Tage, zwei und siebzig tödliche Stunden, Minute für Minute abgezählt.

Endlich eines Abends, als der Gefangenenwärter seinen letzten Besuch gemacht hatte, als Dantes zum hundertsten Male sein Ohr an die Wand hielt, schien es ihm, als ob eine unmerkliche Erschütterung dumpf in seinem Kopfe, den er mit den schweigenden Steinen in Verbindung gesetzt hatte, wiederklänge.

Dantes wich zurück, um sein erschüttertes Gehirn zu beschwichtigen. Er machte einige Schritte im Zimmer und hielt dann sein Ohr an denselben Ort.

Es unterlag keinem Zweifel mehr, es ging etwas auf der anderen Seite vor. Der Gefangene hatte die Gefahr seines Manoeuvre erkannt und ohne Zweifel ein anderes erwählt und, um seine Arbeit sicherer fortzusetzen, statt eines Meißels ein Hebeeisen genommen.

Durch diese Entdeckung ermutigt, beschloß Edmond dem unermüdlichen Arbeiter zu Hilfe zu kommen. Er fing damit an, daß er sein Bett wegrückte, hinter welchem ihm das Befreiungswerk ausgeführt zu werden schien; dann suchte er mit den Augen einen Gegenstand, mit dem er die Wand aufritzen, den feuchten Mörtel herausbrechen und einen Stein losmachen könnte.

Nichts zeigte sich seinem Auge. Er besaß weder ein Messer, noch irgend ein anderes schneidendes Instrument. Eisen war nur an seinen Stangen vorhanden, und er hatte sich so oft versichert, sie wären gut eingelöthet, daß es sich nicht einmal mehr der Mühe lohnte, sie zu erschüttern.

Das ganze Geräthe seines Zimmers bestand aus einem Bette, einem Stuhle, einem Tische, einem Eimer und einem Kruge.

An dem Bette waren wohl eiserne Bänder, aber diese Bänder waren durch Schrauben an das Holz befestigt. Man hätte einen Schraubenzieher haben müssen, um die Bänder loszumachen.

An dem Tische und an dem Stuhle war nichts.

An dem Eimer war wohl ein Henkel gewesen, aber diesen hatte man abgebrochen.

Es gab für Dantes nur noch ein Mittel; seinen Krug zu zerbrechen und mit einem Scherben sich an das Geschäft zu machen.

Er ließ seinen.Krug auf den Boden fallen, und er zerbrach in Stücke.

Dantes wählte einige spitzige Scherben, verbarg sie in seinem Strohsack und ließ die andern auf der Erde liegen. Das Zerbrechen feines Kruges war ein zu natürlicher Zufall, als daß man sich hätte darüber beunruhigen sollen.«

Edmond hatte die ganze Nacht zum Arbeiten; doch in der Dunkelheit ging das Geschäft schlecht, denn er mußte tastend arbeiten, und er fühlte bald, daß er sein schwaches Werkzeug an einem Sandsteine abstumpfte, welcher härter war, als das Instrument. Er stieß also sein Bett wieder zurück und wartete den Tag ab. Mit der Hoffnung war auch die Geduld zurückgekehrt.

Die ganze Nacht hindurch hörte und horchte er auf den unbekannten Gräber, der sein unterirdisches Werk fortsetzte.

Der Tag erschien, und der Gefangenenwärter trat ein. Dantes erzählte ihm, er habe am Abend zuvor aus dem Kruge getrunken; er sei seinen Händen entschlüpft, auf den Boden gefallen und zerbrochen. Der Gefangenenwärter ging brummend weg, um einen neuen zu holen, ohne daß er sich nur die Mühe gab, die Stücke des alten zusammenzulesen und mitzunehmen.

Er kam einen Augenblick nachher zurück, empfahl dem Gefangenen mehr Geschicklichkeit, und entfernte sich weder.

Dantes hörte mit unsäglicher Freude das Klirren des Schlosses, das ihm, so oft es sich früher schloß das Herz zusammenschnürte. Er vernahm, wie die Schritte sich nach und nach entfernten. Sobald das Geräusch völlig erloschen war, sprang er nach seinem Lager, welches er von seiner Stelle rückte, und bei dem Scheine des schwachen Tageslichtes, das in seinen Kerker drang, konnte er die unnütze Arbeit sehen, die er in der Nacht vorher gemacht hatte; denn er hatte sich an den.Körper des Steines gewendet, statt an den Gyps, der denselben umgab.

