Читать книгу Verbrechen und Wahrheit (eBook) - Alex Marzano-Lesnevich - Страница 20

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New Jersey, 1986

Für diesen nächsten Teil der Geschichte muss ich auf einen einzigen knappen Bericht meiner Mutter zurückgreifen, den sie Jahre später erzählte und niemals wiederholte; ich selbst kann kaum mit eigenen Erinnerungen daran aufwarten. Lassen Sie mich die Geschichte also aus diesen Hinweisen rekonstruieren. Es ist das Jahr, nachdem meine Mutter uns von Jaqueline erzählt hat. Wir befinden uns aktuell auf der zu Massachusetts gehörenden Insel Nantucket, wo wir für den Sommer ein Haus gemietet haben. Unsere Großeltern haben wir ebenfalls mitgenommen. Elize ist vier Jahre alt, ein Püppchen mit langen blonden Haaren und einer Stupsnase. Seit einiger Zeit steht sie Modell für eine britische Kleidungsmarke, die Freunden meiner Eltern gehört, und gerade trägt sie eines ihrer typischen weißen Spitzenkleidchen. Vielleicht ist es das Kleid mit der grünen Schärpe, die zu ihrer Augenfarbe passt. Es ist früh am Abend, und das Haus ist voller Geschäftigkeit, da sich die Erwachsenen fürs Abendessen umziehen. Meine Schwester ist davongewandert, ein seltener Moment, in dem sie alleine ist, und klettert auf einen der mächtigen Polsterstühle im offiziellen Esszimmer des Hauses. Das Haus gehörte in den Walfang-Zeiten der Insel einem Seekapitän, und an den Wänden hängen dunkle Ölbilder lange verstorbener Töchter mit finsteren Mienen und goldenen Schildern darunter, auf denen ihre Namen stehen: Prudence, Virtue, Chastity – Klugheit, Tugend und Keuschheit. Meine Schwester dreht sich zu den komischen Gesichtern um und schneidet einem davon eine Grimasse. Sie versucht sich vorzustellen, was man ihr erzählt hat: dass jede dieser Frauen einst ein kleines Kind war, nicht anders als sie selbst.

Mit ihrer kleinen Faust umklammert sie eine Belohnung, die sie erst kurz zuvor bekommen hat: einen Fünfdollarschein.

Meine Mutter kommt aus der Küche herein, ein Glas Rotwein in der Hand, die Haare noch auf die weißen Plastiklockenwickler gedreht, ihr schwarzes Kleid am Rücken noch offen. »Ach, hier bist du!«, sagt sie und nippt abwesend an dem Wein. Dann bemerkt sie den Schein und fragt: »Liebling, wo hast du denn das Geld her?« Sie glaubt sicher, dass meine Schwester es aus ihrer offenen Geldbörse oder von der Kommode genommen hat. Ein kleiner Fehltritt, Anlass für kaum mehr als einen freundlichen Hinweis.

Aber die Antwort meiner Schwester ist: »Opa hat es mir gegeben.«

»Wirklich?«, fragt meine Mutter. Sie denkt immer noch, dass das hier eine harmlose Kindergeschichte ist. Es gibt auf der Insel einen Süßwarenladen, in dem man für einen Cent einen einzelnen zuckrigen Gummifisch oder einen Gummibären bekommen kann. Unser Großvater hat uns schon einmal dorthin mitgenommen, und für einen Vierteldollar durften wir eine weiße Papiertüte mit Süßkram füllen. Er verwöhnt uns, ebenso wie damals unsere Mutter und ihre Brüder, als sie klein waren. Er hatte immer Bonbons für sie in den Taschen. Meine Schwester ist ein bisschen zu jung für die Zahnfee, aber vielleicht – denkt meine Mutter – hat sie die fünf Dollar bekommen, weil sie ihm seinen Hut oder seinen Gehstock gebracht hat. Meine Mutter lässt sich auf das Spiel ein: »Und wie hast du dir das verdient?«

»Ich hab auf seinem Schoß gesessen«, antwortet meine Schwester.

