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Erstes bis fünftes Bändchen
Siebentes Kapitel.
Das Verhör

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Kaum hatte Villefort den Speisesaal verlassen, als er seine heitere Maske ablegte, um die ernste Miene eines Mannes anzunehmen, der zu der erhabenen Function, über das Leben von seines Gleichen zu entscheiden, berufen ist. Trotz der Beweglichkeit seiner Gesichtsbildung, einer Beweglichkeit, die der Substitut, wie es ein geschickter Schauspieler tun muß, wiederholt an seinem Spiegel studiert hatte, war es dies Mal eine Arbeit für ihn, seine Miene zu halten und seine Züge zu verdüstern. Abgesehen von der Erinnerung an die politische Laufbahn seines Vaters, welche, wenn er sich nicht ganz und gar davon entfernte, seiner Zukunft in den Weg treten konnte, war Gérard von Villefort in diesem Augenblick so glücklich, als es einem Menschen zu sein vergönnt ist, Bereits durch sich selbst reich, nahm er mit sieben und zwanzig Jahren einen hohen Posten in der Magistratur ein. Er heiratete eine junge hübsche Person, die er liebte, nicht leidenschaftlich, sondern mit Vernunft, wie ein Substitut des Staatsanwaltes lieben kann. Neben ihrer Schönheit gehörte Fräulein von Saint-Meran, seine Braut, einer von den Familien an, die im besten Einvernehmen mit dem Hofe jener Zeit standen, und außer dem Einflusse ihres Vaters und ihrer Mutter, welche, da sie kein anderes Kind hatten, denselben ganz ihrem Schwiegersohne widmen konnten, brachte sie ihrem Gatten eine Mitgift von fünfzigtausend Thalern, die sich in der Hoffnung – ein grausames, durch die Heiratsvermittler erfundenes Wort – eines Tages mit einer Erbschaft von einer halben Million vermehren konnte. Alle diese Elemente bildeten im Verein für Villefort eine Gesamtsumme von so blendender Glückseligkeit, daß es ihm vorkam, als erblickte er Flecken in der Sonne, wenn er lange Zeit sein inneres Leben mit dem Gesichte der Seele betrachtet hatte.

Vor der Thüre fand er den Polizeikommissär, der auf ihn wartete. Bei dem Anblicke des schwarzen Mannes fiel er alsbald aus der Höhe des dritten Himmels auf die materielle Erde, auf der wir einhergehen. Er brachte sein Gesicht in.die gehörige Haltung, näherte sich dem Beamten und sprach zu ihm:

»Hier bin ich, ich habe den Brief gelesen, und Sie thaten wohl darauf diesen Menschen zu verhaften. Geben Sie mir nun über ihn und über die Meuterei alle einzelnen Umstände an, welche Sie in Erfahrung gebracht haben.«

»Über die Meuterei, mein Herr, wissen wir noch nichts; alle Papiere die man bei ihm bekommen hat, sind in ein einziges Bündel zusammengepackt und in Ihrem Bureau versiegelt niedergelegt worden. Was den Angeschuldigten betrifft, so haben Sie aus dem Briefe, der denselben denunziert, ersehen, daß er Edmond Dantes heißt und Second an Bord des Dreimasters der Pharaon ist, welcher Baumwollenhandel mit Alexandrien und Smyrna treibt und dem Hause Morrel und Sohn in Marseille gehört.«

»Hat er bei der Militärmarine gedient, ehe er bei der Handelsmarine diente?«

»Oh nein, mein Herr, er ist ein ganz junger Mensch.«

»Wie alt?«

»Höchstens neunzehn bis zwanzig Jahre.«

In diesem Augenblicke und als Villefort, der der Grande-Rue folgte, an der Ecke der Rue des Conseils gelangt war, sprach ihn ein Mann an, der ihn im Vorbeigehen zu erwarten schien: es war Herr Morrel.

