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Louisiana, 1992

Die Telefonleitung im Haus ihres Bruders ist dauernd besetzt, es hört nicht auf mit dem ständigen Piep-Piep-Piep. Lorilei ist müde. Sie will nicht den ganzen Weg bis zu seinem Haus laufen. Richard hat einen weißen Zaun um sein Grundstück aufgestellt, als wolle er sich von den anderen abgrenzen, die nicht all das haben, was er besitzt. Von Häusern wie dem, das Lorilei gemietet hat und für das sie nicht einmal die Stromrechnung bezahlen kann. Der Zaun geht ihr gegen den Strich. Das Tor befindet sich auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses, und um zur Tür zu kommen, muss sie außen herumlaufen, vorbei an der schmucken Einfahrt und den glänzenden weißen Pfosten und dem Spielzeug und den Fahrrädern seiner Kinder. Aber es hilft nichts, Jeremy ist verschwunden, und so dankt sie dem Mann in dem weißen Haus dafür, dass sie sein Telefon benutzen durfte, zieht den Reißverschluss ihres Kapuzenshirts zu und geht los. Ein kleiner Gehsteig führt zu Richards Haus, aber neben der Straße steht das Unkraut, und die Abflussrinne ist nichts als eine Furche im Schmutz. Lorilei, die neunundzwanzig und stämmig ist, auch wenn man ihr die Schwangerschaft noch nicht ansieht, vergräbt ihre Hände in den Taschen ihrer Jeans, um sie warmzuhalten, und bewegt sich mit gesenktem Kopf vorwärts. Ihre dünnen Halbschuhe, die im Februarmatsch stecken bleiben, sind nicht zum Laufen gedacht. Es hätte ein geruhsamer Abend werden sollen, nur mit Melissa und dem Baby.

Die Sonne gießt orangefarbene und rote Strahlen über dem Horizont aus. Es ist kurz vor sechs Uhr abends, und die Straße wirkt gespenstisch ruhig. Haus um Haus zieht mit heruntergelassenen Rollläden an ihr vorbei, wie fest zusammengepresste Lippen sehen sie aus. Dahinter versammeln sich gerade Familien zum Abendessen. In einem Vorgarten liegt ein umgekipptes Kunststoffdreirad, dessen Pedale in die Luft ragen, als wollten sie jeden Moment ins Nirgendwo losstrampeln. Lorilei hat Jeremy das Dreiradfahren beigebracht, als er drei Jahre alt war. Die Stadtzeitung veröffentlichte damals ein Bild von ihnen beiden, wie sie in die Kamera grinsen, ihre Hand auf seinen kleinen Schultern. Lorilei Guillory und ihr Sohn Jeremy Guillory. Jeder in der Stadt wusste, dass das ihr Mädchenname war. Dass es da keinen Mann gab.

Sie erinnert sich auf einmal daran, wie sie und Richard als Kinder in die Pedale traten, auf die Straßenbiegung zufuhren, und die Stunden sich vor ihnen ausdehnten, so weit wie die Sonnenstrahlen.

Der Hügel, auf dem er wohnt, liegt im Westen. Sie sieht sein Ranchhaus in einiger Entfernung. Am Ast einer Eiche ist eine Reifenschaukel für seinen Sohn und seine Tochter aufgehängt. Daneben befindet sich Richards Werkzeugschuppen. Und ein Auto steht in der Einfahrt, ein rotes, das Mary gehört, Richards Frau. Als sie und Mary am Morgen miteinander sprachen, sagte Mary, sie werde am Abend zum Einkaufen fahren, und wenn Jeremy ihr Auto kommen sähe, sollte er schnell herüberlaufen, dann würde sie ihn mitnehmen. Jeremy war so aufgeregt gewesen, als er Lorilei mit ihr telefonieren hörte, dass Lorilei nicht Nein sagen konnte. Es ist schwer für sie, dass Mary diejenige mit dem Auto und dem Geld ist, diejenige, die ihn mit zum Einkaufen nehmen kann. Aber vielleicht bedeutet das ja immerhin, dass er jetzt hier ist.

Doch als Mary mit frisch aufgetragenem Lippenstift die Tür öffnet, sieht Lorilei es ihrem verblüfften Gesicht an, dass er nicht da ist. Sie fragt trotzdem.

»Hab ihn nicht gesehen«, sagt Mary. »Und ich bin gerade am Gehen.«

Das ist der Moment, in dem Lorilei klar wird, dass er sich verlaufen haben muss.

