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Erstes bis fünftes Bändchen
Siebzehntes Kapitel.
Das Zimmer des Abbé

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Nachdem Dantes, sich bückend, aber doch mit ziemlicher Leichtigkeit, den unterirdischen Gang durchschritten hatte, gelangte er an das entgegengesetzte Ende der Aushöhlung, welche in das Zimmer des Abbé führte. Hier verengte sich der Gang. und bot kaum Raum genug, daß ein Mann kriechend hineinschlüpfen konnte. Das Zimmer des Abbé war mit Platten belegt. Eine in dem dunkelsten Winkel liegende Matte aufhebend, hatte der Abbé, die mühsame Arbeit begonnen, an deren Ende er mit Dantes zusammengetroffen war.

Sobald der junge Mann innen war und sich wieder aufgerichtet hatte, betrachtete er das geheimnisvolle Zimmer mit der größten Aufmerksamkeit. Bei dem ersten Blicke bot sich ihm nichts Besonderes dar.

»Gut,« sprach der Abbé, »es ist erst ein Viertel auf ein Uhr, und wir haben noch ein paar Stunden vor uns.«

Dantes schaute umher und suchte, auf welcher Uhr der Abbé die Stunde hatte so genau lesen können.

»Schauen Sie diesen Strahl des Tages an, der durch mein Fenster dringt, und sehen Sie an der Wand die Linien, die ich gezogen habe, Mittelst dieser Linien. welche mit der doppelten Bewegung der Erde und der Ellipse, die sie um die Sonne beschreibt, combinirt sind, weiß ich die Stunde genauer, als wenn ich eine Uhr hätte, denn die Uhr geräth in Unordnung, während die Sonne um die Erde nie in Unordnung geraten.«

Dantes verstand nichts von dieser Erklärung. Wenn er die Sonne hinter den Bergen aufgehen und im mittelländischen Meere untergehen sah, glaubte er immer, sie gehe, und nicht die Erde; die doppelte Bewegung des Erdballs, den er bewohnte, schien ihm beinahe unmöglich. In jedem Worte des Abbé sah er wissenschaftliche Geheimnisse, welche so wunderbar bei ihrem Ergründen waren, als die Gold- und Diamantbergwerke, die er auf einer Reise, welche er als Kind nach Huzarate und nach Golconda gemacht, besucht hatte.

»Ich bitte,« sprach er zum Abbé, »es drängt mich, Ihre Schätze zu betrachten.«

Der Abbé ging nach dem Kamine, und hob mit dem Meißel. den er beständig in der Hand hielt, den Stein auf, welcher einst den Herd bildete und nun eine ziemlich tiefe Aushöhlung verbarg, in der alle Gegenstände eingeschlossen waren, von denen er gesprochen hatte.

»Was wollen Sie zuerst sehen?« fragte er.

»Zeigen Sie mir Ihr großes Werk über das Königreich Italien.«

Faria zog aus dem kostbaren Schranke drei bis vier wie Papyrusblätter um einander gewundene Leinwandrollen hervor. Es waren ungefähr vier Zoll breite und achtzehn Zoll lange Bänder. Diese nummerierten Bänder waren mit einer Schrift bedeckt, welche Dantes zu lesen vermochte, denn sie war in der Muttersprache des Abbé geschrieben, das heißt in der italienischen, einem Idiome, welches Dantes als Provencal vollkommen verstand.

»Sehen Sie,« sagte er. »Alles ist hier. Vor ungefähr acht Tagen habe ich das Wort Ende unten an das hundert und acht und sechzigste Band geschrieben. Zwei von meinen Hemden und was ich an Taschentüchern besaßt wurde dazu verwendet, und werde ich je wieder frei, und es findet sich in ganz Italien ein Drucker der mein Werk zu veröffentlichen wagt, so ist mein Ruf gemacht.«

»Ja,« antwortete Dantes, »ich sehe es wohl. Und nun bitte ich Sie, zeigen Sie mir die Federn, mit welchen Sie dieses Werk geschrieben haben.«

»Hier,« sprach Faria.

Und er zeigte dem jungen Manne ein kleines, sechs Zoll langes Stäbchen etwa so dick wie der Stiel eines Haarpinsels; am Ende desselben und um dasselbe war mittelst eines Fadens, noch mit Tinte befleckt, einer von den Knorpeln angebunden, von denen der Abbé gesprochen hatte. Es war schnabelförmig zugeschnitten und wie eine gewöhnliche Feder geschlitzt.

Dantes schaute ihn an und suchte mit den Augen nach dem Instrument, mit welchem der Abbé’ auf eine so pünktliche Weise den Knorpel geschnitten haben könnte.

»Ah, ja, das Federmesser, nicht wahr? Das ist mein Meisterwerk. Ich habe es, so wie das Messer, welches Sie hier sehen, aus einem alten eisernen Leuchter gemacht.«

Das Federmesser schnitt wie ein Rasirmesser, das Messer hatte den Vorteil, daß es zugleich als Messer und Dolch dienen konnte.

Dantes untersuchte diese Gegenstände mit derselben Aufmerksamkeit, mit der er in den Raritätenhandlungen in Marseille die von Wilden verfertigten und von Schiffskapitänen aus der Südsee zurückgebrachten Werkzeuge untersucht hatte.

»Was die Tinte betrifft,« sprach Faria, »so wissen Sie, wie ich dabei zu Werke gehe: ich mache sie nach meinem Bedürfnis.«

»Nun staune ich nur über Eines,« sagte Dantes»»darüber, daß die Tage Ihnen für diese Arbeit genügten.«

»Ich hatte die Nächte,« antwortete Faria.

»Die Nächte! besitzen Sie die Natur der Katzen und sehen Sie bei der Nacht?«

»Nein, aber Gott hat dem Menschen den Verstand gegeben, um die Armut seiner Sinne zu unterstützen. Ich habe mir Licht verschafft.«

»Wie dies?«

»Von dem Fleische, das man mir bringt, trenne ich das Fett, ich lasse es schmelzen und ziehe eine Art von compaktem Öl daraus? Sehen Sie hier meine Kerze.«

Und der Abbé zeigte Dantes eine Art von Lämpchen, denjenigen ähnlich, deren man sich bei den öffentlichen Beleuchtungen bedient.

»Aber Feuer?«

»Hier sind zwei Kieselsteine und verbrannte Leinwand.«

»Aber Schwefelhölzchen?«

»Ich stellte mich, als ob ich an einer Hautkrankheit litte, und verlangte Schwefel, was man mir auch bewilligte.«

Dantes legte die Gegenstände, welche er in der Hand hielt, auf den Tisch und neigte das Haupt, ganz niedergebeugt unter der beharrlichen Stärke dieses Geistes.