»Ah, Herr von Villefort!« rief der brave Mann als er den Substitut erblickte, »ich bin sehr glücklich Sie zu treffen. Denken Sie, daß man den seltsamsten, den unerhörtesten Mißgriff begangen hat: man hat den Second meines Schiffes, Edmond Dantes, verhaftet.«

»Ich weiß es, mein Herr,« antwortete Villefort, »und werde ihn sogleich verhören.«

»Oh, Herr!« fuhr Morrel, hingerissen von seiner Freundschaft für den jungen Mann, fort, »Sie kennen Denjenigen nicht, welchen man anklagt, aber ich kenne ihn. Denken Sie sich den sanftestem den redlichsten Menschen, und ich wage wohl zu behaupten, den Mann der sein Geschäft bei der ganzen Handelsmarine am Besten versteht. Oh, Herr von Villefort, ich empfehle Ihnen denselben aufrichtig und von ganzem Herzen.«

Villefort gehörte, wie man sehen konnte, der adeligen Partei der Stadt an und Morrel der plebejischen. Der Erste war Ultraroyalist, der Zweite des Bonapartismus verdächtig. Villefort schaute Morrel verächtlich an und antwortete ihm mit kaltem Tone:

»Sie wissen, mein Herr, daß man sanft im Privatleben, ehrlich in seinen Handelsverbindungen, geschickt in seinem Berufe, und darum nicht minder, politisch zu sprechen, ein großer Verbrecher sein kann. Sie wissen das, nicht wahr, mein Herr?«

Der Beamte legte auf diese letzten Worte einen besondern Nachdruck, als wollte er sie auf den Reeder selbst anwenden, während sein forschender Blick bis in die Tiefe des Herzens dieses Mannes dringen zu wollen schien, welcher so kühn warf für einen Andern in das Mittel zu treten, während er wissen mußte, daß er selbst der Nachsicht bedurfte.

Morrel errötete, denn er fühlte, daß sein Gewissen in Beziehung auf seine politische Gesinnung nicht ganz rein war, und überdies beunruhigte seinen Geist einigermaßen die vertrauliche Mitteilung, welche ihm Dantes hinsichtlich seiner Zusammenkunft mit dem Großmarschall und einiger Worte gemacht hatte, welche von dem.Kaiser an ihn gerichtet worden waren. Er fügte indessen mit dem Tone der tiefsten Teilnahme bei:

»Ich bitte Sie inständig, Herr von Villefort, seien Sie gerecht, wie Sie es sein müssen, gut, wie Sie es immer sind, und geben Sie uns schleunigst diesen armen Dantes zurück.«

Das »Geben Sie uns« klang in dem Ohre des Substituten des Staatsanwaltes ganz revolutionär.

»Ei ei,« sagte er ganz leise zu sich selbst, »geben Sie uns . . . sollte dieser Dantes zu irgend einer Carbonari-Verbindung gehören, daß sein Beschützer, ohne daran zu denken, sich der Collectivform bedient! Man hat ihn in einer Schenke verhaftet, wie mir der Commissär sagte: in zahlreicher Gesellschaft, fügte derselbe bei: das wird wohl eine Zusammenkunft gewesen sein.«

Dann antwortete er laut:

»Mein Herr, Sie können vollkommen ruhig sein. Sie werden nicht vergeblich an meine Gerechtigkeit appelliert haben, wenn der Angeklagte unschuldig ist. Ist er dagegen schuldig, so leben wir in einer schwierigen Zeit, mein Herr, wo die Straflosigkeit ein unseliges Beispiel geben würde. Ich werde also genötigt sein, meine Pflicht zu tun.«

Und hiernach., da er die Thüre seines unmittelbar an den Justizpalast anstoßenden Hauses erreicht hatte, grüßte er mit einer eisigen Höflichkeit den unglücklichen Reeder, der wie versteinert auf dem Platze blieb, wo ihn Villefort gelassen hatte, und trat majestätisch in seine Wohnung.

Das Vorzimmer war voll von Gendarmen und Polizeiagenten. Mitten unter ihnen stand streng bewacht, gleichsam umhüllt von flammenden Blicken des Hasses, ruhig und unbeweglich der Gefangene.

