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Erstes bis fünftes Bändchen
Vierzehntes Kapitel.
Der wütende Gefangene und der verrückte Gefangene
ОглавлениеUngefähr ein Jahr nach der Rückkehr von Ludwig XVIII. fand ein Besuch von Seiten des Herrn Generalinspectors der Gefängnisse statt.
Dantes hörte in seinem Kerker alle die Vorbereitungen rollen und ächzen, welche oben ein gewaltiges Geräusch machten, unten aber ein nicht wahrnehmbares Getöse für jedes andere Ohr gewesen wären, als für das eines Gefangenen, der daran gewöhnt ist in der Stille der Nacht die Spinne, welche ihr Gewebe verfertigt, und den periodischen Fall des Wassertropfens zu hören, der eine Stunde dazu braucht, um sich an der Decke seines Kerkers zu bilden.
Er erriet, daß bei den Lebenden etwas Ungewöhnliches vorging: Dantes bewohnte so lange ein Grab, daß er sich wohl als einen Toten betrachten konnte.
Der Inspector besuchte wirklich hinter einander alle Zimmer, Zellen und Kerker. Mehrere Gefangene wurden vernommen: es waren diejenigen, welche ihre Sanftmuth oder ihre Albernheit dem Wohlwollen der Verwaltung empfahl. Der Inspektor fragte sie über die Nahrungsmittel, welche sie erhielten, und welche Bitten oder Forderungen sie etwa einzubringen hätten.
Sie antworteten einstimmig, die Nahrung wäre abscheulich. und sie forderten ihre Freiheit.
Der Inspector fragte sie, ob sie ihm nichts Anderes zu sagen hätten.
Sie schüttelten den Kopf: was konnten Gefangene Anderes verlangen, als die Freiheit.
Der Inspector wandte sich um und sagte zu dem Gouverneur:.
»Ich weiß nicht, warum man uns die unnützen Rundreisen machen läßt. Wer ein Gefängnis sieht, sieht hundert; wer einen Gefangenen hört, hört tausend. Es ist stets dasselbe: schlecht genährt und unschuldig. Haben Sie noch Andere?
»Ja, wir haben gefährliche Gefangene oder Narren, die wir im Kerker bewachen.«
»Wir wollen sie sehen,« sprach der Inspector mit einer Miene tiefen Überdrusses,« wir wollen unser Geschäft zu Ende führen. Gehen wir in die Kerker hinab.«
»Warten Sie,« sprach der Gouverneur. »man muß wenigstens zwei Mann holen. Die Gefangenen begehen zuweilen, und wäre es nur aus Lebensüberdruß und um sich zum Tode verurteilen zu lassen, unnütze Akte der Verzweiflung, und Sie könnten das Opfer einer solchen Handlung werden.«
»Nehmen Sie also Ihre Vorsichtsmaßregeln,« sagte der Inspector.
Man holte wirklich zwei Soldaten und fing an eine so feuchte, so übelriechende, so schimmelige Treppe hinabzusteigen, daß schon der Gang nach einem solchen Orte den Gesichtssinn und den Geruchssinn auf das Widrigste berührte.
»Oho!« rief der Inspector, auf der Hälfte der Treppe stehen bleibend. »wer Teufels kann hier wohnen?«
»Einer der gefährlichsten Meuterer, ein Mensch, der uns als zu Allem fähig besonders empfohlen ist.«
»Ist er allein?«
»Ja.«
»Wie lange ist er hier?«
»Seit ungefähr einem Jahre?«
»Und man hat ihn gleich bei seinem Eintritt in diesen Kerker gesetzt?«
»Nein, mein Herr, sondern erst nachdem er den Schließer hatte töten wollen, der ihm sein Essen brachte.«
»Er wollte den Schließer töten?«
»Ja, mein Herr, den Menschen, der uns leuchtet. Nicht wahr, Antoine?« fragte der Gouverneur.«
»Allerdings, er wollte mich umbringen.« antwortete der Schließer.
»Der Bursche ist also ein Narr?«
»Es ist noch viel schlimmer,« sprach der Schließer, »er ist ein Teufel.«
»Wollen Sie, daß ich Klage über ihn führe?« fragte der Inspector den Gouverneur.