Dieser Gyps war durch die Feuchtigkeit zerreibbar geworden. Dantes sah mit freudigem Herzklopfen, daß er sich in Bruchstücken ablöste. Diese Bruchstücke waren allerdings Atome, aber nach Verlauf einer halben Stunde hatte er ungefähr eine Handvoll losgemacht. Ein Mathematiker hätte berechnen können, daß man mittelst zweijähriger Arbeit, vorausgesetzt, man wurde nicht auf einen Felsen stoßen, sich einen Gang von zwei Quadratfuß und von zwanzig Fuß Tiefe zu graben im Stande gewesen wäre.

Der, Gefangene machte es sich nun zum Vorwurf, daß er die vielen abgelaufenen, immer länger gewordenen Stunden, die er in der Hoffnung, im Gebete und in der Verzweiflung verloren, nicht zu dieser Arbeit verwendet hatte.

In den sechs Jahren, die er ungefähr in diesem Kerker eingeschlossen war . . . welche Arbeit hätte er nicht, so langsam sie auch vor sich ging, vollendet!

Dieser Gedanke verlieh ihm neuen Eifer.

In drei Tagen gelang es ihm, mit unerhörter Vorsicht alles Cement wegzubringen und den Stein nackt zu legen. Die Wand war von Bruchsteinen gemacht, unter die man, um ihr mehr Festigkeit zu geben, von Zeit zu Zeit einen behauenen Stein eingefügt hatte. Es war gerade einer von den behauenen Steinen, woran er gearbeitet hatte, und es handelte sich nun darum, ihn in seinem Lager zu erschüttern.

Dantes versuchte es mit seinen Nägeln, aber seine Nägel waren hierfür ungenügend. Die Scherben von dem Kruge, wenn man sie in die Zwischenräume einschob, zerbrachen, sobald sich Dantes denselben als Hebel bedienen wollte.

Nach einer Stunde fruchtloser Versuche erhob sich Dantes, Angstschweiß auf der Stirne.

Sollte er schon am Anfange seiner Arbeit gehemmt werden und mußte er träge und unnütz warten, bis sein Nachbar, welcher ebenfalls müde werden konnte, Alles getan hatte?

Ein Gedanke durchzog seinen Geist. Er blieb lächelnd stille stehen, seine von Schweiß feuchte Stirne trocknete sich ganz allein.

Der Gefangenenwärter brachte die Suppe von Dantes jeden Tag in einer blechernen Casserole. Diese Casserole enthielt eine Suppe und die eines zweiten Gefangenen, denn Dantes hatte bemerkt, daß dieselbe entweder ganz voll oder halb leer war, je nachdem der Schließer die Verteilung der Lebensmittel bei ihm oder bei seinem Gefährten anfing.

Diese Casserole hatte einen eisernen Stiel. Nach diesem Stiele trachtete Dantes, er hätte ihn, wenn man es von ihm gefordert haben würde, mit zehn Jahren feines Lebens bezahlt.

Der Gefangenenwärter goß den Inhalt der Casserole auf den Teller von Dantes. Nachdem er seine Suppe mit einem hölzernen Löffel gegessen hatte, wusch Dantes den Teller, der ihm zu täglichem Gebrauche diente.

Um Abend stellte Dantes seinen Teller auf halbem Wege zwischen der Thüre und dem Tische auf den Boden. Als der Gefangenenwärter eintrat, setzte er den Fuß auf den Teller und zerbrach ihn in taufend Stücke.

Diesmal war nichts gegen Dantes zu sagen. Er hatte Unrecht, seinen Teller auf dem Boden zu lassen; aber von dem Gefangenenwärter war es unvorsichtig gewesen, nicht vor seine Füße zu schauen.

Der Gefangenenwärter begnügte sich zu brummen.