Villefort schritt durch das Vorzimmer, warf einen flüchtigen Blick auf Dantes, nahm ein Bündel Akten, das ihm ein Agent überreichte und verschwand mit den Worten:

»Man führe den Gefangenen vor.«

So rasch dieser Blick auch gewesen war, so genügte er doch für Villefort. um ihm einen Begriff von dem Menschen zu geben, den er verhören sollte. Er hatte den Verstand, in dieser breitem offenen Stirne den Mut in dem festen Augen und die Treuherzigkeit in den dicken, halb geöffneten Lippen erkannt, weiche eine doppelte Reihe von Zähnen, so weiß wie Elfenbein, erschauen ließen.

Der erste Eindruck war für Dantes günstig gewesen; aber Villefort hatte so oft als ein Wort tiefer Politik sagen hören, man müsse seiner ersten Bewegung mißtrauen, insofern diese die gute sei, daß er die Maxime auf den Eindruck anwandte, ohne die Verschiedenheit in Betracht zu ziehen, welche zwischen den zwei Worten stattfindet.

Er erstickte also die guten Instinkte, welche sich seines Herzens bemächtigen wollten, um von da seinen Geist anzugreifen, ordnete vor dem Spiegel sein Festtagsgesicht und setzte sich dann düster und drohend an seinen Schreibtisch.

Einen Augenblick nach ihm trat Dantes ein.

Der junge Mann war immer noch bleich, aber ruhig und lächelnd. Er verbeugte sich vor seinem Richter mit ungezwungener Artigkeit und suchte dann mit den Augen einen Stuhl, als wäre er in dem Salon des Reeders Morrel gewesen.

Jetzt erst begegnete er dem trüben Blicke von Villefort, dem Blicke, der den Männern des Justizpalastes eigenthümlich ist, welche nicht in ihren Gedanken lesen lassen wollen und aus ihrem Auge ein matt geschliffenes Glas machen. Dieser Blick belehrte ihn, daß er sich vor der Justiz, einer Gestalt von düsteren Formen, befand.

»Wer sind Sie und wie heißen Sie?« fragte Villefort, in den Akten blätternd, die ihm der Agent bei seinem Eintritte übergeben hatte, und welche bereits sehr umfangreich geworden waren, so rasch hängt sich das Spionirhandwerk an den unglücklichen Körper, den man die Angeklagten nennt.

»Ich heiße Edmond Dantes, mein Herr,« antwortete der junge Mann mit einer ruhigen, klangreichen Stimme, »und bin Second an Bord des Schiffes der Pharaon, das den Herren Morrel und Sohn gehört.«

»Ihr Alter?« fuhr Villefort fort.

»Neunzehn Jahre,« antwortete Dantes.

»Was thaten Sie in dem Augenblick, wo Sie verhaftet wurden?«

»Ich wohnte meinem eigenen Verlobungsmahle bei mein Herr.« sagte Dantes mit einer leicht bewegten Stimme, so schmerzlich war der Contrast jener Augenblicke der Freude mit der traurigen Ceremonie, welche sich hier erfüllte, so sehr machte das düstere Gesicht von Herrn von Villefort das strahlende Antlitz von Mercedes in seinem ganzen Licht erglänzen.

»Sie wohnten Ihrem Verlobungsmahle bei?« sprach der Substitut unwillkürlich zitternd.

»Ja, mein Herr, ich bin im Begriff, ein Mädchen zu heiraten, das ich seit drei Jahren liebe.«

So empfindlich Villefort gewöhnlich war, so wurde er doch heftig von diesem Zusammentreffen berührt, und die bewegte Stimme von Dantes sollte eine sympathetische Fiber im Grunde seiner Seele erwecken: er heiratete auch, er war auch glücklich. wie Dantes, und man hatte ihn in seinem Glücke gestört, damit er zur Vernichtung der Freude eines Menschen beitrüge, der, wie er, seiner Seligkeit so nahe stand.

»Diele philosophische Zusammenstellung,« dachte er, »wird große Wirkung bei meiner Rückkehr in den Salon von Herrn Meran hervorbringen;« und er ordnete im Voraus, während Dantes neue Fragen erwartete, in seinem Geiste die Gegensätze, mit deren Hilfe die nach Beifall trachtenden Redner Phrasen bauen, welche zuweilen zu dem Glauben führen, dieselben besitzen eine wirkliche Beredsamkeit.