»Es bedarf dessen nicht, mein Herr, er ist so hinreichend bestraft. Überdies grenzt sein Zustand gegenwärtig an Narrheit, und nach der Erfahrung, die unsere Beobachtungen uns an die Hand geben, wird er, ehe ein weiteres Jahr vergeht, verrückt sein.«
»Meiner Treue, desto besser für ihn,« sprach der Inspector. »Ist er einmal ein völliger Narr, so wird er weniger leiden.«
Dieser Inspector war, wie man sieht, ein Mann voll Menschenfreundlichkeit und ganz würdig der ihm übertragenen philanthropischen Function.
»Sie haben recht, mein Herr,« sagte der Gouverneur, »und Ihre Bemerkung beweist, daß Sie diese Materie gründlich studierten. So haben wir in einem Kerker, der von diesem nur durch etwa zwanzig Faß getrennt ist, und in welchen man auf einer andern Treppe hinabsteigt, einen alten Abbé, einen ehemaligen Parteiführer in Italien. Er ist seit 1811 hier, wurde gegen das Ende des Jahres 1813 verrückt, und seit dieser Zeit ist er körperlich nicht mehr zu erkennen: früher weinte er, jetzt lacht er; früher magerte er ab, jetzt wird er fett. Wollen Sie ihn lieber sehen, als diesen? Seine Narrheit ist belustigend und wird uns daher nicht mißstimmen,«
»Ich werde den Einen und den Andern sehen,« antwortete der Inspector, »man muß sein Geschäft gewissenhaft treiben.«
Der Inspector war auf seiner ersten Rundreife begriffen und wollte der Behörde einen guten Begriff von sich geben.
»Gehen wir also zuerst zu diesem hinein,« fügte er bei.
»Nach Ihrem Belieben,« antwortete der Gouverneur; er machte dem Schließer ein Zeichen, und dieser öffnete die Thüre.
Bei dem klirren der schweren Schlösser, bei dem Ächzen der verrosteten Angeln, welche sich auf ihren Zapfen drehten, erhob, in eine Ecke seines Kerkers gekauert, wo er mit unendlichem Entzücken den dünnen Strahl des Tages empfing, der durch ein schmales, vergittertes Luftloch drang, Dantes sein Haupt.
Bei dem Anblicke eines unbekannten, von zwei Schließern, welche Fackeln trugen, beleuchteten und von zwei Soldaten begleiteten Mannes, mit dem der Gouverneur den Hut in der Hand sprach, erriet Dantes, um was es sich handelte, und sprang, da er sah, daß sich ihm endlich eine Gelegenheit bot, eine höhere Behörde anzuflehen, mit gefalteten Händen vorwärts.
Die Soldaten kreuzten sogleich das Bajonnet, denn sie glaubten, der Gefangene stürze in böser Absicht auf den Inspector los.
Der Inspector selbst machte einen Schritt rückwärts.
Dantes sah. daß man ihn als einen zu fürchtenden Menschen dargestellt hatte.
Da sammelte er in seinem Blicke Alles, was das Herz des Menschen an Sanftheit und Demuth zu enthalten vermag, und suchte, sich mit einer gewissen frommen Beredsamkeit ausdrückend, welche die Anwesenden in Erstaunen setzte, die Seele des hohen Beamten zu rühren.
Der Inspector hörte die Rede von Dantes bis zum Ende an.
»Er wird zur Frömmigkeit übergehen,« sprach er hierauf, sich zum Gouverneur umwendend, mit halber Stimme; »bereits ist er geneigt zu sanfteren Gefühlen. Sehen Sie. die Furcht bringt ihre Wirkung auf ihn hervor; er ist vor den Bajonetten zurückgewichen; ein Narr aber weicht vor nichts zurück: ich habe über diesen Gegenstand in Charenton seltsame Beobachtungen angestellt.«
Dann sich an den Gefangenen wendend, fragte er diesen:
»Was verlangen Sie im Ganzen?«
»Ich verlange zu wissen. welches Verbrechen ich begangen habe; ich verlange, daß man mir Richter gibt; ich verlange, daß mein Prozeß eingeleitet wird; ich verlange, daß man mich erschießt, wenn ich schuldig bin, aber auch, daß man mich in Freiheit setzt, wenn ich. unschuldig bin.«
»Bekommen Sie gute Speise?« fragte der Inspector.