Dann schaute er um sich herum einen Gegenstand zu suchen, in welchen er die Suppe gießen könnte; das Mobiliar von Dantes beschränkte sich auf diesen einzigen Teller, und es gab keine Wahl.

»Laffen Sie die Casserole hier,« sagte Dantes, »Sie können sie wieder mitnehmen, wenn Sie mir morgen mein Frühstück bringen.«

Dieser Rath schmeichelte der Trägheit des Gefangenenwärters. Er hatte nicht nötig, hinaufzusteigen, wieder herabzusteigen und abermals hinaufzusteigen.

Er ließ die Casserole zurück.

Dantes bebte vor Freude.

Diesmal verschlang er rasch seine Suppe und das Fleisch, das nach der Gewohnheit der Gefängnisse in der Suppe lag. Nachdem er eine Stunde gewartet hatte, um sicher zu sein, der Gefangenenwärter würde nicht andern Sinnes werden, rückte er sein Bett auf die Seite, nahm seine Casserole, schob den Stiel zwischen den bloß gelegten behauenen Stein und die benachbarten Bruchsteine, und fing an sich desselben als eines Hebels zu bedienen.

Eine leichte Bewegung bewies Dantes! daß die Arbeit von Statten ging.

Nach Verlauf einer Stunde war wirklich der Stein aus der Mauer gezogen, in welcher er eine Aushöhlung von mehr als anderthalb Fuß im Durchmesser ließ.

Dantes sammelte sorgfältig allen Gyps, trug ihn in die Ecken seines Gefängnisses, kratzte die gräuliche Erde mit einem von den Bruchstücken seines Kruges auf und bedeckte den Gyps wieder mit Erde.

Da er diese Nacht benützen wollte, in der ihm der Zufall oder vielmehr die geistreiche Combination, die er ersonnen, ein so kostbares Werkzeug in die Hände gab, so fuhr er mit aller Anstrengung zu graben fort.

Bei Tagesanbruch setzte er den Stein wieder in sein Loch, stieß sein Bett an die Wand und legte sich nieder.

Sein Frühstück bestand aus einem Stücke Brot.

Der Gefangenenwärter trat ein, und legte das Stück Brot auf den Tisch.

»Wie, Sie bringen mir keinen andern Teller?« fragte Dantes.

»Nein,« sagte der Schließer. »bei Ihnen wird Alles zerbrochen. Sie haben den Krug zertrümmert, und sind Schuld, daß ich Ihren Teller in Stücke trat. Wenn alle Gefangenen so viel Schaden anrichten würden, so könnte es die Regierung nicht mehr bezahlen. Man läßt Ihnen Ihre Casserole, man gießt die Suppe hinein; auf diese Art werden Sie das Geschirr vielleicht nicht mehr zerbrechen.«

Dantes schlug die Augen zum Himmel auf und faltete feine Hände auf dem Bette.

Dieses Stück Eisen, welches ihm nun blieb, erzeugte in seinem Herzen einen Aufschwung von Dankbarkeit, wie ihn in seinem früheren Leben die größten Güter, welche ihm zugeflossen waren, nie veranlaßt hatten. Nur war es ihm nicht entgangen, daß, seitdem er zu arbeiten begonnen, der andere Gefangene nicht mehr arbeitete.

Gleichviel, das war kein Grund, zurückzuweichen. Kam sein Nachbar nicht zu ihm, so würde er zu seinem Nachbar gehen.

Er arbeitete den ganzen Tag ohne Unterlaß. Am Abend hatte er mit Hilfe seines neuen Werkzeuges mehr als zehn Hände voll Trümmer von Bruchsteinen, Gyps und Cement aus der Mauer gezogen.

Als die Stunde des Besuches kam. richtete er, so gut er konnte, den gebogenen Stiel der Casserole wieder auf und stellte das Gefäß an seinen gewöhnlichen Platz. Der Schließer schüttete die vorgeschriebene Ration Suppe und Fleisch, oder vielmehr Suppe und Fisch hinein; denn dieser Tag war ein Fasttag, und man ließ die Gefangenen dreimal in der Woche fasten. Dies war auch ein Mittel, die Zeit zu berechnen, wenn Dantes nicht längst diese Berechnung aufgegeben hätte.