Das Geflüster, das folgt, ist wie ein Messer in der Scheide, voll scharfer, aber beherrschter Dringlichkeit. Keine erhobenen Stimmen; Türen, die geschlossen bleiben. Hinter einer davon werde ich befragt, und ich weiß, dass ich nicht laut reden darf, weil meine Eltern nicht wollen, dass mein Großvater oder meine Großmutter oder mein Bruder uns hören. Ich gebe einfache Antworten: Ja, mein Großvater hat mich angefasst. Ja, das geht schon seit Jahren so. Sie stellen mir noch mehr Fragen – wo war das, woran kann ich mich erinnern, was war um mich herum zu sehen –, um Anhaltspunkte zum Zeitraum zu bekommen. Fünf Jahre, das ist die Antwort. Ich fange an zu weinen. Nicht wegen dem, was passiert ist. Sondern weil meine Mutter jetzt Bescheid weiß. Ein Teil von mir hat genau darauf gewartet – aber in erster Linie habe ich furchtbare Angst. Ich bin überzeugt, dass wir alle in Sicherheit sind, solange sie nur nicht diese Dinge über ihren Vater weiß. Dass es die schrecklichste Sache der Welt ist, laut auszusprechen, dass ein Vater zu so etwas fähig ist.

Sie stellen erst mir, dann meinen Schwestern genügend Fragen, um sich über die groben Tatsachen im Klaren zu sein. Dann gehen wir alle zum Abendessen.

Ist das möglich? Kann das stimmen? Kann es wirklich sein, dass sie uns alle in unserem Stammrestaurant jener Jahre – es trägt den Namen meines Großvaters Vincent – an einen großen, runden Tisch mit rot-weiß kariertem Tischtuch führen und einen Stuhl für den Mann zurechtrücken, über den sie gerade so etwas erfahren haben? Können sie sich einfach so seiner Ehefrau, meiner Großmutter, gegenübersetzen, die sie schützen wollen, indem sie die Sache vor ihr geheim halten? Wie oft sehen sie während dieses Abendessens wohl auf die Hände meines Großvaters und fragen sich, was diese Hände getan haben?

Oder projiziere ich mein eigenes Interesse an der Vergangenheit auf sie? Kann es wirklich sein, dass meine Eltern ihm gegenüber­sitzen und sich niemals, nicht ein einziges Mal die Taten vorstellen, die hinter den Worten stehen? Ist es möglich, dass sich das Gehörte nie als Geschichte vor ihren Augen abspielt?

Ich weiß nur, was danach geschieht: Meine Eltern reden nie mit meinem Großvater über das, was sie erfahren haben. Sie erwähnen es auch meiner Großmutter gegenüber nicht. Sie lassen nie erkennen, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. Wir beenden den gemeinsamen Urlaub wie geplant. Wir kehren in das viktorianische Haus zurück. Meine Eltern laden die Großeltern nicht mehr ein, dort die Nacht zu verbringen, und der Missbrauch findet ein Ende, ohne dass irgendwer jemals irgendetwas sagt. Sie arrangieren die Erinnerung so sorgfältig wie ein Drehbuch.

Und wie zuvor fährt mein Vater weiterhin den großen grauen Chevrolet über die George Washington Bridge und in den Stadtteil von Queens, in dem meine Mutter aufgewachsen ist. Wie zuvor parkt er vor der braunen Tür des Ziegelhauses, in dem meine Mutter ihre Kindheit verbracht hat, in dem mein Großvater mit seinem Vinyl­jackett und der Schiebermütze auf dem Kopf auf seinen Ausflug wartet. Mein Vater streckt eine Hand nach meinem Großvater aus und nimmt mit der anderen seinen Gehstock entgegen. Wie zuvor bietet mein Vater meinem Großvater eine Schulter zum Anlehnen, und im Schneckentempo gehen sie zum Auto hinüber. Er hilft meinem Großvater hinein und verstaut den Stock hinter dem Sitz, dann schlägt er die Tür zu und geht zur Fahrerseite. Schließlich fährt er meinen Großvater über die Brücke zurück zu uns.

Die Menschen in dieser Geschichte wollen immer noch glauben, dass sie die Vergangenheit beherrschen können, sie ebenso säubern können, wie man einen Tatort reinigt. Sie wollen glauben, dass der Tatort, solchermaßen gereinigt, zu einem ganz normalen Schlafzimmer wird. Heute erklären mir meine Eltern, dass sie einen Psychologen konsultiert hatten, der ihnen sagte, es sei für ihre Kinder am besten, wenn sie sich selbst möglichst unbeeindruckt geben würden. Wenn sie die Dinge so gestalteten, als ob die Vergangenheit keine Macht, keine bleibende Bedeutung hätte.