Als seine kleine Rede im Innern geordnet war, lächelte Villefort über ihre Wirkung, und sagte zu Dantes zurückkehrend:

»Fahren Sie fort, mein Herr!«

»Was soll ich fortfahren.«

»Das Gericht zu erleuchten.«

»Das Gericht möge mir sagen, in welchem Punkte es Licht haben will, und ich werde ihm mitteilen, was ich weiß; nur,« fügte er ebenfalls mit einem Lächeln bei, »nur muß ich zum Voraus darauf aufmerksam machen, daß im nicht viel weiß.«

»Haben Sie unter dem Usurpator gedient?«

»Ich sollte bei der Militärmarine einverleibt werden, als er fiel«

»Man sagt, Sie haben sehr auffallende politische Ansichten,« sprach Villefort, bei dem man hiervon nicht gehaucht hatte, der jedoch gern die Frage stellte, wie man eine Anklage stellt.

»Meine politischen Ansichten, mein Herr, ach! ich schäme mich beinahe, es zu gestehen, aber ich habe nie das gehabt, was man eine Ansicht nennt; Ich bin kaum neunzehn Jahre alt, wie ich zu bemerken die Ehre hatte, ich weiß nichts, ich bin nicht bestimmt, irgend eine Rolle zu spielen, das Wenige aber, was ich weiß und was ich sein werde, wenn man mir die Stelle bewilligt, nach der ich trachte, habe ich Herrn Morrel zu verdanken. Alle meine Ansichten, ich sage nicht politische. sondern Privatansichten, beschränken sich auf folgende drei Gefühle: ich liebe meinen Vater, ich ehre Herrn Morrel und bete Mercedes an. Das ist Alles, mein Herr, was ich dem Gerichte sagen kann, und Sie sehen, daß es nicht sehr interessant für dasselbe ist.«

Während Dantes so sprach, schaute Villefort sein zugleich so sanftes und so offenes Gesicht an, und fühlte in seinen Geist die Worte von Renée zurückkehren, die, ohne den Gefangenen zu kennen. um Nachsicht für ihn gebeten hatte. Mit der Gewohnheit. welche der Substitut des Verbrechers und der Verbrecher bereits besaß, sah er bei jedem Worte von Dantes den Beweis seiner Unschuld hervortreten, dieser junge Mann, man könnte beinahe sagen, dieses Kind, einfach, natürlich, beredet mit jener Beredsamkeit des Herzens, die man nie findet, wenn man sie sucht, voll Zärtlichkeit für Alle, denn er war glücklich und das Glück macht sogar die Bösen gut, ergoß bis auf den Richter die sanfte Freundlichkeit, von der sein Herz überströmte. Edmond hatte in dem Blicke, in der Stimme, in der Gebärde, so rauh und streng Villefort gegen ihn gewesen war, nur Liebkosungen und Güte für denjenigen, welcher ihn befragte.

»Bei Gott.« sagte Villefort zu sich selbst, »das ist ein reizender Junge. und ich werde hoffentlich nicht viel Mühe haben. mich bei Renée willkommen zu machen, wenn ich ihrer Empfehlung Folge leiste. Das trägt mir einen guten Händedruck vor aller Welt und einen herzlichen Kuß in einem Winkel ein.«

Bei dieser doppelten Hoffnung erheiterte sich das Antlitz von Villefort dergestalt, daß, als er seine Blicke von seinem Gedanken auf Dantes übertrug, Dantes, der allen Bewegungen in der Physiognomie seines Richters gefolgt war, lächelte wie sein Gedanke.

»Mein Herr,« sprach Villefort, »ist Ihnen bekannt, daß Sie einige Feinde haben?«

»Feinde., ich?« erwiderte Dantes, »ich habe das Glück. noch zu wenig zu sein, als daß mir meine Stellung Feinde gemacht haben sollte. Was meinen vielleicht etwas lebhaften Charakter betrifft. so suche ich denselben stets gegen meine Untergeordneten zu mildern. Ich habe zehn bis zwölf Matrosen unter meinem Befehle, man befrage sie, mein Herr, und sie werden Ihnen sagen, daß sie mich lieben und achten, nicht wie einen Vater, dazu bin ich noch zu jung, sondern wie einen älteren Bruder.«