Sobald die Suppe eingegossen war, entfernte sich der Schließer.

Diesmal wollte sich Dantes vergewissern, ob sein Nachbar wirklich seine Arbeit eingestellt hätte.

Er horchte.

Alles blieb still, wie während der drei Tage, wo die Arbeiten unterbrochen worden waren.

Dantes seufzte. Sein Nachbar mißtraute ihm offenbar.

Er ließ sich jedoch nicht entmutigen und setzte seine Arbeit die ganze Nacht fort; doch nach zwei bis drei Stunden stieß er auf ein Hinderniß.

Das Eisen faßte nicht mehr, sondern glitt auf einer Oberfläche hin.

Dantes berührte das Hemmnis mit seinen Händen und bemerkte, daß es ein Balken war.

Dieser Balken durchzog oder versperrte vielmehr gänzlich das Loch, welches Dantes angefangen hatte.

Nun mußte man darüber oder darunter graben.

Der unglückliche junge Mann hatte nicht an dieses Hinderniß gedacht.

»Oh! mein Gott, mein Gott! ich habe Dich doch so sehr gebeten, daß ich hoffte, Du würdest mich erhören! Mein Gott! nachdem Du mir die Freiheit des Lebens, nachdem Du mir die Ruhe des Todes genommen, mein Gott! der Du mich zum Dasein zurückgerufen hast, mein Gott! habe Mitleid mit mir und laß mich nicht in Verzweiflung sterben!«

»Wer spricht zugleich von Gott und von Verzweiflung,« ließ sich eine Stimme vernehmen, welche unter der Erde hervorzukommen schien und wie ein Gräberton zu dem jungen Mann gelangte.

Edmond fühlte, wie sich die Haare auf seinem Haupte sträubten; und wich auf den Knien zurück.

»Ah!« murmelte er, »ich höre einen Menschen sprechen.«

Seit vier oder fünf Jahren hatte Edmond nur die Stimme seines Kerkermeisters gehört, und für den Gefangenen ist der Kerkermeister kein Mensch. Es ist eine lebende Thüre seiner eichenen Thüre, ein Riegel von Fleisch seinen eisernen Riegeln beigefügt.

»Im Namen des Himmels!« rief Dantes, »Sie, der Sie gesprochen haben, sprechen Sie weiter, obgleich Ihre Stimme mich erschreckt hat. Wer sind Sie?«

»Wer sind Sie selbst?« fragte die Stimme.

»Ein unglücklicher Gefangener,« versetzte Dantes, der, ohne Schwierigkeiten zu machen, antwortete.

»Aus welchem Lande?«

»Franzose.«

»Ihr Name?«

»Edmond Dantes.«

»Ihr Stand?«

»Seemann.«

»Wie lange sind Sie hier?«

»Seit dem 28. Februar 1815.«

»Ihr Verbrechen?«

»Ich bin unschuldig.«

»Wessen klagt man Sie an?«

»Für die Rückkehr des Kaisers konspiriert zu haben.«

»Wie! für die Rückkehr des Kaiser! Der Kaiser ist also nicht mehr auf dem Throne?«

»Er hat in Fontainebleau im Jahre 1814 entsagt und ist auf die Insel Elba verbannt worden. Aber wie lange sind Sie denn hier, daß Sie alles Dies nicht wissen?«

»Seit 1811.«

Dantes bebte; dieser Mann war vier Jahre länger im Gefängnis. als er.«

»Es ist gut, graben Sie nicht mehr, versetzte die Stimme schnell sprechend; »sagen Sie mir nur, auf welcher Höhe sich die Aushöhlung befindet, die Sie gemacht haben?«

»Dem Boden gleich.«

»Wie ist sie verborgen?«

»Hinter meinem Bette.«

»Hat man Ihr Bett von der Stelle gerückt, seitdem Sie im Gefängnis sind?«

»Nie?«

»Wohin geht Ihr Zimmer?«

»Nach einem Gange.«

»Und der Gang?«

»Mündet nach dem Hofe aus.«

»Ach!« murmelte die Stimme.

»Oh! mein Gott, was gibt es denn?« rief Dantes.