»Das ist noch nicht Alles,« fuhr Faria fort; »denn man darf nicht alle seine Schätze in einen Versteck legen; verschließen wir dieses.«

Sie brachten die Platte wieder an ihre Stelle; der Abbé streute etwas Staub darauf, fuhr mit seinem Fuße darüber, um jede Spur einer Unterbrechung der Staubdecke zu verwischen, ging auf sein Bett zu und rückte es von der Stelle.

Hinter dem Kopfkissen, verborgen unter einem Stein, der dasselbe beinahe vollkommen hermetisch verschloß, war ein Loch und unter diesem Loch eine etwa fünf und zwanzig bis dreißig Fuß lange Strickleiter.

Dantes untersuchte dieselbe; sie war von einer tadellosen Festigkeit.

»Wer hat Ihnen die zu diesem vortrefflichen Werke erforderliche Schnur geliefert?« fragte Dantes.

»Zuerst einige Hemden, welche ich besaß dann meine Betttücher, die ich während einer dreijährigen Gefangenschaft in Fenestrelles ausfädelte. Als man mich nach dem Castell If brachte, fand ich Mittel, das aufgefädelte Zeug mitzunehmen. Hier setzte ich meine Arbeit fort.«

»Aber bemerkte man nicht, daß Ihre Betttücher keinen Saum mehr hatten?«

»Ich nähte sie wieder zusammen.«

»Womit?«

»Mit dieser Nadel.«

Und der Abbé öffnete einen Fetzen von seinem Kleide und zeigte Dantes eine spitzige, noch eingefädelte Gräte, die er bei sich trug.

»Ja,« fuhr Faria fort, »ich hatte Anfangs den Gedanken, diese Stangen loszumachen und durch dieses Fenster zu entfliehen, das, wie Sie sehen, etwas breiter ist, als das Ihrige, und von mir im Augenblicke meiner Entweichung noch erweitert worden wäre. Aber ich bemerkte, daß dieses Fenster auf einen innern Hof geht, und leistete auf mein Vorhaben als ein zu unsicheres Unternehmen Verzicht. Ich behielt indessen die Strickleiter für einen unvorhergesehenen Umstand, für eine von jenen Entweichungen, die der Zufall verschafft und worüber wir bereits gesprochen haben.«

Während es schien. als untersuchte Dantes die Strickleiter, dachte er an etwas ganz Anderes. Ein Gedanke durchzog seinen Geist: der, daß dieser Mann, so geistreich, so tief, vielleicht in der Dunkelheit seines eigenen Unglücks zu sehen vermöchte, wo er selbst nie etwas hatte unterscheiden können.

»Woran denken Sie,« fragte der Abbé lächelnd. Er hielt die Versunkenheit von Dantes für eine auf den höchsten Grad gesteigerte Bewunderung.

»Ich denke vor Allein an Eines, an die ungeheure Summe von Verstand, welche Sie ausgeben mußten, um um zu dem Ziele zu gelangen, zu welchem Sie gelangt sind. Was hätten Sie erst getan, wären Sie frei gewesen?«

»Nichts vielleicht: diese Überfülle meines Gehirns hätte sich in Kleinlichkeiten verdunstet. Es bedarf des Unglücks, um gewisse geheimnisvolle, in dem menschlichen Verstande verborgene Mienen zu graben; es bedarf des Druckes, um das Pulver zum Ausbruch zu bringen. Die Gefangenschaft hat in einem einzigen Punkte alle meine dahin und dorthin flatternden Thätigkeiten vereinigt; sie sind in einem engen Raume zusammengestoßen, und Sie wissen, aus dem Zusammenstoßen der Wolken entsteht die Elektricität, aus der Elektricität der Blitz, und aus dem Blitze das Licht.«

»Nein, ich weiß nichts,« sagte Dantes, niedergeschlagen über seine Unwissenheit; »ein Teil der Worte, welche Sie aussprachen, sind Worte, die für mich des Sinnes entbehren; Sie sind sehr glücklich, daß Sie so viel Gelehrsamkeit besitzen.«

Der Abbé lächelte.

»Sie dachten an zwei Dinge, wie Sie mir vorhin sagten.«

»Ja.«

»Und Sie machen mich nur mit dem ersten bekannt; was ist das zweite?«

»Das zweite besteht darin, daß Sie mir Ihr Leben erzählt haben und das meinige nicht kennen.«

»Ihr Leben, junger Mann, ist sehr kurz, um Ereignisse von einiger Wichtigkeit in sich zu schließen.«

»Es schließt ein ungeheures Unglück in sich,« sprach Dantes»»ein Unglück, das ich nicht verdient habe, und ich wünschte wohl, um Gott nicht mehr zu lästern, wie ich es zuweilen that, mich wegen meiner Leiden an die Menschen halten zu können.«

»Sie behaupten also, Sie seien unschuldig an dem, was man Ihnen aufbürdet?«

»Völlig unschuldig. bei dem Haupte der zwei einzigen Personen, die mir teuer sind, bei dem Haupte meines Vaters, bei dem Haupt von Mercedes.«

»Laffen Sie hören,« sprach der Abbé, seinen Versteck verschließend und das Bett wieder an seine Stelle rückend, »erzählen Sie mir also ihre Geschichte.«

Dantes erzählte das. was er seine Geschichte nannte, was sich jedoch auf eine Reise nach Indien und auf ein paar Reisen nach der Levante beschränkte. Endlich gelangte er zu seiner letzten Fahrt, zu dem Tode des.Kapitän Leclère, zu dem von ihm dem Großmarschall übergebenen Paquet, zu seiner Zusammenkunft mit dem Großmarschall, zu dem Briefe, den ihm dieser unter der Adresse eines Herrn Noirtier zugestellt hatte, zu seiner Ankunft in Marseille. zu seiner Zusammenkunft mit seinem Vater, zu feiner Liebschaft mit Mercedes, zu seinem Verlobungsmahle, zu seiner Verhaftung, zu seinem Verhör, zu seiner vorläufigen Gefangenschaft im Justizpalaste, und schließlich zu feiner wirklichen Gefangenschaft im Castell If. Sobald Dantes diesen Punkt erreicht hatte, wußte er nichts mehr, nicht einmal mehr die Zeit, die er Gefangener geblieben. Als die Erzählung zu Ende war, versank der Abbé in Gedanken.

