Читать книгу Verbrechen und Wahrheit (eBook) - Alex Marzano-Lesnevich - Страница 16

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New Jersey, 1984

Das pinkfarbene Hauskleid, das ich Bessie in dieser Szene tragen lasse – pink mit kleinen weißen Blumen und einem Spitzenkragen aus Polyester, das Kleid, das sich über ihrem Schoß aufbläht, als sie sich schwer auf ihren Stuhl fallen lässt und sich ihrem Sohn zuwendet –, dieses Kleid kommt in keiner Gerichtsakte und in keinem Protokoll vor. Es ist das Kleid meiner Großmutter. Wenn ich mir Bessie vorstelle, sehe ich meine Großmutter, denn diese beiden Frauen verbindet vieles. In meiner Erinnerung trägt meine Großmutter dieses Kleid, als sie auf dem weißen Korbsofa auf der Veranda unseres viktorianischen Hauses neben meinem Großvater sitzt. Es ist später Nachmittag an einem Samstag im Frühling. Die Sonne denkt gerade erst darüber nach, demnächst unterzugehen, es ist nur eine Schattierung dunkler als bei hellem Tageslicht. Die graue Terrasse liegt im sanften Schimmer des leicht bewölkten Himmels.

Wir spielen Dame, und ich bin dran. Ich sitze meinen Groß­eltern in einem Korbsessel gegenüber, zwischen uns der Tisch mit dem Brettspiel. Ich bin Rot, sie Schwarz, und neben mir stapeln sich die schwarzen Spielsteine, die ich gewonnen habe. Immer wenn mein Großvater einen Stein bewegt, schnalzt meine Großmutter leise mit der Zunge, ehe er auch nur die Hand von dem Plastikstein nehmen kann, und sagt: »Jimmy.« Mein Großvater seufzt und platziert den Stein so, dass ich ihn mir holen kann. Ich wünschte, sie würde damit aufhören, aber ich bin auch stolz, dass ich gewinne.

Immer häufiger fährt mein Vater in die Stadt und holt meine Großeltern ab, damit sie auf uns aufpassen. Seine Kanzlei beginnt richtig gut zu laufen. Auf einmal hängt im Schlafzimmer meiner Eltern ein Kalender an der Wand, auf dem mit schwarzem Marker Termine umrandet sind, und sie haben eine Pinnwand, an der Operntickets und Eintrittskarten für Tanzveranstaltungen hängen. Während meine Großeltern mit mir Dame spielen, macht sich meine Mutter oben fertig. Heute Abend werden sie Tosca sehen, und aus den Lautsprechern, die mein Vater überall im Haus aufgestellt hat, dringen Baritonstimmen.

Als die Sonne untergeht, mag ich nicht länger bei meinen Großeltern sitzen, also gehe ich ins Haus und steige die alte Treppe zum Schlafzimmer meiner Mutter hinauf. Mein Brustkorb ist zugeschnürt; ich will nicht, dass sie geht, will nicht die ganze Nacht mit meinen Großeltern alleine bleiben. Meine Eltern sind spät dran – es ist immer knapp bei ihnen –, und mein Vater steht in seinen weißen Unterhosen im Flur vor dem Schlafzimmer und wählt eine Krawatte von der Kleiderstange aus. Im Schlafzimmer liegt Nicola, meine mittlere Schwester, auf dem Bett meiner Eltern und sieht zu, wie meine Mutter sich ankleidet. Sie zieht eine figurformende Strumpfhose an. Keinen Büstenhalter – meine Mutter, die ebenso flachbrüstig ist, wie ich es später sein werde, hasst BHs. Sie hat noch immer die Lockenwickler aus der weißen Plastikschachtel auf dem Ankleidetisch im Haar. Obwohl meine Mutter im Teenageralter ständig mit dem Zug nach Coney Island gefahren ist, um dort Babyöl auf ihre Haut zu schmieren und sich stundenlang hinter einen aus Alufolie gebastelten Sonnenreflektor zu setzen, und obwohl sie und Andy beide tiefbraun werden, sobald der Sommer beginnt, ist das Gesicht meiner Mutter nach wie vor vollkommen glatt. Im Alter von fünfundzwanzig Jahren werde ich mehr Falten haben als sie in ihren Fünfzigern. Es ist das Geschenk ihrer italienischen Gene, sagt sie. Ein Geschenk, meint sie, das mit einem Fluch einhergeht, der auf ihren Haaren liegt.