»Ich habe mich getäuscht, die Unvolkommenheit meiner Zeichnungen hat mich betrogen, der Mangel eines Compasses hat mich zu Grunde gerichtet; eine Linie des Irrtums auf meinem Plane kommt fünfzehn Fuß in der Wirklichkeit gleich, und ich hielt die Mauer, welche Sie durchhöhlen, für die der Citadelle.«

»Aber dann wären Sie an das Meer gekommen?«

»Das wollte ich gerade.«

»Und wenn Sie Ihren Zweck erreicht hätten?«

»So warf ich mich in die See, ich erreichte schwimmend eine von den Inseln, welche das Castell If umgeben, die Insel Daume, die Insel Tiboulen, oder auch die Küste, und ich war gerettet.«

»Hätten Sie so weit schwimmen können?«

»Gott wurde mit die Kraft verliehen haben; doch nun ist Alles verloren.«

»Alles?«

»Ja, Stopfen Sie Ihr Loch wieder vorsichtig zu, arbeiten Sie nicht mehr, bekümmern Sie sich um nichts mehr, und erwarten Sie Kunde von mir.«

»Sagen Sie mir doch wenigstens, wer Sie sind.«

»Ich bin . . . ich bin der Numero 27.«

»Sie mißtrauen mir also?« fragte Dantes.

Edmond glaubte ein bitteres Lachen zu hören, welches das Gewölbe durchdrang und bis zu ihm gelangte.

»Oh! ich bin ein guter Christ!« rief er, denn er fühlte instinktartig, daß dieser Mensch ihn zu verlassen gedachte; »ich schwöre Ihnen, daß ich mich eher töten lasse, als daß Ihre Henker und die meinigen durch mich einen Schatten der Wahrheit zu sehen bekommen. Doch im Namen des Himmels! berauben Sie mich nicht Ihrer Gegenwart! berauben Sie mich nicht Ihrer Stimme, oder ich schwöre Ihnen, denn meine Kräfte gehen zu Ende, ich zerschmettere mir den Schädel an der Wand, und Sie haben sich meinen Tod vorzuwerfen.«

»Wie alt sind Sie? Ihre Stimme scheint die eines jungen Mannes zu sein.«

»Ich weiß mein Alter nicht, denn ich habe die Zeit, seitdem ich hier bin, nicht gemessen. Ich weiß nur, daß ich neunzehn Jahre alt war, als ich am 28. Februar 1815 verhaftet wurde.«

»Noch nicht ganz fünf und zwanzig Jahre; in diesem Alter ist man noch kein Verräter,« murmelte die Stimme.

»Oh! Nein, nein, ich schwöre es Ihnen, wiederholte Dantes. »Ich habe Ihnen schon einmal gesagt und wiederhole es, ich lasse mich eher in Stücke zerhauen, als daß ich Sie verrate.«

»Sie haben wohl daran getan, mit mir zu sprechen, Sie haben wohl daran getan, mich zu bitten; denn ich war im Begriff, einen andern Plan zu entwerfen und mich von Ihnen zu entfernen. Aber Ihr Alter beruhigt mich: ich werde wieder zu Ihnen kommen, warten Sie auf mich.«

»Wann?«

»Ich muß unsere Chancen berechnen und werde Ihnen das Zeichen geben.«

»Doch Sie verlassen mich nicht? ich muß nicht allein bleiben? Sie kommen zu mir, oder Sie erlauben mir, zu Ihnen zu gehen? Wir fliehen mit einander, und wenn wir nicht fliehen können, so sprechen wir, Sie von Menschen, die Sie lieben, und ich von Menschen, welche ich liebe. Sie müssen irgend Jemand lieben«

»Ich bin allein auf der Welt.«

»Dann lieben Sie mich: sind Sie jung, so werde ich Ihr Kamerad; sind Sie alt, so bin ich Ihr Sohn. Ich habe einen Vater, welcher siebzig Jahre alt sein muß, wenn er noch lebt. Ich liebte nur ihn und ein junges Mädchen Namens Mercedes. Mein Vater hat mich nicht vergessen, dessen bin ich sicher; aber sie, Gott weiß, ob sie noch an mich denkt. Ich werde Sie lieben wie ich meinen Vater liebte.«

»Es ist gut,« erwiderte der Gefangen« »morgen!«

Diese Worte wurden mit einem Tone ausgesprochen, der Dantes überzeugte. Er verlangte nicht mehr, stand auf, nahm dieselben Vorsichtsmaßregeln in Beziehung auf die aus der Mauer gezogenen Trümmer, welche er genommen hatte, und stieß sein Bett wieder an die Wand.