»Aber in Ermangelung von Feinden haben Sie vielleicht Neider. Sie sollen mit neunzehn Jahren zum Kapitän erwählt werden, das ist ein hoher Posten in Ihrem Stande; Sie sollen ein hübsches Mädchen heiraten, das Sie liebt, das ist ein seltenes Glück bei allen Ständen der Erde. Diele zwei Vorzüge des Schicksals konnten Ihnen Neider zuziehen.«

»Ja, Sie haben Recht, Sie müssen die Menschen besser kennen als ich, und das ist möglich. Sollten aber diese Neider unter meinen Freunden sein, so gestehe ich daß ich sie lieber nicht kennen lernen will, um sie nicht hassen zu müssen.«

»Sie haben Unrecht, mein Herr, man muß so viel als möglich klar um sich her sehen. In der Tat, Sie scheinen mir ein so würdiger junger Mann zu sein, daß ich von der gewöhnlichen Regel des Gerichtsverfahrens abgehen und Ihnen zum Lichte verhelfen will, indem ich Ihnen die Anzeige mitteile, durch die Sie vor mich gebracht worden sind. Hier ist das anklagende Papier. Erkennen Sie die Handschrift?«

Villefort zog den Brief aus seiner Tasche und reichte ihn Dantes, dieser schaute und las. Eine Wolke zog über seine Stirne hin und er sagte:

»Nein, mein Herr, ich kenne diese Handschrift nicht sie ist verstellt, und dennoch hat sie eine sehr freie Form. Jedenfalls ist es eine geschickte Hand, welche dieses geschrieben hat; ich bin sehr glücklich,« fügte er Villefort dankbar anschauend bei, »daß ich es mit einem Manne, wie Sie sind, zu tun habe, denn in der Tat, mein Neider ist ein wahrer Feind.«

Und an dem Blitze, welcher in den Augen des jungen Mannes zuckte, als er diese Worte sprach, konnte Villefort erkennen, wie die heftige Energie unter dieser ursprünglichen Sanftmuth verborgen war.

»Und nun antworten Sie mir offenherzig, mein Herr.,« sagte der Substitut, »nicht wie ein Angeklagter seinem Richter. sondern wie ein Mensch in einer falschen Stellung einem andern Menschen antwortet, der sich für ihn interessiert: was ist wahr an dieser anonymen Anklage?«

Villefort warf mit Widerwillen den Brief, den ihm Dantes zurückgegeben hatte, auf den Schreibtisch.

»Alles oder nichts, mein Herr. Hören Sie die keine Wahrheit, bei meiner Seemannsehre, bei meiner Liebe für Mercedes, bei dem Leben meines Vaters!«

»Sprechen Sie. mein Herr,« sagte Villefort laut.

Dann fügte er leise bei:

»Wenn mich Renée sehen könnte. so wäre sie hoffentlich mit mir zufrieden und würde mich nicht mehr einen Kopfabschneider nennen.«

»Nun wohl! als wir Neapel verließen. wurde der Kapitän Leclère von einer Hirnentzündung befallen. Da wir keinen Arzt an Bord hatten und er an keinem Punkte der Küste anhalten wollte, denn es drängte ihn, nach der Insel Elba zu gelangen, so verschlimmerte sich seine Krankheit dergestalt, daß er am Ende des dritten Tages, als er fühlte, daß er sterben sollte, mich zu sich rief und zu mir sprach: »»Mein lieber Dantes, schwören Sie mir bei Ihrer Ehre, zu tun, was ich Ihnen sagen werde, es betrifft hohe Interessen.««

»»Ich schwöre es Ihnen, Kapitän.«« antwortete ich.