Während meiner gesamten Kindheit stylt sie ihre Haare jeden Morgen mit heißen Rollen zu einer Toupierfrisur à la Jackie O. – eine Frisur, die sie als junges Mädchen für sich entdeckt hat, und der einzige Stil, der, wie sie beteuert, zu ihrer Haarstruktur passt. Vor jeder Reise muss mein Vater die Lockenwickler einpacken. Meine Mutter behauptet, sie habe sich die Haare als Teenager mit diversen Laugen ruiniert, mit denen sie versuchte, sie zu glätten. Später einmal, während eines Familienausflugs nach Jamaika, werde ich mit ihr zusammen in einem Schönheitssalon sitzen. Zwei Frauen unter Fönhauben schauen zu uns herüber und lachen. Eine von ihnen kommt her. »Ihre Mama muss mit einem Schwarzen geschlafen haben«, sagt sie zu meiner Mutter und nickt, um ihrer Bemerkung Nachdruck zu verleihen.

Meine Mutter lacht. »Mein Vater ist Italiener«, antwortet sie. »Vincent Jimmy Marzano aus Astoria in Queens.« Kann irgendwas italienischer sein als das?

Die Frau zieht ihre Brauen hoch und fasst meine dunklen Locken ins Auge. »Nun, dann müssen Sie wohl mit einem Schwarzen geschlafen haben!« Und wieder lacht meine Mutter.

Jetzt gerade steht sie vor der Kommode, die mein Vater extra für sie hat schreinern lassen und deren Schubladen noch fast leer sind, aber voller Versprechen für die Zukunft, und sie wählt eine Kette aus, die er ihr geschenkt hat, ebenholzschwarze und roséfarbene Perlen, die in der Mitte eine große Blüte bilden. Sie winkt mich herbei, und ich stelle mich hinter sie. Sie hält ihre Haare zusammen, damit ich den Verschluss in ihrem Nacken zumachen kann. Ich bin schon beinahe so groß wie sie. Ich habe ihre Haare, ihre Liebe zu Büchern, ihr Lächeln geerbt. Mit der Zeit werde ich in die Form ihrer Hüften, in ihre Entschlossenheit und ihre Körpergröße hineinwachsen. Sobald ich den Kettenverschluss gesichert habe, dreht sie sich mit glänzenden Augen zu mir um.

Dies ist eine außergewöhnliche Nacht, eine magische Nacht. An anderen Abenden zieht sie sich alleine an, ohne dass mein Vater im Flur steht, weil er noch irgendwo in der Dunkelheit unterwegs ist, nachdem er das Auto genommen hat und mit quietschenden Reifen aus der geschotterten Einfahrt geschossen ist. An einem solchen Abend wird mein Bruder einst in den Raum kommen und sie schweigend betrachten, während meine Schwester und ich auf dem Bett liegen. »Wen liebst du mehr?«, wird er plötzlich fragen. »Daddy oder uns?« Seine Worte werden einem Eingeständnis gefährlich nahe kommen, das es eigentlich nicht geben dürfte: dass es eine Wahl geben könnte zwischen uns und ihm.

Aber nicht heute. Dieser Abend ist wunderbar. Meine Mutter trägt Lippenstift auf. Mein Vater bindet seine Krawatte und streicht das Jackett über seinen Schultern glatt, ehe er ihre Hand nimmt. Die beiden sind fort in einem Atemzug, einer Wolke aus Parfum und Aftershave, die hinter ihnen herschwebt wie eine Erinnerung.

Später an diesem Abend, es ist jetzt vielleicht zehn Uhr: Die Dunkelheit ist so tief, wie sie nur werden kann, die Welt draußen verstummt, und lediglich die Scheinwerfer von Autos ziehen auf dem Weg in ein entferntes, unbekanntes Irgendwo hin und wieder an den Fenstern unseres Spielzimmers vorbei. Meine Großmutter liegt dort in der Nähe des Fensters auf einem knubbeligen grünen Schlafsofa. Jenseits der Tür zum Spielzimmer befindet sich die Treppe, die sie gerade heruntergestiegen ist, nachdem sie und mein Großvater uns ins Bett gebracht haben. Jetzt ist das Haus ganz still, nur der Deckenventilator surrt in der Luft, und der schwache gelbe Lichtschein der Nachtlämpchen erhellt die Flure. Der Ventilator muss anbleiben, mein Vater will das so, aber in dem langen, holzgetäfelten Raum mit den Eimern voll Holzspielzeug und den Regalen mit Comicbüchern fröstelt meine Großmutter. Sie legt sich eine Decke um die Schultern, eine pinkfarbene Wolldecke, die sie zu meiner Geburt gehäkelt hat. Sie und mein Großvater sind gemeinsam ins Bett gegangen. Aber jetzt ist sie alleine dort.