»Es gibt,« sprach er nach einem Augenblick des Stillschweigens, »es gibt ein Rechtsaxiom von großer Tiefe, welches auf das zurückkommt, was ich Ihnen vorhin sagte: wenn der schlechte Gedanke nicht mit einer verkehrten Organisation entsteht, so widerstrebt die menschliche Natur dem Verbrechen. Die Civilisation hat uns indessen Bedürfnisse, Laster, scheinbare Triebe gegeben, die durch ihren Einfluß zuweilen unsere guten Instinkte ersticken und uns zum Schlimmen führen. Daraus ist der Grundsatz hervorgegangen: willst Du den Schuldigen entdecken, so suche zuerst Denjenigen, welchem das begangene Verbrechen nützlich sein kann. Wem konnte Ihr Verbrechen nützen?«

»Mein Gott! Niemand, ich war zu wenig.«

»Antworten Sie nicht so, denn Ihre Antwort ermangelt zugleich der Logik und der Philosophie; Alles ist beziehungsweise, mein lieber Freund, von dem.König der seinem Nachfolger im Wege steht, bis zu dem untersten Beamten, welcher dem Überzähligen als ein Hinderniß erscheint. Stirbt dieser Beamte, so erbt der Überzählige zwölfhundert Franken Gehalt; diese zwölfhundert Franken Gehalt sind eine Civilliste: sie sind ihm zum Leben eben so notwendig, als einem.König seine zwölf Millionen. Jeder Mensch von der niedrigsten bis zu der höchsten Stufe der gesellschaftlichen Leiter gruppiert um sich her eine kleine Welt von Interessen, welche ihre Wirbel und ihre hakenförmige Atome hat, wie die Welten von Descartes. Nur bekommen diese Welten immer mehr Umfang, je mehr sie steigen. Es ist eine verkehrte Schneckenlinie, welche sich durch ein Gleichgewichtsspiel auf der Spitze hält. Kehren wir jedoch zu Ihrer Welt zurück. Sie sollten zum Kapitän des Pharaon ernannt werden?«

»Ja.«

»Sie sollten ein hübsches junges Mädchen heiraten?«

»Ja.«

»Hatte Jemand ein Interesse dabei, daß Sie nicht.Kapitän des Pharaon wurden? Hatte Jemand ein Interesse dabei, daß Sie Mercedes nicht heirateten? Beantworten Sir mir vor Allem die erste Frage; die Ordnung ist der Schlüssel aller Probleme. Hatte Jemand ein Interesse dabei, daß Sie nicht Kapitän des Pharaon wurden?«

»Nein; ich war an Bord sehr beliebt. Hätten die Matrosen einen Kapitän wählen können. so würden sie sicherlich mich gewählt haben. Ein einziger Mensch hatte einen Grund, mir zu grollen; ich gerieth einige Zeit vorher mit ihm in einen Streit, und schlug ihm ein Duell vor, das er nicht annahm.«

»Dieser Mensch. wie hieß er?«

»Danglars.«

»Was war er an Bord?«

»Rechnungsführer.«

»Hätten Sie ihn, wären Sie Kapitän geworden, an seinem Posten erhalten?«

»Nein, wenn es von mir abgehängt haben würde; denn ich glaubte einige Veruntreuungen in seinen Rechnungen wahrzunehmen.«

»Gut, Wohnte Jemand Ihrer letzten Unterredung mit dem Kapitän Leclère bei?«

»Nein, wir waren allein.«

»Konnte Jemand Ihre Unterredung hören?«

»Ja, denn die Thüre war offen und sogar; . . . warten Sie,  . . . ja, Danglars ging gerade in dem Augenblick vorüber, wo mir der Kapitän Leclère das für den Großmarschall bestimmte Paquet übergab.«

»Gut,« sprach der Abbé. »wir sind auf dem Wege. Haben Sie Jemand mit an das Land genommen, als Sie an der Insel Elba anhielten?«

»Niemand.«

»Man hat Ihnen einen Brief übergeben?«

»Ja, der Großmarschall.«

»Was haben Sie mit diesem Brief gemacht?«

»Ich habe ihn in mein Portefeuille gesteckt.«

»Sie hatten also Ihr Portefeuille bei sich? Wie konnte ein Portefeuille, das einen offiziellen Brief aufnehmen sollte, in der Tasche eines Seemanns halten?«

»Sie haben Recht; es war an Bord.«

»Sie haben also den Brief erst an Bord in das Portefeuille geschlossen?«

»Ja.«

»Was thaten Sie mit dem Briefe von Porto-Ferrajo bis an Bord?«

»Ich hielt ihn in der Hand.«

»Als Sie den Pharaon wieder bestiegen, konnte folglich Jedermann sehen, daß Sie einen Brief trugen?«

»Ja.«

»Danglars wie die Andern?«

»Danglars wie die Andern.«

»Nun hören Sie wohl. drängen Sie alle Ihre Erinnerungen zusammen: Wissen Sie noch, in welchen Ausdrücken die Denunciation abgefasst war?«

»O ja; ich habe sie dreimal durchlesen, und jedes Wort ist mir im Gedächtnis geblieben.«

»Wiederholen Sie mir dieselbe.«

Dantes sammelte sich einen Augenblick und sprach:

»Ich wiederhole Ihnen die Anzeige wortgetreu.

»Der Herr Staatsanwalt wird von einem Freunde des Thrones und der Religion benachrichtigt, daß Edmond Dantes, Second des Schiffes der Pharaon, diesen Morgen von Smyrna angelangt, nachdem er Neapel und Porto Ferrajo berührt hat, von Murat mit einem Briefe für den Usurpator; und von dem Usurpator mit einem Briefe für das bonapartistische Comité in Paris beauftragt worden ist.

»Den Beweis von seinem Verbrechen wird man bekommen, wenn man ihn verhaftet; denn man findet diesen Brief entweder bei ihm, oder bei seinem Vater oder in seiner Kajüte an Bord des Pharaon.«

Der Abbé guckte die Achseln.

»Das ist klar, wie der Tag.« sprach er; »und Sie müssen ein sehr gutes und reines Herz besitzen, daß Sie es nicht von Anfang an erraten haben.«

»Sie glauben?« rief Dantes. »Ah j das wäre heillos!«

»Was war die gewöhnliche Handschrift von Danglars?«

»Eine schöne Cursivschrift.«

»Was war die Schrift des anonymen Briefes?«

»Eine umgekehrte Schrift.«

Der Abbé lächelte.

»Verstellt, nicht wahr?«

»Sehr kühn. um verstellt zu sein.«

»Warten Sie;« sprach der Abbé.