»»Da nach meinem Tode das Commando des Schiffes Ihnen in Ihrer Eigenschaft als Second gebührt, so übernehmen Sie dasselbe; Sie steuern nach der Insel Elba, landen in Porto Ferrajo, fragen nach dem Großmarschall und übergeben ihm diesen Brief. Vielleicht gibt man Ihnen einen andern Brief und beauftragt Sie mit irgend einer Sendung. Diese Sendung, Dantes, welche mir vorbehalten war, werden Sie an meiner Stelle erfüllen, und alle Ehre wird Ihnen zukommen.««

»»Ich werde es tun, Kapitän. Aber vielleicht gelangt man nicht so leicht, als Sie glauben mögen, zu dem Großmarschall.««

»»Hier ist ein Ring, den Sie ihm überschicken.«« versetzte der Kapitän, »»und alle Schwierigkeiten werden gehoben sein.««

»Bei diesen Worten händigte er mir einen Ring ein; es war die höchste Zeit, zwei Stunden nachher erfaßte ihn das Delirium; am andern Tage war er tot.«

»Und was thaten Sie. mein Herr?«

»Was ich tun mußte, und was Jeder an meiner Stelle getan hätte. In jedem Fall sind die Bitten eines Sterbenden heilig; bei den Seeleuten aber sind die Bitten der Vorgesetzten Befehle, die man zu erfüllen hat. Ich steuerte also nach der Insel Elba, wo ich am andern Tage anlangte. Ich confignirte die ganze Mannschaft an Bord und stieg allein an das Land. Wie ich vorhergesehen hatte, machte man mir einige Schwierigkeiten, um mich bei dem Großmarschall einzuführen. Aber ich sandte ihm den Ring, der mir als Erkennungszeichen dienen sollte, und alle Thüren öffneten sich vor mir. Er empfing mich, fragte mich nach den letzten Umständen bei dem Tode des unglücklichen Leclère und übergab mir, als hätte er es geahnet. einen Brief, den er mich persönlich nach Paris zu bringen beauftragte. Ich versprach es ihm, denn das hieß den letzten Willen meines Kapitäns erfüllen. Ich stieg hier an das Land ordnete rasch alle Schiffsangelegenheiten und lief dann zu meiner Braut, die ich liebevoller und schöner als je wiederfand. Mit Hilfe von Herrn Morrel beseitigten wir alle kirchlichen Schwierigkeiten. Ich feierte endlich, wie ich Ihnen sagte, mein Verlobungsmahl, sollte mich in einer Stunde verheiraten. und gedachte morgen nach Paris abzureisen, als ich auf die Denunciation hin, welche Sie jetzt eben so sehr zu verachten scheinen als ich, verhaftet wurde.«

»Ja, ja,« murmelte Villefort, »alles Dies erscheint mir der Wahrheit gemäß, und wenn Sie schuldig sind, so sind Sie nur einer Unklugheit schuldig, und diese wird noch durch die Befehle Ihres Kapitäns gleichsam gesetzlich. Geben Sie uns den Brief, den man Ihnen auf Elba, eingehändigt hat. Verpfänden Sie mir Ihr Ehrenwort, sich bei der ersten Vorladung zu stellen, und kehren Sie zu Ihren Freunden zurück.«

»Ich bin also frei, mein Herr!« rief Dantes im Übermaß der Freude.

»Ja, nur geben Sie mir den Brief.«

»Er muß vor Ihnen liegen, mein Herr, denn man hat Ihn mir mit meinen andern Papieren genommen, und ich erkenne einige davon unter diesem Stoße.«

»Warten Sie,« sprach der Substitut zu Dantes, der seine Handschuhe und seinen Hut nahm; »warten Sie, An wen war er adressiert?«

»An Herrn Noirtier. Rue Coq-Héron in Paris.«

Wäre der Blitz auf Villefort gefallen. er hätte nicht rascher und unvorhergesehener treffen können. Er sank auf seinen Stuhl zurück, von dem er sich halb erhoben hatte, um den Stoß Papiere, die man Dantes abgenommen, zu erreichen, und denselben rasch durchblätternd, zog er den unseligen Brief hervor, auf welchen er einen Blick voll unsäglichen Schreckens warf.

»Herr Noirtier. Rue Coq-Héron. Nro. 13.« murmelte er immer mehr erbleichend.