Es ist nicht so, dass ich ihnen das nicht glauben würde. Nicht direkt. Aber ich wundere mich, wie gut dieser Rat ins Bild passt. Er spiegelt so exakt – zu exakt – das Schweigen wider, das ich von meinen Eltern schon kenne. Das Schweigen über die Wutausbrüche meines Vaters. Das jahrelange Schweigen über meine fehlende Schwester. Es ist ein Echo dessen – aber an dieser Stelle sind wir noch nicht angelangt –, was mit der Leiche meiner Schwester geschah.

Fürs Erste genügt es, wenn Sie Folgendes verstehen: Die beiden müssen die Vergangenheit hinter sich lassen.

Und so ist mein Großvater in meiner Erinnerung anwesend wie ein Kloß in meinem Hals, sitzt im Wohnzimmersessel am Fuß der Treppe. Er ist an Weihnachten da, er ist an Ostern da, er ist da, wenn es einfach nur Sonntag ist, und meine Großmutter sitzt neben ihm und bittet mich, mit ihr Dame zu spielen, und ich sage ihr nicht, dass ich dafür zu alt bin. Er ist da, als ich dreizehn bin und zum ersten Mal ein Erwachsenenkleid trage, aus schwarzem Samt und mit einem tiefen V-Ausschnitt. Er ist da, als ich mich auf die Zehenspitzen stelle und mich drehe, um den weiten Rock zum Schwingen zu bringen. Es ist sein heißer Atem, der nahe an meinem Hals flüstert, wie erwachsen ich aussehe, wie gut mein Körper das Kleid ausfüllt. Er ist da, als ich fünfzehn bin und beginne, wütend zu werden.

Als wir Lorilei zuletzt gesehen haben, saß sie schluchzend auf der Polizeistation, das Gesicht in den Händen verborgen. Sie ist schwanger mit ihrem zweiten Kind, dem Jungen, der im Schatten seines Bruders aufwachsen wird.

In den Monaten, die Rickys Verhaftung folgen, wird sie sich ständig auf einem schmalen Grat zwischen Wut und Trauer bewegen. Jener Drink auf der Veranda in der ersten Nacht, in der die Helfer auf der Suche nach Jeremy ausschwärmten, wird zu Monaten schweren Trinkens und des Drogenkonsums führen. Sie wird in ihre alten Gewohnheiten zurückfallen, und die Vergangenheit wird die Gegenwart überfluten. Während dieser ganzen Zeit wird in ihr ein neues Leben heranwachsen, aber sie wird nicht imstande sein, es zu hegen. Es wird nur wachsen.

Es gibt einen Zeitungsartikel, der ein Jahr später erschien und zu Lorileis Adresse passt. Wenn ich ihn lese, sehe ich eine Frau vor mir (sie weigert sich, ihren Namen preiszugeben, aber ihr Haar muss noch immer von diesem leichten Braun sein, das in der Kindheit einmal blond war), die aus der Tür eines Hauses tritt und auf die Polizisten zugeht, die eben aus dem Streifenwagen steigen. Sie hält ein Baby im Arm.

»Sie müssen nicht reinkommen«, sagt sie.

»Ma’am, wir sind hier, weil ein Anruf von den Nachbarn bei uns eingegangen ist«, sagt der Beamte. »Es geht um einen Fall häuslicher Gewalt.«

»Sie müssen nicht reinkommen«, wiederholt sie. Sie blinzelt in die Sonne. Um ihr linkes Auge ist eine beginnende Schwellung zu sehen. Das Kind in ihrem Arm wird unruhig, und sie drückt es enger an ihre Brust. Sie hat den Jungen Cole genannt. Er wird den Nachnamen seines Vaters tragen. »Hören Sie«, sagt sie. »Wenn er weg ist« – sie nickt zum Haus hinüber – »weiß ich nicht mehr, wie ich meine Rechnungen bezahlen soll.«

Sie sieht dem Beamten fest in die Augen. »Guten Tag«, sagt sie entschieden. Dann kehrt sie mit dem Kind in ihren Armen zum Haus zurück.