»Ja, ich glaube, ich weiß es nicht. Doch daran ist wenig gelegen. Aber was nicht allein mich, den armen Gefangenen, sondern auch alle Justizbeamten. und sogar den König, welcher regiert, berichten muß, ist, daß ein Unschuldiger nicht das Opfer einer schändlichen Denunciation sein und nicht seine Henker verfluchend eingekerkert bleiben soll.«
»Sie sind heute sehr demütig,« sagte der Gouverneur, »Sie waren nicht immer so. Sie sprachen ganz anders mein lieber Freund, an dem Tage, wo Sie Ihren Wärter ermorden wollten.«
»Das ist wahr, mein Herr,« antwortete Dantes, »und ich bitte diesen Mann um Verzeihung, denn er ist stets gut gegen mich gewesen; aber was wollen Sie? ich war verrückt, ich war wütend.«
»Und Sie sind es nicht mehr?«
»Nein, mein Herr; denn die Gefangenschaft hat mich gebeugt, gebrochen. vernichtet . . . Es ist schon so lange, daß ich hier bin!«
»So lange? . . . und um welche Zeit sind Sie verhaftet worden? fragte der Inspector.
»Am 28. Februar 1815 um zwei Uhr Nachmittags.«
Der Inspector rechnete.
»Wir haben den 30. Juli 1816; was sagen Sie? Sie sind erst seit siebzehn Monaten gefangen.«
»Siebzehn Monate! Oh! mein Herr, Sie wissen nicht, was siebzehn Monate Gefängnis sind; siebzehn Jahre, siebzehn Jahrhunderte, besonders für einen Menschen, der, wie ich, seinem Glücke so nahe stand, für einen Menschen, der, wie ich, ein geliebtes Wesen heiraten sollte, für einen Menschen, der eine ehrenvolle Laufbahn vor sich offen sah. und dem jetzt Alles entrissen ist, der mitten aus dem schönsten Tage in die tiefste Nacht fällt, der seine Zukunft zerstört sieht, der nicht weiß, ob diejenige, welche er liebte, ihn noch liebt, der nicht weiß, ob sein alter Vater gestorben ist oder lebt! Siebzehn Monate Gefängnis für einen Menschen, der an die Luft des Meeres, an die Unabhängigkeit des Seemannes, an den Raum, an die Unermeßlichkeit, an die Unendlichkeit gewöhnt ist, mein Herr! Siebzehn Monate Gefängnis, das ist mehr, als alle Verbrechen verdienen, welche die menschliche Sprache mit den gefährlichsten Namen bezeichnet! Haben Sie daher Mitleid mit mir, mein Herr, und verlangen Sie für mich, nicht Nachsicht, sondern Strenge, nicht Gnade, sondern ein Gericht: Richter, mein Herr, ich verlange nur Richter, man kann einem Angeklagten die Richter nicht verweigern.«
»Es ist gut,« sprach der Inspector, »man wird sehen.«
Dann sich gegen den Gouverneur umwendend:
»In der Tat, der arme Teufel dauert mich; wenn wir hinaufkommen, werden Sie mir das Gefangenen-Register in Beziehung auf ihn zeigen.«
»Ganz gewiss!« antwortete der Gouverneur; »aber Sie werden furchtbare Noten gegen ihn finden.«
»Mein Herr,« fuhr Dantes fort, »ich weiß, daß Sie mich nicht durch eigene Entscheidung freilassen können; doch Sie sind im stande, meine Bitte der Behörde zu übergeben, Sie können eine Untersuchung hervorrufen, mich vor ein Gericht versetzen, ein Gericht, das ist Alles, was ich fordere: ich will wissen, welches Verbrechen ich begangen habe, und zu welcher Strafe ich verurteilt bin. Denn sehen Sie, die Ungewissheit ist die schlimmste von allen Strafen.«
»Leuchtet mir,« sprach der Inspector.