»Ja. mein Herr.« antwortete Dantes erstaunt. »Kennen Sie ihn?«

»Nein,« versetzte Villefort lebhaft; »ein treuer Diener des Königs kennt die Meuterer nicht.«

»Es handelt sich also um eine Meuterei?« sagte Dantes, der, nachdem er sich frei geglaubt hatte, von einer noch größeren Bangigkeit als zuvor erfaßt wurde. »Jeden Falls wußte ich, wie ich Ihnen vorhin sagte, durchaus nichts von der Depeche, deren Träger ich war.«

»Ja,« versetzte Villefort, mit dumpfem Tone, »aber Sie wissen den Namen des Adressaten.«

»Um ihm selbst den Brief zu überbringen, mußte ich ihn wohl wissen.«

»Und Sie haben diesen Brief Niemand gezeigt?« fragte Villefort, während er las und immer mehr erbleichte.

»Niemand, mein Herr, auf Ehre!«

»Niemand weiß, daß Sie der Träger eines von der Insel Elba kommenden und an Herrn Noirtier adressierten Briefes waren?«

»Niemand, mit Ausnahme desjenigen, welcher mit denselben zugestellt hat.«

»Das ist zu viel, das ist noch zu viel!« murmelte Villefort.

Die Stirne von Villefort verdüsterte sich immer mehr, je näher er dem Ziele kam. Seine bleichen Lippen, seine zitternden Händel, seine glühenden Augen erregten in dem Geiste von Dantes die traurigsten Befürchtungen.

Nachdem Villefort vollends gelesen hatte, ließ er sein Haupt in seine Hände sinken und blieb einen Augenblick unbeweglich.

»Oh mein Gott! was gibt es denn, mein Herr?« fragte Dantes schüchtern.

Villefort antwortete nicht, aber nach einer Minute richtete er seinen bleichen, verstörten Kopf wieder auf und las den Brief zum zweiten Male.

»lind Sie sagen, Sie wissen nichts von dem Inhalte des Briefes?« sprach Villefort.

»Ich wiederhole Ihnen bei meiner Ehre, ich weiß nichts davon,« antwortete Dantes; »aber mein Gott was haben Sie denn? Sie sind unwohl! Soll ich läuten? Soll ich rufen?«

»Nein mein Herr,« antwortete Villefort rasch aufstehend, »rühren Sie sich nicht, sprechen Sie kein Wort. Es ist meine Sache, hier Befehl zu geben, und nicht die Ihrige.

»Mein Herr,« versetzte Dantes verletzt, »ich wollte.Ihnen nur beistehen.«

»Ich brauche nichts, ein vorübergehender Schwindel nicht mehr: beschäftigen Sie sich mit sich selbst, und nicht mit mir. Antworten Sie.«

Dantes erwartete das Verhör, welches diese Frage ankündigte, aber vergebens; Villefort fiel auf seinen Stuhl zurück, fuhr mit einer eisigen Hand über seine mit Schweiß übergossene Stirne und las den Brief zum dritten Male.

»Ah, wenn er weiß, was dieser Brief enthält, und wenn er je erfährt, daß Noirtier der Vater von Villefort ist, so bin ich verloren, auf immer verloren.«

Und von Zeit zu Zeit schaute er Edmond am als hätte sein Blick die unsichtbare Schranke durchbrechen können, welche in dem Herzen die Geheimnisse einschließt die der Mund bewahrt.

»Wir dürfen nicht mehr daran zweifeln!« rief er plötzlich.

»Aber in des Himmels Namen, mein Herr!« sprach der unglückliche junge Manne »wenn Sie an mir zweifeln, wenn Sie einen Verdacht gegen mich haben, so fragen Sie mich, und ich bin bereit zu antworten.«

Villefort machte eine heftige Anstrengung gegen sich selbst und sagte mit einem Tone, dem er Sicherheit verleihen wollte:

»Mein Herr, die schwersten Anschuldigungen entspringen für Sie aus Ihrem Verhöre. Es steht also nicht in meiner Gewalt, wie ich Anfangs gehofft hatte, Sie in Freiheit zu sehen. Ehe ich eine solche Maßregel nehme, muß ich mich mit dem Untersuchungsrichter berathen. Mittlerweile haben Sie gesehen, wie ich gegen Sie verfahren bin.«

»Oh ja, mein Herr!« rief Dantes, »und ich danke Ihnen, denn Sie sind für mich eher ein Freund als ein Richter gewesen.«

»Nun wohl, mein Herr! ich werde Sie noch einige Zeit, doch so kurz, als nur immer möglich, gefangen halten. Die Hauptanklage gegen Sie liegt in diesem Briefe, und Sie sehen . . . «

Villefort näherte sich dem Kamin, warf ihn in das Feuer und blieb dabei stehen, bis er völlig in Asche verwandelt war.