Er nahm seine Feder oder vielmehr das; was er so nannte; tauchte sie in die Tinte und schrieb mit der linken Hand auf ein Stück zu diesem Behufe zubereitete Leinwand zwei oder drei Zeilen von der Denunciation.

Dantes wich zurück und schaute den Abbé mit Schrecken an.

»O! es ist erstaunlich; »wie diese Schrift jener gleicht!« rief er.

»Die Anzeige war mit der linken Hand geschrieben. Ich habe Eines beobachtet;« fuhr der Abbé fort.

»Was?«

»Alle Schriften mit der rechten Hand gezogen; weichen von einander ab; alle mit der linken gleichen sich.«

»Sie haben Alles gesehen; Alles beobachtet.«

»Fahren wir fort.«

»O ja, ja!«

»Gehen wir zu der zweiten Frage über.«

»Ich höre.«

»Hatte Jemand ein Interesse dabei; daß Sie Mercedes nicht heirateten?«

»Ja, ein junger Mann; der sie liebte.«

»Sein Name?«

»Fernand.«

»Das ist ein spanischer Name.«

»Er war ein Catalonier.«

»Glauben Sie; daß er fähig war; den Brief zu schreiben?«

»Nein, er hätte mir einen Messerstich gegeben; und nichts sonst.«

»Das liegt in der spanischen Natur: ein Mord, ja; eine Feigheit, nein.«

»Überdies,« fuhr Dantes fort; »kannte er die in der Anzeige enthaltenen einzelnen Umstände nicht.«

»Sie haben sie Niemand mitgeteilt?«

»Niemand.«

»Nicht einmal Ihrer Geliebten?«

»Nicht einmal meiner Braut.«

»Es ist Danglars.«

»Oh! nun bin ich davon überzeugt.«

»Warten Sie: kannte Danglars Fernand?«

»Nein,  . . . ja . . . Ich erinnere mich . . . «

»Was?«

»Zwei Tage vor meiner Hochzeit sah ich sie mit einander an einem Tische unter der Laube des Vaters Pamphile, Danglars war freundschaftlich und spöttisch; Fernand bleich und verstört.«

»Sie waren allein.«

»Nein, es war ein dritter, mir wohl bekannter Mensch bei ihnen, der sie ohne Zweifel zusammen geführt hatte; ein Schneider, Namens Caderousse, aber dieser war bereits betrunken. Doch halt . . . halt . . . warum erinnerte ich mich dieses Umstandes nicht! Auf dem Tische, wo sie tranken, waren Papier, Tinte und Federn. (Dantes legte die Hand an die Stirne). Oh, dort, dort wird der Brief geschrieben worden sein! Oh, die Schändlichen!i«

»Wollen Sie noch etwas Anderes wissen?« fragte der Abbé lachend.

»Ja, ja, da Sie alles ergründen, in allen Dingen klar sehen. Ich will wissen; warum ich nur einmal verhört worden bin? warum man mir keinen Richter gegeben hat, und wie man mich ohne Spruch verurteilen konnte?«

»Oh! was das betrifft,« erwiderte der Abbé; »das ist ein wenig schwierig; die Justiz hat finstere; geheimnisvolle Gänge, welche schwer zu durchdringen sind. Was wir bis jetzt in Beziehung auf Ihre zwei Feinde getan haben, war nur ein Kinderspiel. Sie müssen mir in dieser Hinsicht genauere Andeutungen geben.«

»Ich bitte; fragen Sie mich; denn Sie sehen in der Tat klarer in meinem Leben; als ich selbst.«

»Wer hat Sie verhört? der Staatsanwalt; der Substitut; der Untersuchungsrichter?«

»Der Substitut.«

»Jung oder alt?«

»Jung: sieben und zwanzig oder acht und zwanzig Jahre alt.«

»Gut! noch nicht verdorben, aber bereits ehrgeizig. Wie benahm er sich gegen Sie?«

»Mehr sanft als streng.«

»Haben Sie ihm Alles erzählt?«

»Alles.«

»Hat sich sein Benehmen im Verlaufe des Verhörs verändert?«

Einen Augenblicke als er den mich gefährdenden Brief gelesen hatte, schien er wie niedergeschmettert durch mein Unglück.«

»Durch Ihr Unglück?«

»Ja.«

»Wissen Sie ganz gewiss, daß es Ihr Unglück war, was er beklagte?«

»Er hat mir einen großen Beweis von Mitgefühl gegeben«

»Welchen?«

»Er verbrannte das einzige Stück, das mich gefährden konnte.«

»Welches? die Denunciation?«

»Nein, den Brief.«

»Sie sind dessen gewiss?«

»Es geschah in meiner Gegenwart.«

»Das ist etwas Anderes; dieser Mensch könnte ein größerer Verbrecher sein, als Sie wohl glauben dürften.«

»Bei meiner Ehre, Sie machen mich beben,« sprach Dantes; »die Welt ist also mit Tigern und Krokodilen bevölkert?«

»Ja, nur sind die zweifüßigen Tiger und Krokodile gefährlicher, als die andern.«

»Fahren Sie fort, fahren Sie fort.«.

»Gern, Er hat den Brief verbrannt, sagen Sie?«

»Ja, und er sprach dabei zu mir: »»Sie sehen, es ist nur dieser Beweis gegen Sie vorhanden, und ich vernichte ihn.««

»Dieses Benehmen ist zu erhaben, um natürlich zu sein.«

»Sie glauben?«

»Ich bin dessen gewiss. An wen war der Brief adressiert?«

»An Herrn Noirtier, Rue Coq-Héron, Nro 13 in Paris.«

»Können Sie annehmen, Ihr Substitut habe ein Interesse bei dem Verschwinden dieses Papieres gehabt?«

»Vielleicht, denn er ließ mich mehrere Mal, in meinem Interesse, wie er sagte, geloben, mit Niemand von diesem Briefe zu sprechen, ja, er ließ mich sogar schwören, nie den auf die Adresse geschriebenen Namen auszusprechen.«

»Noirtier?« wiederholte der Abbé, »Noirtier? Ich kannte einen Noirtier an dem Hofe der ehemaligen.Königin von Etrurien, einen Noirtier, welcher während der Revolution Girondist gewesen war. Wie hieß ihr Substitut?«

»Von Villefort.«

Der Abbé brach in ein Gelächter aus.

Dantes schaute ihn erstaunt an.

»Was haben Sie?« fragte er.

»Sehen Sie diesen Strahl des Tageslichtes?« fragte der Abbé.