Zehn Minuten später hat sie sich Marys Auto ausgeliehen und ist damit zum Waldrand gefahren, die Scheinwerfer auf das Wäldchen gerichtet. Es ist mittlerweile fast dunkel. Jeremy weiß, dass er vorher heimkommen muss. Als sie stehen bleibt, bemerkt sie im Lichtkegel die angerostete Karosserie eines Fahrzeugs. Manchmal sitzen Jeremy und der Junge der Lawsons, Joey, dort drin und schießen mit ihren Luftgewehren stundenlang in die Bäume. Aber jetzt ist der alte Wagen verlassen, das Wäldchen ganz still. Sie steigt aus dem Auto und lehnt sich gegen die Karosserie. »Jeremy!«, ruft sie. »Jeremy, ich bin es, deine Mama! Hörst du mich? Jeremy!«

Nichts als Schweigen. Nicht einmal ein Vogel ist zu hören.

»Jeremy!«

Hinter sich hört sie ein Fahrzeug anhalten. »Alles in Ordnung, Lori?« Terry Lawson, Joeys Vater, sitzt am Steuer, zwei Nachbarn sind bei ihm.

»Jeremy ist weg«, hört Lorilei sich selbst sagen. Ihre Stimme klingt rau.

Die Männer holen Taschenlampen aus dem Kofferraum und verschwinden im Wald.

Das ist der Moment, in dem später Lorileis Erinnerung abbricht.

Aber die Aufzeichnung der Feuerwehr belegt, dass der erste Notruf um 18.44 Uhr eingeht. Die Anruferin weist sich als Lorilei Guillory aus, die Mutter des Jungen, den sie als vermisst meldet. Der Mann am Ende der Leitung notiert ihre Angaben und verspricht, eine Polizeistreife nach Iowa zu schicken.

»Io-way«, sagt Lorilei in den Hörer. »Bitte. Sie wissen, wo das ist?«

»Ja, Madam. Io-way«, erwidert der Koordinator.

Der zweite Anruf folgt um 18.57 Uhr. Der Anrufer ist ein junger Mann, der mitteilt, dass bislang noch niemand aufgetaucht sei, und fragt, wann die Polizei kommen werde. Die Mutter des Jungen hat gerade von diesem Anschluss aus angerufen, aber er weiß, dass die Gegend verwirrend ist, wenn man nicht von hier ist. »Es gibt zwei Straßen hier raus, die nebeneinander verlaufen«, sagt er. »Und die hier wird Watson Road genannt, aber eigentlich hat sie keinen Namen. Das ist die richtige Straße. Das Haus ist weiß und hat zwei Stockwerke.« Sie würden es an der Waschmaschine vor dem Haus und an der Treppe, die von der Rückseite des Hauses aus zum Wald führt, erkennen, sagt er. »Ich gebe Ihnen die Nummer von hier, falls Sie sich verfahren.«

»Ich brauche noch Ihren Namen, Sir«, sagt der Vermittler.

»Ricky Langley«, antwortet der Anrufer.

In dieser Nacht sitzt Lorilei auf der Treppe vor dem weißen Haus, und zumindest eine der Geschichten, die über die Suche nach ihrem Sohn erzählt werden, handelt von dem, was als Nächstes geschieht. Die Straße ist vollkommen dunkel – es gibt hier draußen keine Straßenlaternen –, aber als mehr und mehr Streifenwagen ankommen, wird es immer heller. Wie aus der Ferne vernimmt sie die Stimmen der Suchenden, die einander zurufen, hört sie das Tuckern eines Lastwagenmotors. Sie weiß, dass sie in der Nähe sind, aber dennoch scheinen die Geräusche weit fort zu sein, klingen seltsam gedämpft.

So wie das feuchte, verrottende Laub auf dem Boden der kleinen Schlucht, in der Jeremy immer spielt, alles dämpft. Dieses Laub macht ihn jedes Mal fürchterlich schmutzig, aber heute Nacht ist sie froh darüber, dass es so weich ist. Sie muss an ihn denken, wie er dort liegt – seine Wange gemustert von den kleinen Zweigen, wie sonst von den Falten in seinem Kopfkissen. Sie denkt daran, wie ihm seine Haare in die Stirn fallen, wenn er zu müde ist, um sie zurückzustreichen. Jeremy schläft auf der Seite wie ein junger Hund, die Arme und Beine weit von sich gestreckt. Sein rosa Mund steht offen, und sein Atem geht in kleinen Stößen. Sie hat ihn so oft beim Atmen beobachtet, als er noch ein Baby war. Alle Mütter tun das, denkt sie, aber es fühlte sich trotzdem wie ein Wunder an, wie er einfach immer weiteratmete.