»Und Sie sehen,« fuhr er fort, »daß ich ihn vernichte.«

»Oh, mein Herr!« rief Dantes, »Sie sind mehr als die Gerechtigkeit, Sie sind die Güte!«

»Doch hören Sie mich,« sprach Villefort, »nach einer solchen Handlung müssen Sie natürlich Zutrauen zu mir haben, nicht wahr?«

»Oh, mein Herr, befehlen Sieh ich werde Ihre Befehle befolgen!«

»Nein,« sagte Villefort, sich dem jungen Manne nähernd, »nein, ich will Ihnen keinen Befehl, sondern einen guten Rath geben.«

»Sprechen Sie, und ich werde mich ganz darnach richten.«

»Ich will Sie bis diesen Abend hier im Justizpalaste behalten; vielleicht wird ein Anderer kommen, und Sie befragen. Sagen Sie ihm Alles, was Sie mir gesagt haben, aber kein Wort von diesem Briefe.«

»Ich verspreche es Ihnen, mein Herr,«

Villefort schien zu bitten: der Angeklagte beruhigte den Richter.

»Sie begreifen,« sagte er, einen Blick auf die Asche werfend, die noch die Form des Papiers bewahrte und über den Flammen flackerte, »nun, da dieser Brief vernichtet ist, wissen nur Sie und ich allein, daß er bestanden hat, und man kann Ihnen denselben nicht vorlegen; verleugnen Sie ihn, wenn man davon spricht, verleugnen Sie ihn keck, und Sie sind gerettet.«

»Seien Sie unbesorgt, ich werde leugnen,« sprach Dantes.

»Gut, gut,« versetzte Villefort, und fuhr mit der Hand nach einer Klingelschnur. In dem Augenblicke aber, wo er läuten wollte, hielt er wieder inne und sprach:

»Es war der einzige Brief, den Sie hatten?«

»Der einzige.«

»Schwören Sie!«

Dantes streckte die Hand aus und sagte:

»Ich schwöre.«

Villefort läutete.

Der Polizeikommissär trat ein.

Villefort näherte sich dem öffentlichen Beamten und sagte ihm einige Worte in das Ohr. Der Commissär antwortete mit einem einfachen Zeichen des Kopfes.

»Folgen Sie dem Herrn,« sprach Villefort zu Dantes.

Dantes verbeugte sich, warf einen Blick der Dankbarkeit auf Villefort und ging ab.

»Kaum war die Thüre hinter ihm geschlossen, als Villefort die Kräfte schwanden, und er fiel beinahe ohnmächtig auf einen Stuhl.

Nach einem Augenblick aber murmelte er:

»Oh mein Gott! woran hängen Leben und Glück. Wäre der Staatsanwalt in Marseille gewesen, hätte man den Untersuchungsrichter statt meiner gerufen, so wär ich verloren und dieses Papier, dieses verfluchte Papier stürzte mich in den Abgrund. Oh, mein Vater, mein Vater! wirst Du denn immer ein Hinderniß gegen mein Glück auf dieser Erde sein! Muß ich denn ewig mit Deiner Vergangenheit kämpfen!«

Dann schien plötzlich ein unerwarteter Strahl seinen Geist zu durchzucken, sein Antlitz erleuchtete sich, ein Lächeln umspielte seine noch zusammengepressten Lippen; feine Augen gewannen wieder ihre Festigkeit und schienen auf einem Gedanken zu haften.

»Ja, das ist es,« sagte er, »ja, dieser Brief, der mich zu Grunde richten sollte, wird vielleicht mein Glück machen. Auf, Villefort, an das Werk!«

Und nachdem er sich versichert hattet daß der Angeschuldigte sich nicht mehr im Vorzimmer befand, entfernte sich der Substitut des Staatsanwaltes ebenfalls und ging rasch nach dem Hause seiner Braut.

Der Graf von Monte Christo

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