Die Treppe knarzt, das Geräusch eines Fußtritts auf einer Stufe.

Die Decke ist locker gehäkelt, kühle Luft kommt durch die Löcher zwischen den Maschen, und die Wolle kratzt auf ihrer Haut. Sie dreht sich um und zieht die Decke fester um sich. Ihr wird nicht richtig warm ohne den Körper meines Großvaters neben sich. Seit sie geheiratet haben, haben sie jede Nacht zusammengelegen. In sechs Jahren werden meine Eltern für sie in einem Restaurant in der Stadt eine Feier zu ihrem fünfzigsten Hochzeitstag ausrichten, und wir alle werden uns versammeln, um die schiere Anzahl all dieser Tage, all dieser Nächte als Leistung zu feiern. Jetzt aber streckt sie die Hand nach der Karte aus, die neben ihrem Kopfkissen liegt. Sie zeigt die Jungfrau Maria mit friedlichen, halb geschlossenen Augen, die Hände für immer im Gebet zusammengelegt. Auf der Rückseite steht der Name der Mutter meiner Großmutter. Seit sie vor Jahrzehnten gestorben ist, legt meine Großmutter diese Karte jede Nacht neben sich. Sie berührt die kühle, laminierte Oberfläche und wünscht ihrer Mutter eine gute Nacht. Meine Großmutter weiß genau, wohin sie gehen wird, wenn sie stirbt. Sie nennt diesen Ort ihre einzig wahre Heimat.

Die Stufen knarren wieder unter dem Gewicht eines Körpers, der auf ihnen hinaufsteigt.

Es ist mein Großvater, der auf ein Hörgerät angewiesen ist, nicht meine Großmutter. Sie muss also die Treppe hören und sein heftiges Keuchen, während er auf den Stufen steht. Weiß sie, wohin er geht? Weiß sie, was er dort tun wird?

Die Treppe ist noch immer der ganze Stolz meines Vaters. Jedem Besucher erzählt er ihre Geschichte, und er sorgt dafür, dass ihre Pfosten immer glänzen. Auf der Wand gegenüber dem Treppengeländer hängen gerahmte Familienfotos, in umgekehrter Reihenfolge arrangiert, sodass jeder, der die Treppe hinaufsteigt, in der Zeit zurückgeht. Erst lächeln wir in steifen Kragen und mit zu fest geflochtenen Zöpfen für Schulfotos in die Kamera, dann liegen wir als Babys lachend auf dem Rücken. Danach kommt meine Mutter als junge Frau mit Perlen und Toupierfrisur und mein Vater als blonder kleiner Junge, der die Nase gegen einen Zaun presst und hungrig aus dem Bilderrahmen herausschaut. Unter den Bildern ist ein weinroter Teppich auf die Stufen getackert, der als Läufer dient, aber dazu neigt, gefährlich zu verrutschen, während das alte Holz protestiert.

Die Treppe knarrt so laut, dass ich es von meinem und Nicolas Schlafzimmer im hinteren Teil des Hauses aus höre. Während ich lausche, stelle ich mir vor, wie mein Großvater die Treppe heraufgestiegen kommt: wie er sich von den Fotos abwenden muss, um das Geländer mit beiden Händen zu packen und sich seitwärts hinaufzuarbeiten. Wie seine dicken Finger sich um das Holz klammern, wenn die Angina seinen Mund zu einer schmalen, überraschten Linie werden lässt und seine Arme sich versteifen, während er gegen den Schmerz anatmet. Nur noch diesen einen Anfall ertragen, denkt er sich, dann kommt vielleicht kein weiterer mehr. Er erträgt sein Altern auf die gleiche Weise: indem er sich dem Druck der Zeit entgegenstemmt, als hegte ein Teil von ihm die Hoffnung, dass er sich selbst eines Tages als junger Mann wiederfinden könnte, dem noch alle Möglichkeiten offenstehen.

Meine Großmutter trägt Hauskleider und wickelt ihre kurzen grauen Haare jeden Abend auf Schaumstoffwickler, die sie manchmal nicht einmal am nächsten Morgen entfernt. Aber mein Großvater bügelt noch immer messerscharfe Bügelfalten in seine Hose und trägt eine dazu passende Tweedkappe. Er poliert regelmäßig seinen Gehstock, der an der Tür für seinen täglichen Spaziergang bereitsteht. Ein oder zwei Jahre später (ein Jahr, bevor ich das Zimmer verlasse, wann immer mein Großvater es betritt) werde ich einmal warten, bis die beiden alleine in der Küche meiner Eltern sind. Dann frage ich sie, ob sie sich, alt wie sie sind, mittlerweile an die Vorstellung gewöhnt haben zu sterben.