»Ja.«

»Alles ist mir jetzt klarer, als dieser durchsichtige, leuchtende Strahl. Armes Kind, armer junger Mann! Und dieser Beamte ist gut gegen Sie gewesen?«

»Ja.«

»Dieser würdige Substitut hat den Brief verbrannt, vernichtet?«

»Ja.«

»Dieser ehrliche Lieferant des Henkers ließ Sie schwören, nie den Namen Noirtier auszusprechen?«

»Ja.«

»Dieser Noirtier, armer Blinder, wissen Sie, wer dieser Noirtier war? Dieser Noirtier war sein Vater!«

Hätte der Blitz zu den Füßen von Dantes eingeschlagen und vor ihm einen Abgrund gegraben, in dessen Tiefe sich die Hölle öffnete, es hatte seine raschere, keine elektrischere, keine niederschmetterndere Wirkung hervorgebracht, als diese unerwarteten Worte hervorbrachten. Er stand auf und nahm seinen Kopf zwischen beide Hände, als wollte er ein Zerbersten verhindern.

»Sein Vater! sein Vater!« rief er.

»Ja, sein Vater, der Noirtier von Villefort heißt.« versetzte der Abbé.

Eine Leuchte durchzuckte das Gehirn des Gefangenen; was ihm bis dahin dunkel geblieben war, wurde in einem Augenblick klar wie der Tag. Die Wendungen von Villefort während des Verhörs, der vernichtete Brief, die beinahe flehende Stimme des Beamten, welcher statt zu drohen, zu bitten schien. Alles kam ihm in das Gedächtnis. Er stieß einen Schrei aus, wankte einen Augenblick wie ein Betrunkener, und stürzte dann durch die Öffnung, welche von der Zelle des Abbé in die seinige führte.

»Oh!« sagte er, »ich muß einen Augenblick allein sein, um Alles zu überdenken.«

Und in seinen Kelter zurückkehrend, fiel er auf sein Bett, wo ihn der Schließer am Abend sitzend, die Augen starr, das Gesicht zusammengezogen, unbeweglich und stumm wie eine Bildsäule fand.

Während dieser Stunden des Nachsinnens, welche wie Sekunden verliefen, hatte er einen furchtbaren Entschluß gefaßt und einen schrecklichen Eid geleistet.

Eine Stimme entzog ihn diesen Träumen, es war die des Abbé Faria, der, nachdem er ebenfalls den Besuch seines Gefangenenwärters erhalten hatte, zu Dantes kam. um ihn zum Abendbrot einzuladen. Seine Eigenschaft als anerkannter Narr und besonders als belustigender Narr gab dem alten Gefangenen einige Vorrechte. wie z. B. daß er ein wenig weißeres Brot und Sonntags ein Fläschchen Wein bekam. Es war aber gerade Sonntag, und der Abbé wollte seinen jungen Gefährten einladen, sein Brot und seinen Wein zu teilen.

Dantes folgte ihm. Alle Linien seines Gesichtes hatten sich wieder gelegt und ihren gewöhnlichen Blaß wieder eingenommen, doch, wenn man so sagen darf, mit einer Starrheit und Festigkeit, wodurch sich ein gefaßter Entschluß ausprägt. Der Abbé schaute ihn aufmerksam an.

»Es tut mir leid, daß ich Sie in Ihren Nachforschungen unterstützt und Ihnen gesagt habe, was ich sagte,« sprach er.

»Warum dies?« fragte Dantes.

»Weil ich in Ihr Herz eine Leidenschaft brachte, welche noch nicht darin war: die der Rache.«

Dantes versetzte lächelnd:

»Sprechen wir von etwas Anderem.«

Der Abbé schaute ihn einen Augenblick an und schüttelte traurig den Kopf. Dann sprach er, wie ihn Dantes gebeten hatte, von andern Dingen.

Der alte Gefangene war ein Mann, dessen Unterhaltung, wie die der Menschen, welche viel gelitten haben, zahlreiche Lehren und ein zusammengedrängtes Interesse in sich schloß; aber sie war nicht selbstsüchtig, und dieser Unglückliche sprach nie von seinen Leiden.

Dantes hörte jedes seiner Worte mit Bewunderung: die einen standen im Zusammenhange mit den Begriffen, die er bereits besaß, und mit den Kenntnissen, welche sich auf seinen Stand als Seemann bezogen; die andern berührten unbekannte Dinge und zeigten, wie jene Nordscheine, welche die Schiffer in den südlichen Breiten erhellen, dem jungen Manne mit ihren phantastischen Lichtern beleuchtete neue Landschaften und Horizonte. Dantes begriff das Glück, dessen eine verständige Organisation teilhaftig werden müßte, wenn sie diesem erhabenen Geiste auf die moralischen, philosophischen oder gesellschaftlichen Höhen folgte, auf denen er sich zu ergehen pflegte.

»Sie sollten mich ein wenig vor dem lehren, was Sie wissen,« sagte Dantes, und wäre es nur, damit Sie sich nicht mit mir langweilen. Es scheint mir jetzt, Sie müssen die Einsamkeit einem Gefährten ohne Bildung und ohne Bedeutung, wie ich bin, vorziehen. Willigen Sie in das ein, was ich mir von Ihnen erbitte, so mache ich mich anheischig, nicht mehr von der Flucht zu sprechen.«

Der Abbé erwiderte lächelnd:

»Ach, mein Kind! die menschliche Wissenschaft ist sehr beschränkt, und habe ich Sie die Mathematik, die Physik und die paar lebenden Sprachen gelehrt, die ich spreche, so wissen Sie Alles, was ich weiß., Um all dieses Wissen von meinem Geiste in den Ihrigen zu ergießen, werde ich kaum zwei Jahre brauchen.«

»Zwei Jahre!« sprach Dantes, »Sie glauben, ich könnte alle diese Dinge in zwei Jahren lernen?«

»In ihrer Anwendung, nein, in ihren Grundsätzen, ja; lernen ist nicht wissen. Es gibt Wissende und Gelehrte: das Gedächtnis macht die Einem die Philosophie die Andern.«

»Aber kann man die Philosophie nicht lernen?«

»Die Philosophie lernt sich nicht, die Philosophie ist die Vereinigung der Wissenschaften, erworben von dem Genie desjenigen, welcher sie anwendet. Die Philosophie ist die glänzende Wolke, auf welche Christus seinen Fuß gesetzt hat, um sich zum Himmel aufzuschwingen.«

»Laffen Sie hören,« sprach Dantes, »was wollen Sie mich zuerst lehren? Es drängt mich zu beginnen, ich habe einen Durst nach Wissenschaft.«

»Alles,« antwortete der Abbé.