»Mein Herr,« rief Dantes, »ich entnehme dem Tone Ihrer Stimme, daß Sie bewegt sind. Mein Herr sagen Sie mir, daß ich hoffen darf.«
»Ich kann Ihnen das nicht sagen,« antwortete der Inspector, »ich verspreche Ihnen nur, daß ich die Sie betreffenden Akten untersuchen werde.«
»Oh! dann bin ich frei, dann bin ich gerettet!«
»Wer hat Sie verhaften lassen?« fragte der Inspector.
»Herr von Villefort,« antwortete Dantes, »sehen Sie ihn und verständigen Sie sich mit ihm.«
»Herr von Villefort ist seit einem Jahr nicht mehr in Marseille, sondern in Toulouse.«
»Ah! dann wundere ich mich nicht mehr,« murmelte Dantes; »mein einziger Beschützer ist entfernt.«
»Hatte Herr von Villefort irgend einen Grund des Hasses gegen Sie?« fragte der Inspector.
»Keinen, mein Herr, er benahm sich sogar sehr wohlwollend gegen mich.«
»Ich kann mich also auf die Noten verlassen, die er über Sie gemacht hat oder mir geben wird.
»Vollkommen, mein Herr.«
»Es ist gut. Warten Sie.«
Dantes fiel auf die Knie und murmelte ein Gebet, worin er Gott diesen Mann empfahl, der in sein Gefängnis herabgestiegen war, wie der Heiland um die Seelen aus der Hölle zu erretten.
Die Thüre schloß sich wieder; aber die Hoffnung welche mit dem Inspector herabgekommen war, blieb ebenfalls im Kerker von Dantes eingeschlossen.
»Wollen Sie das Gefangenen-Register sogleich sehen,« fragte der Gouverneur, »oder zuerst den Kerker des Abbé? besuchen?«
»Endigen wir vollends mit den Kerkern,« antwortete der Inspector; »wenn ich an das Tageslicht zurückkehrte, hätte ich vielleicht nicht mehr den Mut, meine traurige Sendung zu vollenden.«
»Oh! dieser ist kein Gefangener wie der Andere, und seine Narrheit ist minder betrübend, als die Vernunft seines Nachbars.«
»Worin besteht seine Narrheit?«
Er hält sich seltsamer Weise für den Besitzer eines ungeheuren Schatzes. Im ersten Jahre seiner Gefangenschaft ließ er der Regierung eine Million anbieten, wenn sie ihn in Freiheit setzen wollte, im zweiten Jahre zwei Millionen, im dritten Jahre drei, und so fort. Er ist jetzt im fünften Jahre seiner Gefangenschaft, wird Sie bitten, insgeheim mit Ihnen sprechen zu dürfen und Ihnen fünf Millionen anbieten.«
»Oh, das ist sonderbar,« sprach der Inspector, »und wie heißt dieser Millionär?«
»Abbé Faria.«
»Nro. 27?« fragte der Inspector.
»Es ist hier. Öffne Antoine.«
Der Schließer öffnete, und der Inspector warf einen neugierigen Blick in den Kerker des närrischen Abbé.
So nannte man allgemein den Gefangenen.
Mitten im Zimmer in einem mit einem Stücke von der Mauer abgelösten Kalk auf der Erde gezogenen Kreise, lag ein beinahe nackter Mensch, so sehr waren seine Kleider in Lumpen zerfallen. Er zeichnete in den Kreis sehr eifrig eine geometrische Linie und schien eben so sehr mit der Lösung seines Problems beschäftigt, als es Archimed war, da er von einem Soldaten des Marcellus getötet wurde. Er rührte sich nicht bei dem Geräusche, welches das Öffnen des Kerkers veranlaßte, und schien erst zu erwachen, als das Licht der Fackeln mit einem ungewohnten Glanze den feuchten Boden übergoß, auf welchem er arbeitete. Dann wandte er sich um und sah mit Erstaunen die zahlreiche Gesellschaft, welche in seinen Kerker herabgestiegen war.
