Читать книгу Verbrechen und Wahrheit (eBook) - Alex Marzano-Lesnevich - Страница 11
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Louisiana, 1992
Der Junge trägt kurze Hosen, deren Farbe an die Seen in Louisiana erinnert. Später wird der Polizeibericht die Farbe als »Blau« verzeichnen, aber in allen Beschreibungen, die sie gibt, wird seine Mutter darauf bestehen, sie »Aquamarin« oder »Blaugrün« zu nennen. Seine Füße stecken in schlammverkrusteten Wanderschuhen, wie jeder Junge in diesem Teil des Staates sie hat, ideal, um darin in den Wäldern zu spielen. Eine kleine Faust umschließt den Griff eines Luftgewehrs, das halb so groß ist wie er selbst. Es ist eine Waffe der Marke Daisy mit einem langen, braunen Plastiklauf, den der Junge poliert, bis er glänzt wie echtes Metall. Als einziges Kind einer alleinerziehenden Mutter ist Jeremy Guillory daran gewöhnt, häufig umzuziehen und in fremden Schlafzimmern zu übernachten. Die Freunde seiner Mutter leben alle in gemieteten Häusern entlang derselben Sackgasse, die der Eigentümer »Watson Road« nennt, wann immer er die Miete erhöhen will, die aber in Wirklichkeit keinen Namen hat. Selbst die Polizisten der örtlichen Polizeidirektion werden später nachfragen müssen, um den Weg dorthin zu finden. Siedler aus Iowa benannten die Siedlung einst nach ihrem Heimatstaat, aber da sie einen Neubeginn suchten, sprachen sie den Namen »Io-way« aus, obwohl sie die ursprüngliche Schreibweise beibehielten. Diese Stadt ist schon immer ein Ort gewesen, an den Leute für einen Neuanfang kommen – und zugleich ein Ort, an dem sie es nie so ganz schaffen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Hier also schlüpfen der Junge und die Mutter bei jedem unter, der in der Lage ist, die monatliche Stromrechnung zu bezahlen, und der dafür sorgt, dass das Gas im nächsten Monat nicht abgestellt wird. Wo auch immer der Junge landet, hat er sein Luftgewehr dabei. Für ihn ist es sein größter Schatz.
Es ist die erste Februarwoche. Die Blätter der Bäume sind grün und üppig, aber bei Nacht sinken die Temperaturen empfindlich. Lorilei, Jeremys Mutter, arbeitet nicht. Sie hat ein Haus nur für sie beide gemietet – ihr erstes –, aber der Strom wurde ihnen abgestellt. Ihr Bruder Richard lebt in einem weitläufigen Eigenheim oben auf dem Hügel, aber sie ist nicht bei ihm untergekommen. Stattdessen wohnen Lorilei und Jeremy zurzeit bei Lorileis Freundin Melissa, deren Partner Michael und ihrem gemeinsamen Baby. Das Kind ist zwei, alt genug, dass es mit dem Jungen spielen will und brüllt, wenn es seinen Willen nicht bekommt.
Heute schreit das Baby die ganze Zeit. Jeremy ist sechs Jahre alt und gerade aus dem gelben Bus ausgestiegen, der ihn von der Vorschule heimgebracht hat. Er schlingt seinen Nachmittagsimbiss hinunter und träumt sich weg von dem Lärm, träumt von den Wäldern und dem Spaß, den er dort haben könnte.
Am Ende der Straße steht ein heruntergekommenes weißes Haus, dahinter liegt ein Fleckchen Wald. Die Wälder hier sind dichte, feuchte Laubwälder, in denen verrottende Blätter sich mit Erde zu einem weichen Untergrund verbinden, der unter den Füßen des Jungen nachgibt. Und auch wenn dieser Wald nur sehr klein ist, so ist er mit seiner Schlucht, die einer Narbe im Erdreich gleicht und sich perfekt für Kriegsspiele oder als Versteck eignet, doch Jeremys absoluter Lieblingsspielplatz.
Jeremy bittet seine Mutter um das Luftgewehr. Sie nimmt es von dem Regal herunter, auf dem sie es vor dem Baby in Sicherheit gebracht hat, und reicht es ihm. Er läuft durch die Tür nach draußen. Zwei Kinder, die ungefähr im gleichen Alter sind, ein Junge namens Joey und ein Mädchen namens June, wohnen in dem weißen Haus am Waldrand, und obwohl Jeremy auch gern allein auf Entdeckungsreisen geht, macht es doch mehr Spaß, wenn Joey dabei ist. Er geht zur Tür und klopft an.
Ein Mann öffnet ihm. Er trägt eine Brille mit dicken Gläsern. Er hat einen kleinen Kopf und große Segelohren. Mit seinen sechsundzwanzig Jahren und einem Gewicht von nur siebzig Kilo ist Ricky Joseph Langley schmächtig für einen erwachsenen Mann – aber immer noch viel größer als der Junge. Auch er ist hier in der Stadt aufgewachsen. Jetzt wohnt er zur Untermiete bei Joeys und Junes Eltern, die er kennenlernte, als er begann, bei der Tankstelle am Highway zu arbeiten, wo auch ihre Mutter Pearl beschäftigt ist. In der Theorie bezahlt er Pearl fünfzig Dollar pro Woche für das Zimmer, aber das kann er sich nie leisten und gleicht es mit Babysitterdiensten aus. Erst vor wenigen Tagen hat er auf Joey und Jeremy aufgepasst und den beiden die Seife gebracht, als sie in der Badewanne saßen.