Als ich diese Frage stelle, bin ich eine sehr ernste Achtjährige. Ich denke oft über den Tod nach. Mir ist bewusst geworden: Das Schweigen meiner Mutter, die Anfälle meines Vaters, all das bedeutet, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. Es hat etwas mit der blauen Reisetasche zu tun, die sie immer noch für meinen Bruder fertig gepackt bereithalten, und mit der Tatsache, dass die Geburtsanzeigen meiner Schwestern gerahmt an der Wand hängen, aber nicht meine und die meines Bruders. Und manchmal habe ich das unerklärliche, aber sichere Gefühl, dass jemand fehlt.

Das kann nicht stimmen. Wir sind vier Kinder, sind immer vier gewesen. Und doch raubt der Gedanke an den Tod mir manchmal den Atem. Also frage ich. Haben sie sich an den Gedanken gewöhnt?

Auf diese Frage hin zuckt meine Großmutter zusammen, und ihre Hände flattern vor meinem Gesicht, als wollte sie den Gedanken verscheuchen. Aber mein Großvater sieht mir in die Augen, die von demselben tiefen Braun sind wie die meiner Mutter. »Nein«, sagt er ganz ruhig. »Die Angst geht niemals weg.«

Meine Großmutter keucht auf. Sie legt mir die Hände auf die Schultern, als könnte sie mich, indem sie mich wegdreht, vor dem Wissen bewahren, dass seine Worte der Wahrheit entsprechen. Aber ich fühle, wie es in meiner Brust ganz ruhig wird, nicht aus Furcht, sondern aus plötzlicher, klarer Dankbarkeit ihm gegenüber. Dankbarkeit dafür, dass er mich als diejenige erkannt hat, die ich bin, dass er meine Frage ernst genommen hat.

Bevor also mein Großvater die Treppe weiter hinaufsteigt, bedenken Sie bitte: Er war nicht nur schlecht. Er war ein Mann, den die Kraft von Geschichten begeisterte, der, als meine Mutter und ihre Brüder klein waren, einen Filmprojektor von seiner Arbeitsstelle mitzubringen pflegte und sie verzauberte, indem er das Wohnzimmer in einen Theatersaal verwandelte. Er wusste, wie man Kinder zum Lachen bringen konnte, und er hatte immer Süßigkeiten oder ein aufziehbares Blechspielzeug in seinen Taschen. Er war der erste Künstler, den ich kannte, ein Maler und Bildhauer. Er lehrte mich das Zeichnen. Er lehrte mich, was es bedeutete, den Blick nach innen zu richten, still und nachdenklich zu sein mitten im Lärm der Außenwelt. Wir waren einander in dieser Hinsicht ähnlich. Als Einzige in unserer Familie. Ich liebte ihn. Es war Familienliebe, die Art von Liebe, die man nicht hinterfragt.

In jenem Moment im Jahr 1984, in dem meine Großmutter auf dem halb leeren Schlafsofa liegt und mein Großvater auf der Treppe innehält, in diesem Augenblick gibt es immer noch eine Alternative. Vielleicht wird mein Großvater heute, anders als in all den Nächten zuvor, kehrtmachen. Wird die Treppe wieder hinabsteigen und meiner Großmutter eine Erzählung ihrer Ehe ermöglichen, eine Erzählung ihres Lebens, in der sie ihn eben nicht auf der Treppe hört. Er wird meine Schwester und mich in unseren Kinderbetten in Ruhe lassen, in denen wir in diesem Moment schweigend daliegen und in die Dunkelheit horchen. Wir wissen beide, worauf wir lauschen, auch wenn wir die Worte niemals ausgesprochen haben.

Oder vielleicht wird heute Nacht – anders als in allen anderen Nächten, die ihr vorausgegangen sind – meine Großmutter ihr Gebetskärtchen beiseitelegen, ihre Augen öffnen und aus dem Bett aufstehen, dem Geräusch nachgehen, das sie ja hören muss …

Doch nein. Die Treppe.

Meine Großmutter in ihrem Bett, meine Schwester in ihrem, ich in meinem – wir liegen da und lauschen.

Verbrechen und Wahrheit (eBook)

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