Sogleich stand er lebhaft auf, nahm eine Decke welche am Fuße seines elenden Bettes lag, und wickelte sich darein, um in einem schicklicheren Zustande in den Augen der Fremden zu erscheinen.
»Was wünschen Sie?« sprach der Inspector ohne, seine Formel zu verändern.
»Ich mein Herr?« »versetzte der Abbé mit erstaunter Miene, »ich wünsche nichts.«
»Sie verstehen mich nicht,« erwiderte der Inspector, »ich bin Agent der Regierung und habe den Auftrag, die Forderungen der Gefangenen anzuhören.«
»Oh! dann ist es etwas Anders, mein Herr,« rief der Abbé, »und ich hoffe, wir werden uns verständigen.«
»Sehen Sie,« sagte leise der Gouverneur, »fängt es nicht an, wie ich gesagt habe?«
»Mein Herr, fuhr der Gefangene fort, ich bin der Abbé Faria, geboren zu Rom; ich war zwanzig Jahre Sekretär des Cardinal Rospigliosi; wurde, ohne zu wissen warum, am Anfange des Jahrs 1811 verhaftet. Seit dieser Zeit reclamire ich meine Freiheit von den italienischen und französischen Behörden.«
»Warum von den italienischen Behörden?« fragte der Gouverneur.
»Weil ich in Piombino verhaftet worden bin und annehme, daß Piombino, wie Mailand und Florenz, der Hauptort eines französischen Departement geworden ist.«
Der Inspector und der Gouverneur schauten sich lachend an.
»Teufel, mein Lieber,« sagte der Inspector, »Ihre Nachrichten aus Italien sind nicht ganz neu.«
»Sie datieren von dem Tage meiner Verhaftung,« erwiderte der Abbé Faria, »und da Seine Majestät der Kaiser das Königreich Rom für den Sohn, den ihm der Himmel geschenkt, geschaffen hatte, so nehme ich an, daß er den Lauf seiner Eroberungen fortsetzend, den Traum von Macchiavell und Cesare Borgia verwirklicht hat, der darin bestand, daß aus ganz Italien ein einziges Königreich gemacht werden sollte.«
»Mein Herr,« sagte der Inspector, »die Vorsehung hat glücklicher Weise einige Veränderungen an diesem Riesenplane bewerkstelligt, dessen warmer Parteigänger Sie zu sein scheinen.«
»Es ist das einzige Mittel, um aus Italien einen starken, unabhängigen und glücklichen Staat zu machen,« erwiderte der Abbé.
»Das ist möglich,« versetzte der Inspector,« aber ich bin nicht hierher gekommen, um mit Ihnen einen Cursus ultramontaner Politik durchzumachen, sondern um Sie zu fragen, ob Sie irgend etwas in Beziehung auf Ihre Kost und Wohnung wünschen?«
»Die Kost ist die aller Gefängnisse,« antwortete der Abbé!« »das heißt, sie ist sehr schlecht. Was die Wohnung betrifft, so sehen Sie, daß sie feucht und ungesund aber nichtsdestoweniger ziemlich anständig für einen Kerker ist. Es handelt sich aber jetzt nicht um dieses, sondern um Mitteilungen von der höchsten Wichtigkeit, und dem höchsten Interesse, die ich der Regierung zu machen habe.
»Jetzt kommen wir zu der Sache,« sprach leise der Gouverneur zu dem Inspector.
»Deshalb bin ich so glücklich, Sie zu sehen, obgleich Sie mich in einer sehr wichtigen Berechnung gestört haben, in einer Berechnung, welche, wenn sie gelingt, vielleicht das System von Newton verändert. Können Sie mir die Gunst einer geheimen Unterredung bewilligen?«
»Was sagte ich?« sprach der Gouverneur zu dem Inspector.
»Sie kennen Ihr Personal,« antwortete der Letztere lächelnd.