Die Gefangenen entwarfen wirklich noch an demselben Abend einen Erziehungsplan, dessen Ausführung am andern Tage begann. Dantes besaß ein wunderbares Gedächtnis, eine außerordentliche Fassungsgabe. Die mathematische Anlage seines Geistes machte ihn fähig, Alles durch Berechnung zu begreifen, während die Poesie des Seemannes das verbesserte, was die auf die Trockenheit der Zahlen und die Genauigkeit der Linien zurückgeführte und beschränkte Auseinandersetzung zu Materielles haben konnte. Er verstand überdies bereits das Italienische und etwas Neugriechisch, was er bei seinen Reifen nach dem Orient gelernt hatte. Mit diesen zwei Sprachen begriff er bald den Mechanismus aller andern, und nach Verlauf von sechs Monaten fing er an Spanisch, Englisch und Deutsch zu sprechen.

Mag die Zerstreuung, die ihm das Studieren gewährte, einigermaßen die Freiheit ersetzt haben, oder war er ein Mann, der wie wir oben erwähnten, streng an seinem gegebenen Worte hielt, er sprach, wie er es dem Abbé Faria zugesagt, nicht mehr von der Flucht, und die Tage vergingen ihm rasch und lehrreich. Nach Verlauf eines Jahres war er ein anderer Mensch. Was den Abbé Faria betrifft, so bemerkte Dantes, daß er, trotz der Zerstreuung, die seine Gegenwart in die Gefangenen gebracht hattet täglich düsterer wurde. Ein ewiger, unabläßiger Gedanke schien seinen Geist zu belagern. Er versank in tiefe Träumereien, seufzte unwillkürlich, stand auf, kreuzte die Arme und ging finster in seinem Zimmer umher.

Eines Tages blieb er mitten in einem von den hundertmal wiederholten Kreisen stehen, welche er in seinem Kerker beschrieb, und rief:

»Oh! wenn keine Wache da wäre!«

»Es wird keine Wache da sein, sobald Sie es nur wollen.« sprach Dantes, der seinen Gedanken durch das Gehäuse seines Gehirnes wie durch einen Cristall gefolgt war.

»Ich habe Ihnen bereits gesagt,« versetzte der Abbé, »ein Mord widerstrebt mir.«

»Und dennoch wird dieser Mord, wenn er begangen ist, durch den Instinkt unserer Selbsterhaltung, durch ein Gefühl persönlicher Verteidigung, vollbracht worden sein.«

»Gleichviel, ich werde es nicht vermögen.«

»Sie denken noch daran?«

»Unablässig, unablässig.« murmelte der Abbé.

»Und Sie haben ein Mittel erfunden, nicht wahr?»sprach Dantes lebhaft.

»Ja, wenn man auf die Galerie eine blinde und taube Schildwache bringen könnte.«

»Sie wird blind, sie wird taub sein,« antwortete der junge Mann mit einem Ausdrucke von Entschlossenheit, der den Abbé in Schrecken setzte.

»Nein, nein, »rief er, »unmöglich.«

Dantes wollte ihn bei diesem Gegenstande festhalten; aber der Abbé schüttelte den Kopf und weigerte sich, mehr zu antworten.

Drei Monate verliefen.

»Sind Sie stark?« fragte eines Tages der Abbé Dantes.

Dantes nahm, ohne ein Wort zu erwidern, den Meißel, drehte ihn wie ein Hufeisen und drehte ihn wieder zurück.

»Würden Sie sich anheischig machen, die Schildwache nur im äußersten Notfalle zu töten?«

»Ja, bei meiner Ehre.«

Dann könnten wir unsern Plan ausführen?« sprach der Abbé.

»Wie viel brauchen wir dazu?«

»Wenigstens ein Jahr.«

»Doch wir könnten sogleich an die Arbeit gehen?«

»Sogleich.«

»Oh, sehen Sie, wir haben ein Jahr verloren!« rief Dantes.

»Finden Sie, daß wir es verloren haben?« sprach der Abbé.

»Ich bitte um Vergebung.« rief Edmond errötend.

»Stille; der Mensch ist immer nur ein Mensch, und Sie sind einer von den Besseren, die ich kennen gelernt habe. Vernehmen Sie meinen Plan.«

Der Abbé zeigte nun Dantes eine Zeichnung, die er entworfen hatte, es war der Plan seines Zimmers, des Zimmers von Dantes und des Ganges, welcher beide mit einander verband. Mitten in dieser Galerie brachte er einen Schacht an, denjenigen ähnlich, welche man in den Bergwerken macht, dieser Schacht führte die zwei Gefangenen unter die Galerie, wo die Schildwache auf und abging. Hier angelangt, machten sie eine breite Aushöhlung und lösten eine von den Platten, welche den Boden der Galerie bildeten. Im gegebenen Augenblick fiel die Platte unter dem Gewichte des Soldaten ein, und dieser stürzte in die Höhlung. Dantes warf sich in dem Momente auf ihn, wo er, von seinem Falle betäubt sich nicht verteidigen konnte, band, knebelte ihn, und Beide drangen durch eines von den Fenstern dieser Galerie, stiegen mit Hilfe der Strickleiter an der äußeren Mauer hinab und flüchteten sich.

Dantes schlug in die Hände, und seine Augen funkelten vor Freude; dieser Plan war so einfach, daß er gelingen mußte,

Noch an demselben Tage gingen die Gräber mit um so mehr Eifer an das Werk, als die Arbeit auf eine lange Ruhe folgte, und aller Wahrscheinlichkeit nach nur die Fortsetzung eines innigen, geheimen Gedankens von jedem derselben bildete.«

Nichts unterbrach sie, als die Stunde, zu der sich beide zurückziehen mußten, um jeder in seinem Kerken den Besuch des Gefangenenwärters zu empfangen. Sie hatten sich übrigens daran gewöhnt, bei dem unmerklichsten Geräusch von Dritten den Augenblick wahrzunehmen, wo dieser Mensch herabkam, und nie war Einer oder der Andere überrascht worden. Die Erde, welche sie aus der neuen Galerie zogen, wurde in kleinen Teilchen und mit unerhörter Behutsamkeit durch das eine oder das andere von den Fenstern des Kerkers von Dantes oder von Faria geworfen. Man machte diese Erde sorgfältig zu Staub, und der Nachtwind trug sie in die Ferne, ohne daß Spuren davon übrig blieben.