Von diesem Augenblick an überließ sich Dantes ganz und gar seinem Glücke. Er sollte sicherlich nicht mehr allein sein, er sollte vielleicht sogar frei werden. Im schlimmsten Falle hatte er, wenn er Gefangener blieb, einen Gefährten. Geteilte Gefangenschaft aber ist nur eine halbe Gefangenschaft. Die Klagen. die man gemeinschaftlich ausspricht, sind beinahe Gebete; Gebete, die man zu zwei verrichtet, sind beinahe Gnadenhandlungen.

Den ganzen Tag ging Dantes, das Herz vor Freude hüpfend, in seinem Kerker auf und ab. Von Zeit zu Zeit erstickte ihn diese Freude beinahe. Er setzte sich auf sein Bett und preßte seine Brust mit der Hand. Bei dem geringsten Geräusche, das er in der Hausflur vernahm, sprang er nach der Thüre. Ein paar Male stieg ihm die Furcht, man könnte ihn von diesem Manne trennen, den er nicht kannte und dennoch wie einen Freund liebte, zu Gehirn. Dann war er entschlossen: in dem Augenblick, wo der Kerkermeister sein Bett wegrücken und sich bücken würde, um die Öffnung zu untersuchen, wollte er ihm mit dem Boden seines Kruges den Schädel einschlagen.

Man würde ihn zum Tode verurteilen, das wußte er wohl; sollte er aber nicht vor Zorn und Verzweiflung in dem Augenblick sterben, wo ihn dieses wunderbare Geräusch dem Leben zurückgegeben hatte?

Am Abend kam der Gefangenenwärter. Dantes lag auf seinem Bette; es kam ihm vor, als bewachte er von da aus die unvollendete Öffnung besser. Ohne Zweifel betrachtete er den ungelegenen Besuch mit einem sonderbaren Auge, denn dieser sagte zu ihm:

»Wie, sollten Sie wieder ein Narr werden?«

Dantes antwortete nicht, er befürchtete, die Aufregung seiner Stimme könnte ihn verraten.

Der Gefangenenwärter entfernte sich den Kopf schüttelnd.

Als die Nacht eingetreten war, glaubte Dantes, sein Nachbar würde die Stille und Dunkelheit benützen, um das Gespräch wieder mit ihm anzuknüpfen. Aber er täuschte sich, die Nacht verlief, ohne daß irgend ein Geräusch seiner fieberhaften Erwartung entsprach. Am andern Tage aber, nach dem Morgenbesuche und nachdem er sein Bett von der Wand entfernt hatte, hörte er drei Schläge in gleichen Zwischenräumen. Er stürzte auf die Knie.

»Sind Sie es?« sprach er; »ich bin hier.«

»Ist Ihr Kerkermeister weggegangen?« fragte die Stimme,

»Ja.« antwortete Dantes, und er wird erst am Abend wieder kommen. Wir haben zehn Stunden Freiheit.«

»Ich kann also handeln.« sprach die Stimme.

»Oh! Ja, ja, ohne Zögern. auf der Stelle. ich bitte. Sie!«

Sogleich schien der Teil der Erde, auf welchen Dantes, halb in der Öffnung verborgen, seine Hände stützte, unter ihm zu weichen. Er warf sich zurück, während eine Masse von Erde und abgelösten Steinen in ein Loch stürzte, das sich unter der von ihm bewerkstelligten Öffnung ausgehöhlt hatte. Dann sah er im Hintergrunde dieses düstern Loches, dessen Tiefe er nicht ermessen konnte, einen Kopf, Schultern. und endlich einen ganzen Menschen erscheinen, welcher mit ziemlich viel Behendigkeit aus der Höhlung hervorkam.

Der Graf von Monte Christo

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