Dann sich gegen Farin umwendend:
»Mein Herr, was Sie von mir verlangen, ist unmöglich.«
»Wenn es sich jedoch darum handelte,« versetzte der Abbé, »Die Regierung eine ungeheure Summe gewinnen zu lassen, fünf Millionen zum Beispiel?«
»Meiner Treue,« sprach der Inspector zu dem Gouverneur, »Sie haben Alles sogar bis auf die Summe vorhergesagt.«
»Es ist nicht notwendig,« versetzte der Abbé, als er bemerkte, daß der Inspector eine Bewegung machte, um sich zu entfernen, »es ist nicht notwendig, daß wie allein sind. Der Herr Gouverneur kann unserer Unterredung beiwohnen.«
»Mein lieber Herr,« sagte der Gouverneur, »leider wissen wir zum Voraus und auswendig, was Sie uns sagen wollen; es handelt sich um Ihre Schätze, nicht wahr«
Faria schaute diesen spöttischen Mann mit Augen an, worin ein unbeteiligter Beobachter den Blitz der Vernunft und der Wahrheit hätte leuchten sehen.
»Allerdings,« sagte er, »wovon soll ich sprechen, wenn nicht von diesen?«
»Herr Inspector,« fuhr der Gouverneur fort, »ich kann Ihnen diese Geschichte ebenso gut erzählen, als der Herr Abbé selbst; denn seit vier oder fünf Jahren muß ich immer und ewig dasselbe hören.«
»Das beweist, mein Herr,« sagte der Abbé, »daß Sie wie die Menschen sind, von denen die Schrift spricht, welche Augen haben und nicht sehen, welche Ohren haben und nicht hören.«
»Mein lieber Herr, die Regierung ist reich und bedarf, Gott sei Dank Ihres Schatzes nicht, Behalten Sie ihn also für den Tag, wo Sie dieses Gefängnis verlassen werden.«
»Das Auge des Abbé erweiterte sich, er ergriff die Hand des Inspectors und sagte:
»Aber wenn ich das Gefängnis nicht verlasse, wenn ich gegen jede Gerechtigkeit in diesem Kerker zurückgehalten werde, wenn ich hier sterbe, ohne mein Geheimnis irgend Jemand vermacht zu haben, so ist also dieser Schatz verloren? Ist es nicht besser, wenn die Regierung daraus Nutzen zieht und ich ebenfalls? Ich werde bis zu sechs Millionen gehen, mein Herr, ja, ich werde sechs Millionen abtreten und mich mit dem Reste begnügen, wenn man mir die Freiheit schenken will.«
»Auf mein Wort,« sprach der Inspector mit halber Stimme, »wenn man nicht wüßte, daß dieser Mensch ein Narr ist, so müßte man glauben, er sagte die Wahrheit, denn er spricht mit völlig überzeugtem Tone.«
»Ich bin kein Narr, mein Herr, und sage die Wahrheit,« versetzte Faria, welcher mit der den Gefangenen eigenthümlichen Feinheit des Gehörs keines von den Worten des Inspectors verloren hatte. »Der Schatz von dem ich spreche, ist wirklich vorhanden, und ich erbiete mich, einen Vertrag mit Ihnen zu unterschreiben, kraft dessen Sie mich an den von mir angegebenen Ort führen; man wird die Erde unter unsern Augen aufgraben, und wenn ich lüge, wenn man nichts findet, so bin ich ein Narr, wie Sie sagen, und Sie bringen mich in diesen Kerker zurück, wo ich ewig bleiben und sterben werde, ohne von irgend Jemand mehr etwas zu verlangen.«
Der Gouverneur brach in ein Gelächter aus und sagte:
»Ist Ihr Schatz weit von hier entfernt?«
»Ungefähr hundert Meilen.« antwortete Faria.
»Die Sache ist nicht übel ersonnen,« sprach der Gouverneur: »wenn alle Gefangenen sich damit.belustigen wollten, ihre Wärter auf hundert Meilen spazieren zu führen, und wenn die Wärter zu einem solchen Spaziergange einwilligten, so wäre es ein vortreffliches Mittel für die Gefangenen, das freie Feld zu gewinnen, sobald sie eine Gelegenheit fanden, und während einer solchen Reise wurde sich die Gelegenheit sicherlich bieten.«
»Es ist ein bekanntes Mittel,« sagte der Inspector, »und der Herr hat nicht einmal das Verdienst der Erfindung.