Ein weiteres Jahr später, als das Urteil gegen Ricky wegen des Mordes an ihrem Sohn endlich verkündet wird, ist sie nicht im Gerichtssaal. Sie sitzt in einem Hotelzimmer auf der anderen Straßenseite und wartet. Ihr Bruder Richard ist im Gerichtssaal, als die Geschworenen ihre Entscheidung verkünden. Ricky wird für seine Tat sterben.

Richard überquert die Straße und geht hinüber zu Lorilei. Es ist vorbei, sagt er ihr. Es ist vollbracht.

Als ich anfing, diese Geschichte zu schreiben, dachte ich, es sei wegen des Mannes in der Videoaufzeichnung. Ich dachte, es sei wegen Ricky. In ihm sah ich meinen Großvater. Ich wollte verstehen.

Aber jetzt denke ich, dass ich um Lorileis willen schreibe. Ihre Geschichte endete nicht an dem Tag, an dem Richard sie im Hotelzimmer umarmte, während auf der anderen Straßenseite Ricky in Handschellen abgeführt wurde. Zehn Jahre nach dem ersten Prozess wurde die Todesstrafe gegen Ricky aufgehoben. Er wurde aus der Todeszelle ins Gefängnis des Calcasieu Parish zurückverlegt, um dort auf einen neuen Prozess zu warten.

Diese Verhandlung fand im Jahr 2003 statt. Das war der Prozess, der gerade zu Ende gegangen war, als ich nach Louisiana kam. Und weil er gerade erst zu Ende gegangen war, zeigte die Anwältin mir die Videoaufzeichnung.

Ich bin im Besitz des Transkripts. Am zweiten Prozesstag ruft die Anklage Lorilei in den Zeugenstand. Sie erzählt den Geschworenen, wie sie Jeremy sein Luftgewehr reichte. »Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah«, sagt sie, dann verbessert sie sich: »Ich meine – es war das letzte Mal, dass ich ihn lebend sah.« Sie berichtet, wie sie zum Haus der Lawsons ging, um ihn zu suchen. Von ihrer Begegnung mit Ricky. Von dem Telefonanruf.

Der Staatsanwalt dankt ihr. Der Richter entlässt sie. Sie kehrt an ihren Platz zurück, und der Prozess geht weiter.

Aber am vierten Tag fordert die Verteidigung sie auf, in den Zeugenstand zu treten.

Die Geschworenen müssen in diesem Moment sehr verwirrt sein. Sie ist die Mutter des toten Jungen. Sie hat bereits ausgesagt. Tagelang haben sie Bilder von Jeremys Leiche angeschaut. An einer Stelle hat einer der Geschworenen bei der Betrachtung der Bilder einen Weinkrampf bekommen, und der Richter musste die Verhandlung unterbrechen. Warum ruft die Verteidigung sie auf?

Aber sie erhebt sich und geht zum Zeugenstand. Sie weiß mittlerweile alles über Rickys Leben. Jahrelang hat sie sich damit beschäftigt. Sie setzt sich auf die hölzerne Bank, glättet das Kleid über ihrem Schoß und wendet sich der Jury zu.

»Möchten Sie den Geschworenen irgendetwas sagen?«, fragt der Verteidiger. Er ist ein hochgewachsener, schlanker Brite. Er verteidigt Ricky seit vielen Jahren.

»Ja«, antwortet sie mit fester Stimme. »Das möchte ich.«

Im Saal muss es jetzt ganz still geworden sein, jeder horcht gebannt, was sie zu sagen hat. Lorilei holt tief Luft. Dies sind die Worte, die sie vorbereitet hat.

»Obwohl ich jeden einzelnen Tag den Todesschrei meines Kindes höre, kann ich auch Rickys Hilfeschrei hören.«

Es ist Ricky, für den sie aussagt. Sie versucht ihn am Leben zu erhalten.

Ich lese die Worte, die sie im Gerichtssaal gesprochen hat, und sehe meinen Vater, wie er die Finger um die Hand meines Großvaters schließt. Er fühlt das Gewicht dieser Hand in der seinen. Er stützt ihn und hievt den alten Mann ins Auto, sodass er ihn über die Brücke fahren kann. Damit er ihn heim zu uns bringen kann.

Ich will – ich muss – verstehen.

Verbrechen und Wahrheit (eBook)

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