Mehr als ein Jahr verging bei dieser Arbeit, welche, in Ermangelung aller anderen Werkzeuge, mit einem Meißel, mit einem Messer und mit einem hölzernen Hebel ausgeführt wurde, und unter dieser Arbeit fuhr Faria fort, Dantes zu unterrichten, wobei er bald in der einen, bald in der andern Sprache sich mit ihm unterhielt, und ihn die Geschichte der Nationen und der großen Menschen lehrte, welche von Zeit zu Zeit eine von den leuchtenden Spuren hinter sich lassen, die man den Ruhm nennt. Der Abbé, ein Mann der Welt, und zwar der großen Welt, besaß überdies in seinen Manieren eine gewisse schwermütige Majestät, aus welcher Dantes durch den anschmiegsamen Geist, mit dem ihn die Natur begabt hatte, die ihm fehlende elegante Artigkeit und die aristokratischen Manieren zu ziehen wußte, welche dem Menschen nur durch längeren Umgang mit den höheren Klassen oder in der Gesellschaft erhabener Männer zur Gewohnheit werden.

Nach Verlauf von fünfzehn Monaten war das Loch vollendet, die Höhlung war unter der Galerie gemacht, Man hörte bereits die Schildwache hin und her gehen, und die zwei Arbeiter, welche eine dunkle Nacht ohne Mond abwarten mußten, um ihre Flucht zu sichern, befürchteten nur Eines: es könnte der Boden zu frühzeitig von selbst unter den Füßen des Soldaten einstürzen. Man begegnete diesem Mißgeschick dadurch, daß man einen kleinen Ballen, den man in den Grundfesten gefunden hatte, als Stütze aufstellte.

Dantes war eben an der Arbeit, den Balken fest zu stellen, als er hörte, wie ihn der Abbé Faria. der in dem Zimmer des jungen Mannes geblieben war und sich hier damit beschäftigte, einen Pflock zuzuspitzen, welcher die Strickleiter halten sollte, ihn mit schmerzlichem Tone rief. Dantes kehrte rasch zurück und sah den Abbé, welcher bleich, Schweiß auf der Stirne und die Hände krampfhaft zusammengezogen mitten im Zimmer stand.

»Oh. mein Gott!« rief Dantes, »was gibt es denn, was haben Sie?«

»Rasch, rasch!« sprach der Abbé. »hören Sie mich!«

Dantes erblickte das leichenbleiche Gesicht von Faria. seine mit einem bläulichen Kreise umzogenen Augen, seine weißen Lippen, seine gesträubten Haare, und ließ aus Schrecken den Meißel, welchen er in der Hand hielt, auf den Boden fallen.

»Aber was gibt es denn?« rief Edmond.

»Ich bin verloren,« sprach der eine, »ein furchtbares, vielleicht tödliches Übel erfaßt mich. Der Anfall kommt, ich fühle es. Schon ein Mal wurde ich davon das Jahr vor meiner Einkerkerung ergriffen. Für dieses Übel gibt es nur ein Mittel, ich will es Ihnen nennen. Eilen Sie zu mir, heben Sie den Fuß des Bettes auf; dieser Fuß ist hohl. Sie finden darin ein Kristallfläschchen, halb mit einer roten Flüssigkeit gefüllt; bringen Sie es mir, oder vielmehr nein, man könnte uns hier überraschen, helfen Sie mir in mein Zimmer zurückkehren, während ich noch einige Kräfte besitze, Wer weiß, was geschieht und wie lange der Anfall dauern wird?«

Dantes verlor den Kopf nicht, obgleich das Unglück, das ihn traf, ungeheuer war. Er stieg in den Gang hinab, schleppte seinen unglücklichen Gefährten nach sich, führte ihn mit unsäglicher Mühe bis an das entgegengesetzte Ende, und befand sich in dem Zimmer des Abbé, den er auf fein Bett legte.

»Ich danke.« sprach der Abbé. an allen Gliedern zitternd. als käme er aus einem Eiswasser. »Das Übel tritt ein, ich verfalle in die Starrsucht; vielleicht werde ich keine Bewegung machen, keine Klage ausstoßen; vielleicht werde ich aber auch schäumen, schreien. Geben Sie sich Mühe, daß man mein Geschrei nicht hört; es ist von Wichtigkeit, denn man könnte mir dann ein anderes Zimmer geben und uns für immer trennen. Wenn Sie mich unbeweglich, kalt und gleichsam tot sehen, dann, aber auch dann erst, hören Sie wohl, drücken Sie mir die Zähne mit dem Messer auseinander, flößen Sie mit acht bis zehn Tropfen von diesem Tranke in meinen Mund, und vielleicht komme ich wieder zu mit.«

»Vielleicht!« rief Dantes schmerzlich.

»Zu Hilfe, zu Hilfe!« rief der Abbé, »ich . . . ich . . . ster . . . «

Der Anfall kam so rasch und so heftig, daß der unglückliche Gefangene nicht einmal das begonnene Wort vollenden konnte. Eine Wolke zog schnell und düster wie die Stürme des Meeres über seine Stirne hin. Die Krise erweiterte seine Augen, verdrehte seinen Mund, färbte seine Wangen purpurrot. Er arbeitete mit Händen und Füßen, schäumte, brüllte; aber Dantes erstickte, wie er es ihm selbst empfohlen hatte, sein Geschrei unter seiner Decke. Dies dauerte zwei Stunden. Dann aber fiel er, träger als eine tote Masse, kälter als der Marmor, mehr gebrochen, als ein mit den Füßen getretenes Rohr, zurück, erstarrte in einer letzten Convulsion und wurde leichenbleich.

Edmond wartete, bis dieser scheinbare Tod den Körper erfaßt, und bis zum Herzen vereist hatte. Dann nahm er das Messer, drang mit seiner Klinge zwischen die Zähne, löste mit unsäglicher Mühe die zusammengepreßten Kinnbacken, zählte, einen nach dem andern, zehn Tropfen von dem röthlichen Safte, und wartete.

Es verlief eine Stunde, ohne daß der Greis die geringste Bewegung machte. Dantes befürchtete, zu lange gewartet zu haben, und betrachtete ihn, beide Hände in seinen Haaren. Endlich erschien eine leichte Färbung auf seinen Wangen; beständig offen und matt geblieben, nahmen seine Augen ihren Blick wieder an; ein leichter Seufzer entstieg seinem Munde und er machte eine Bewegung.

»Gerettet! Gerettet!« rief Dantes.

Der Kranke konnte noch nicht sprechen, aber er streckte mit sichtbarer Angst die Hand nach der Thüre aus. Dantes horchte und vernahm die Tritte des Gefangenenwärters; es war nahe an sieben Uhr und Dantes hatte nicht Muße gehabt, die Zeit zu messen.