Dann sich gegen den Abbé umwendend:
»Ich habe Sie gefragt, ob Sie gute Nahrung bekamen?«
»Mein Herr,« antwortete Faria. »schwören Sie mir bei Christus, mich zu befreien, wenn ich Ihnen die Wahrheit gesagt habe, und ich werde Ihnen den Ort nennen, wo mein Schatz vergraben liegt.«
»Und Sie bekommen gute Kost?« wiederholte der Inspector.
»Mein Herr, Sie wagen dabei nichts, und Sie sehen, daß ich mir dadurch nicht eine Gelegenheit verschaffen will, mich zu flüchten, da ich in dem Gefängnis bleibe, während man die Reise macht.«
»Sie antworten mir nicht auf meine Frage?« versetzte der Inspector ungeduldig.
»Und Sie mir nicht auf meine Bitte!« rief der Abbé. »Seien Sie also verflucht, wie die andern Wahnsinnigen, die mir nicht glauben wollten! Sie wollen nicht von meinem Golde! ich werde es behalten; Sie verweigern mir die Freiheit, Gott wird sie mir schicken. Gehen Sie, ich habe nichts mehr zu sagen.«
Und seine Decke zurückwerfend, faßte der Abbé wieder sein Gypsstück, setzte sich abermals mitten in seinen Kreis und fuhr mit seinen Linien und Zahlen fort.
»Was macht er da?« fragte der Inspector sich entfernend.
»Er berechnet seine Schätze,« versetzte der Gouverneur.
Faria erwiderte diesen Spott mit einem Blicke, in welchen, sich die tiefste Verachtung ausdrückte.
Sie gingen weg. Der Gefangenenwärter schloß die Thüre hinter ihnen.
»Er muß in der Tat einige Schätze besessen haben, sprach der Inspector die Treppe hinaufsteigend.
»Es hat ihm wohl von dem Besitze derselben geträumt,« antwortete der Gouverneur, »und am andern Morgen ist er als Narr erwacht.«.
»In der Tat,« versetzte der Inspector, mit der Naivität der Verdorbenheit, »wenn er wirklich reich gewesen wäre, so säße er nicht im Gefängnis.«
So endigte das Abenteuer für den Abbé. Er blieb Gefangener, und in Folge dieses Besuches vermehrte sich noch sein Ruf als lustiger Narr.
Caligula und Nero, diese großen Schatzgräber, diese Menschen, welche nach dem Unmöglichen begehrten, hätten den Worten des armen Mannes Gehör geschenkt, ihm die Luft, die er verlangte, den Raum, den er so hoch anschlug, und die Freiheit, die er so teuer zu bezahlen sich anerbot, bewilligt. Aber die Könige unserer Tage haben, in den Schranken des Wahrscheinlichen gehalten, nicht mehr dieselbe Kühnheit des Willens. Sie fürchten das Ohr, das die Befehle hört, die sie geben, das Auge, das ihre Handlungen erforscht. Sie fühlen die Erhabenheit ihres göttlichen Wesens nicht mehr, sie sind gekrönte Wesen und nicht weiter. Früher wähnten sie sich oder nannten sie sich wenigstens Söhne Jupiters und bewahrten etwas von der Art und Weise des Gottes, ihres Vaters: man beaufsichtigt nicht leicht das, was über den Wolken vorgeht. Heutigen Tages lassen sich die Könige leicht erreichen und durchschauen. Wie es nun der despotischen Regierung stets widerstrebte, die Wirkungen des Gefängnisses und der Folter am hellen Tage zu zeigen, wie es wenige Beispiele gibt, daß ein Opfer der Inquisition mit seinen zermalmten Gliedern und seinen blutenden Wunden wieder erscheinen konnte, so verbirgt sich die Narrheit, dieses in dem Kothe der Kerker in Folge moralischer Leiden geborene Geschwür, beinahe immer sorgfältig an dem Orte, wo es geboren worden ist, und wenn es herauskommt, so begräbt es sich in irgend einem düstern Hospital, wo die Ärzte weder den Menschen, noch den Geist in den gestaltlosen Trümmern erkennen, die ihnen der müde Kerkermeister übergibt.