»Ist Joey da?«, fragt Jeremy.
»Nein«, sagt Ricky. »Die sind angeln gegangen.« Das entspricht der Wahrheit. Vor gerade mal zwanzig Minuten haben Joeys Vater und der Junge die Ruder eingepackt und sind zum See hinausgefahren. Sie werden den ganzen Nachmittag fortbleiben. »Sie sind bald wieder da«, sagt Ricky. »Du kannst reinkommen und hier warten, wenn du willst.«
Jeremy spielt jede Woche in dem Haus. Er kennt Ricky. Trotzdem zögert er.
»Warum kommst du nicht rein?«, fragt Ricky noch mal. Er öffnet die Tür weiter und wendet sich ab. Jeremy tritt über die Türschwelle, lehnt vorsichtig sein Luftgewehr gegen eine Wand in der Nähe des Eingangs und steigt die Stufen zu Joeys Schlafzimmer hinauf. Er setzt sich im Schneidersitz auf den Boden und beginnt zu spielen.
Ricky folgt ihm die Treppe hinauf. Er will nur zuschauen, wie Jeremy spielt – das wird er später so sagen, er wird es schwören. Aber das Zuschauen verändert etwas in ihm, und von diesem Moment an ist es, als befände er sich in einem Traum. Er stellt sich hinter Jeremy und schlingt ihm einen Unterarm um den Hals, hebt ihn hoch. Jeremy zappelt so heftig, dass seine Schuhe ihm von den Füßen fallen. Ricky drückt zu.
Jeremy hört auf zu atmen.
Vielleicht berührt Ricky ihn jetzt; vielleicht kann er sich jetzt eingestehen, was er schon die ganze Zeit tun wollte, seitdem er Jeremy in der Badewanne gesehen hat. Vielleicht tut er es auch nicht. Trotz allem, was danach kommt, den drei Gerichtsverfahren und den drei unterschiedlichen auf Video aufgenommenen Geständnissen, den DNA-Tests, den Bluttests, den Untersuchungen der Körperflüssigkeiten, dem psychiatrischen Gutachten und all den hochheiligen Eiden, wird niemand außer Ricky jemals die ganze Wahrheit kennen.
Ricky nimmt Jeremy auf seine Arme, hält ihn, als schlafe er nur, und trägt ihn hinüber in sein Zimmer. Er legt ihn vorsichtig auf die Matratze. Er deckt Jeremy – nein, es ist nur noch ein lebloser Körper; er deckt die Leiche mit einer blauen Decke zu, auf der das Gesicht des Comicdetektivs Dick Tracy abgebildet ist. Dann setzt er sich an den Bettrand und streicht über das blonde Haar.
Unten klopft jemand an die Tür. Er geht hinunter und öffnet. Eine junge Frau steht im Eingang. Ihr Haar ist vom kindlichen Blond zu einem lichten Braun nachgedunkelt.
»Hast du meinen Sohn gesehen?« Als Lorilei diese Frage stellt, ist sie im dritten Monat schwanger.
»Wer ist Ihr Sohn?«, fragt er.
»Jeremy«, antwortet sie, und Ricky wird klar, dass er das schon wusste.
»Nein«, sagt er. »Hab ihn nicht gesehen.«
Sie seufzt. »Hm, vielleicht ist er bei meinem Bruder.«
»Vielleicht«, stimmt er zu. »Warum kommen Sie nicht rein? Sie können unser Telefon benutzen. Sie könnten Ihren Bruder anrufen.«
»Danke.« Lorilei tritt ins Haus. Rechts von ihr lehnt an der Wand ein Luftgewehr der Marke Daisy, der lange braune Lauf glänzend poliert.
Aber sie wendet sich nach links. Sie bemerkt das Gewehr nicht. Er reicht ihr das Telefon, und sie wählt die Nummer, auf der Suche nach ihrem Sohn.
Bandaufnahme von Ricky Joseph Langleys Geständnis, 1992
Frage: Wissen Sie, warum Sie Jeremy getötet haben?
Antwort: Nein. Ich weiß nicht. Ich meine, ich hätte nie gedacht, dass ich das überhaupt tun könnte, es war das erste Mal.
Frage: Und warum haben Sie beschlossen, es zu tun?
Antwort: Ich kann’s Ihnen nicht sagen. Ich kapier es selbst immer noch nicht, ich versuch es zu verstehen, wissen Sie? Es ist wie – ich weiß, dass ich es gemacht habe, aber es ist auch wie etwas, was ich in der Zeitung gelesen habe.
Frage: Ist es für Sie so etwas wie ein Traum, Ricky?
Antwort: Ja, vielleicht. Ich kann nicht wirklich … ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll.
Frage: Aber Ihnen ist bewusst, dass Sie es getan haben?
Antwort: Ja.
Frage: Es gab doch in Ihrer Vergangenheit schon Probleme mit Kindern?
Antwort: Ja.
Frage: Wollen Sie mir davon erzählen?
Antwort: Es ist bloß – ich kann es nicht erklären. Ich schätze, es ist mein Schicksal, verstehen Sie, das ist die Wahrheit.