Der junge Mann sprang gegen die Öffnung, drang in dieselbe, legte die Platte wieder über seinen Kopf und kehrte in sein Zimmer zurück.

Einen Augenblick nachher öffnete sich seine Thüre, und der.Kerkermeister fand den Gefangenen wie gewöhnlich auf seinem Bette sitzend.

Kaum hatte er ihm den Rücken gewendet, kaum hatte sich das Geräusch der Tritte in der Flur verloren, als Dantes von Ungeduld verzehrt, ohne an das Essen zu denken den Weg wieder einschlug, den er kurz zuvor gemacht hatte, und, die Platte mit seinem.Kopfe aufhebend, in das Zimmer des Abbé zurückkehrte.

Dieser war wieder zum Bewußtsein gekommen; aber er lag immer noch träge und.kraftlos auf seinem Bette ausgestreckt.

»Ich dachte, ich wurde Sie nicht wiedersehen,« sagte er zu Dantes.

»Warum dies?« fragte der junge Mann; »glaubten Sie sterben zu müssen?«

»Nein, aber Alles ist zu Ihrer Flucht bereit, und ich glaubte, Sie wurden fliehen.«

Die Rothe der Entrüstung färbte die Wangen von Dantes.

»Ohne Sie!« rief er, wähnten Sie mich wirklich dessen fähig?«

»Jetzt sehe ich, daß ich mich getäuscht habe,« sprach der Kranke. »Ah! ich bin sehr schwach, sehr entkräftet.«

»Mut! Ihre Kräfte werden wiederkehren,« sagte Dantes, setzte sich neben sein Bett und nahm ihn bei den Händen.

Der Abbé schüttelte den Kopf und erwiderte:

»Das letzte Mal dauerte der Anfall eine halbe Stunde, wonach ich Hunger hatte und allein aufstand; heute kann ich weder mein Bein, noch meinen rechten Arm rühren; mein Kopf ist eingenommen, was eine Ergießung des Gehirns andeutet. Das dritte Mal werde ich völlig gelähmt bleiben oder auf der Stelle sterben.«

»Nein, nein, beruhigen Sie sich, Sie werden nicht sterben; der dritte Anfall, wenn er Sie wirklich faßt, wird Sie frei finden, wir werden Sie retten, wie diesmal und besser als diesmal, denn es steht uns dann jede erforderliche Hilfe zu Gebot.«

»Mein Freund,« sprach der Greis, »täuschen Sie sich nicht, die Krise, welche so eben vorübergegangen ist, hat mich zu einer lebenslänglichen Gefangenschaft verurteilt: um zu fliehen, muß man gehen können.«

»Nun, wir warten acht Tage, einen Monat, zwei Monate, wenn es sein muß, mittlerweile bekommen Sie Ihre Kräfte wieder. Alles ist zu unserer Flucht vorbereitet, und wir können nach unserem Belieben die Stunde und den Augenblick dazu wählen. Am Tage, wo Sie sich kräftig genug fühlen, um zu schwimmen, bringen wir unsern Plan in Ausführung.«

»Ich werde nicht mehr schwimmen,« erwiderte Faria, »dieser Arm ist gelähmt, nicht für einen Tag, sondern für immer. Heben Sie ihn selbst auf und sehen Sie, wie schwer er ist.«

Der junge Mann hob ihn auf, und er fiel unempfindlich wieder zurück. Er stieß einen Seufzer aus.

»Sie sind nun überzeugt, nicht wahr, Edmond?« sprach der Abbé, »glauben Sie mir, ich weiß, was ich sage; seit dem ersten Anfall, den ich von diesem Übel hatte, dachte ich unabläßig darüber nach. Ich erwartete es, denn es ist eine Familienerbschaft; mein Vater starb an der dritten Krise, mein Großvater ebenfalls. Der Arzt, der mir diesen Trank bereitete und der kein Anderer ist, als der berühmte Cabanis, weissagte mir dasselbe Schicksal.«

»Der Arzt täuscht sich,« rief Dantes; »Ihre Lähmung aber hindert mich nicht, ich nehme Sie auf meine Schultern und schwimme so mit Ihnen.«

»Kind,« entgegnete der Abbé, »Sie sind ein Seemann, Sie sind ein Schwimmer und müssen folglich wissen, daß ein Mensch mit einer solchen Last nicht fünfzig Klafter im Meere machen wurde, Lassen Sie sich nicht länger durch Chimären täuschen, von denen Ihr vortreffliches Herz nicht einmal bethört wird. Ich werde hier bleiben, bis die Stunde meiner Befreiung schlägt, welche jetzt nur die des Todes sein kann. Was Sie betrifft,  . . . fliehen Sie! Sie sind jung, stark und gewandt; kümmern Sie sich nicht um mich; ich gebe Ihnen Ihr Wort zurück.«

»Gut,« sprach Dantes, »gut, so bleibe ich auch hier.«

Dann stand er auf, streckte feierlich eine Hand gegen den Greis aus und rief:

»Bei dem Blute Christi schwöre ich, daß ich Sie nur bei Ihrem Tode verlasse!«

Faria schaute den so edlen, so einfachem so erhabenen jungen Mann an, und las in seinen von dem Ausdrucke der reinsten Ergebenheit belebten Zügen die Aufrichtigkeit seiner Zuneigung und die Redlichkeit seines Schwures.

»Wohl,« sprach der.Kranke, »ich nehme es an und danke.«

Hierauf Edmond die Hand, reichend, fuhr er fort: »Sie werden vielleicht für diese uneigennützige Ergebenheit belohnt; da ich aber nicht gehen kann und Sie nicht gehen wollen, so müssen wir notwendig den unterirdischen Gang verstopfen, den wir unter der Galerie gemacht haben; der Soldat kann das Schallen der unterhöhlten Stelle wahrnehmen, einen Aufseher darauf aufmerksam machen, und dann würden wir entdeckt und getrennt. Vollbringen Sie dieses Geschäft, wobei ich Sie leider nicht mehr unterstützen kann; verwenden Sie die ganze Nacht dazu, wenn es sein muß, und kommen Sie erst morgen nach dem Besuche des Gefangenenwärters zurück; ich habe Ihnen wohl etwas Wichtiges zu sagen . . . «

Dantes nahm den Abbé bei der Hand; dieser beruhigte ihn durch ein Lächeln, und er entfernte sich mit dem Gehorsam und der Achtung, die er für seinen alten Freund hegte.

Der Graf von Monte Christo

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