Im Gefängnisse ein Narr geworden, war der Abbé Faria gerade durch seine Narrheit zu lebenslänglichem Gefängnisse verurteilt.
Was Dantes betrifft. so hielt der Inspector sein Wort. Als er in die Wohnung des Gouverneur kam, ließ er sich das Gefangenen-Register geben.
Die den Gefangenen betreffende Note war also abgefasst:
| Wüthender Bonapartist, hat thätigen Anteil
Edmond Dantes | an der Rückkehr von der Insel Elba genommen.
| Im geheimsten Gewahrsam und unter
| der strengsten Aufsicht zu halten.
Diese Note war von einer andern Handschrift und mit einer andern Tinte geschrieben, woraus hervorging, daß man sie während der Gefangenschaft von Dantes beigefügt hatte.
Die Anklage war zu bestimmt, um eine Bekämpfung derselben zu versuchen. Der Inspector schrieb also neben an:
»Nichts zu machen.«
Dieser Besuch hatte Dantes gleichsam wiederbelebt. Seitdem er in das Gefängnis gekommen war, hatte er die Tage zu zählen vergessen; aber der Inspector gab ihm ein neues Datum. und Dantes vergaß es nicht. Hinter ihm schrieb er an die Wand mit einem Stücke von der Decke abgelösten Gyps den 30. Juli 1816, und von diesem Augenblick an machte er jeden Tag eine Kerbe, damit ihm das Maß der Zeit nicht entgehe.
Die Tage verliefen, dann die Wochen, dann die Monate: Dantes wartete immer. Er hatte damit angefangen, daß er für seine Befreiung einen Termin von vierzehn Tagen feststellte. Setzte er die Hälfte der Teilnahme für seine Angelegenheit, welche der Gouverneur gehabt zu haben schien, so waren vierzehn Tage hinreichend zur Verfolgung derselben. Als diese vierzehn Tage abgelaufen waren, sagte er sich, es wäre albern von ihm, zu glauben, der Inspector würde sich vor seiner Rückkehr nach Paris mit ihm beschäftigen; seine Rückkehr könnte aber nicht eher stattfinden, als bis er seine Rundreise vollendet hätte, und diese Rundreise dürfte einen bis zwei Monate dauern. Er gab sich also drei Monate, statt der vierzehn Tage. Als die drei Monate abgelaufen waren, kam ihm eine andere Betrachtung zu Hilfe, und er bewilligte sechs Monate. Als aber diese sechs Monate abgelaufen waren, fand es sich, daß er zehn und einen halben Monat gewartet hatte. Während dieser zehn Monate hatte sich nichts in Beziehung auf seine Behandlung im Kerken verändert; keine tröstliche Nachricht war zu ihm gelangt, der Gefangenenwärter blieb bei seinen Fragen stumm wie gewöhnlich. Dantes fing an, an seinen Sinnen zu verzweifeln und zu glauben, das, was er für eine Erinnerung des Gedächtnisses hielt, wäre nichts als die tolle Ausgeburt seines Gehirnes, und der tröstende Engel, der in seinem Gefängnisse erschienen, sei auf den Flügeln eines Traumes herabgekommen.
Nach Verlauf eines Jahres wurde der Gouverneur verändert. Er hatte die Direction der Festung Ham bekommen und nahm den Schließer von Dantes mit. Ein neuer Gouverneur kam an; es wäre für ihn zu lang gewesen, sich nach allen Namen der Gefangenen zu erkundigen; er ließ sich nur ihre Nummern vorlegen. Dieses furchtbare Hotel garni bestand aus fünfzig Zimmern: ihre Bewohner wurden mit der Nummer des Zimmers, das sie inne hatten, vorgerufen, und der unglückliche junge Mann hörte auf, seinen Vornamen Edmond oder seinen Namen Dantes zu führen; er hieß Numero 34.