Sie schüttelt den Gedanken ab. Über den Baumkronen verbindet sich das Licht der Scheinwerfer zu bewegten Mustern, und sie sieht zu, wie sie sich verändern. Richard sagt, am Morgen werden sie Helikopter einsetzen, um die Suche fortzuführen. Warum setzen sie die nicht jetzt schon ein, wo ihr Junge alleine und frierend in der Dunkelheit da draußen ist, fragt sie sich.

»Wollen Sie was trinken?« Sie blickt auf, und der Mann vom Nachmittag steht am Rand der Veranda. Es dauert einen Moment, bis sie ihn erkennt; der Nachmittag liegt so weit zurück. Das war damals, vor alldem hier.

»Ricky, oder?«, fragt sie.

»Ja, Ma’am«, sagt er. Er hält eine Flasche in der Hand und streckt sie ihr einladend hin. Hinter ihm wabert die Dunkelheit des Waldes wie Nebel. Es ist, als wäre er aus dem Nichts an sie herangetreten.

Lorilei trinkt keinen Alkohol. Sie hat seit Jahren keinen getrunken. Früher hat sie öfter über die Stränge geschlagen, und die Verhaftungen brachten ihr eine Erwähnung in der Lokalzeitung ein. Ihr Name stand mit einem knappen »L. Guillory« im Polizeibericht. Aber als Jeremy geboren wurde, hörte sie auf. Sie wollte für ihn das Richtige tun. Jetzt hat sie ein neues Baby in ihrem Bauch, auf das sie achten sollte; sie ist im dritten Monat.

Doch sie hat so viel Angst um Jeremy, und die bernsteinfarbene Flüssigkeit in der Flasche glänzt so verlockend im Licht. Jeremys Vorschulklasse hat heute einen Ausflug ins Wissenschaftsmuseum in Lake Charles gemacht. Es war die gleiche Exkursion, an der sie in seinem Alter teilgenommen hat, und vielleicht lässt der warme Glanz des Getränks sie an die Fossilien denken, die sie damals gesehen hat. Es ist eine seltsame Nacht, Jeremy ist weg, alle Nachbarn suchen nach ihm, eine Nacht, die aus der Zeit gefallen ist. Eine Nacht, die für immer andauern könnte, aufgehoben wie ein Insekt im Bernstein. Jeremy für immer irgendwo da draußen, sie für immer auf der Veranda, wartend. Sie muss nur diese eine Nacht überstehen.

Sie nimmt die Flasche. Es stehen noch ein paar Zentimeter Flüssigkeit darin. »Danke«, sagt sie.

Der erste Schluck ist scharf und glatt wie Glas. Er rinnt durch ihre Kehle und rollt sich warm in ihrem Magen zusammen.

Der zweite Schluck ist süß. Sie nimmt einen dritten.

»Tut mir leid, dass sie Ihren Jungen nicht gefunden haben«, sagt Ricky. Im Licht auf der Terrasse sind seine Brillengläser trüb.

Sie sagt nichts.

»Es klingt, als ob die Leute richtig intensiv suchen«, sagt er.

Lorilei ist müde. Sie will nicht reden, also schweigt sie. Sie lehnt sich nur gegen die Brüstung, lange, mal mit geschlossenen Augen, wenn sie die Stille nicht ertragen kann, mal mit offenen, wenn sie die Schwärze nicht aushält. Der Schnaps ist ausgetrunken, ehe sie sich’s versieht. Der Mann bleibt am Rand der Wiese, die Hände in den Taschen seiner khakifarbenen Hose, und schweigt. Es ist ein gemeinsames Schweigen. Fast könnten sie Freunde sein.

Später kann sie nicht mehr sagen, wie viel Zeit vergangen ist, als er hüstelt, ein höflicher Laut, als wollte er vermeiden, sie aufzuschrecken. »Also«, sagt er dann, »ich geh besser wieder rein. Ich hoffe wirklich, sie finden ihn.«

Verbrechen und Wahrheit (eBook)

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