Читать книгу Verbrechen und Wahrheit (eBook) - Alex Marzano-Lesnevich - Страница 15

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Louisiana, 1992

Als am Morgen des 8. Februar die Dämmerung hereinbricht, steht ein einzelner Streifenwagen vor dem heruntergekommenen weißen Haus in Iowa. Das Auto gehört Officer Calton Pitre. Er arbeitet schon fünfzehn Jahre in der Polizeidienststelle des Calcasieu Parish und wird noch weitere zehn Jahre dort bleiben; alles in allem wird seine Dienstzeit als Hilfssheriff in diesem Cluster von Kleinstädten im Südwesten des Bundesstaats ein Vierteljahrhundert umfassen. Pitre saß in seinem Büro in Lake Charles, als die Vermisstenmeldung für den Jungen einging. Selbst zehn Jahre später kann er nicht sagen, warum der Anruf ihm so viel Angst gemacht hat. Aber er hat selbst einen kleinen Sohn in Jeremys Alter. Und zehn Jahre später, als sein Junge bereits ein Teenager ist, werden die Anwälte ihn in den Zeugenstand rufen, damit er noch einmal aussagt, und er wird sich ohne Hilfe an Jeremys Namen erinnern. Als sie das Kind fanden, trug es ein kleines weißes T-Shirt von Fruit of the Loom, wird er den Anwälten sagen. Sie schnitten das Shirt in Streifen, um es auf Spermaspuren zu überprüfen. Auch sein Sohn trug T-Shirts von Fruit of the Loom.

Er nahm den Anruf an, obwohl seine Schicht fast zu Ende war; er erreichte Iowa, als eben die Sonne unterging. Dutzende von Leuten waren auf der Straße unterwegs, Eltern aus dem Ort, aber auch die Feuerwehr aus dem benachbarten LeBleu. Fünfzig oder sechzig Menschen, und Pitre erkannte auf einen Blick, dass niemand die Aktion leitete. Sie hatten nicht viel Zeit. Jede wie auch immer geartete Suche, die sie auf die Beine stellen konnten, würde ihr Ende finden müssen, sobald es ganz dunkel geworden war. Die Männer der Feuerwehr betraten das Wäldchen. Pitre betrat das weiße Haus, aus dem die Notrufe gekommen waren. Es waren zwei gewesen: von der Mutter des Jungen, die weinte, und dann, wenige Minuten später, von einem jungen Mann, einem Untermieter in dem Haus, der noch einmal anrief, um sicherzustellen, dass die Polizisten die richtige Straße fanden. Pitre fragte, ob er das Telefon benutzen dürfe.

Eine Frau ließ ihn hinein. Es sei ihr Haus, erklärte sie. Sie zeigte ihm, wo das Telefon war, und ging sofort wieder ins Wohnzimmer zurück, wo der Fernseher lief. Etliche Kinder saßen dort im Schneidersitz auf dem Boden, während ein junger Mann mit braunen Haaren und Brille im Sessel kurz den Kopf wandte und ihm zunickte. Sie schauten irgendeine Krimiserie; Pitre wusste nicht, welche. Er erklärte seinem Vorgesetzten, dass jemand die Suche koordinieren müsse, dass eine zentrale Meldestelle nötig sei und jemand, der die Verantwortung trug. Sie brauchten mehr Leute. Aber der Vorgesetzte wollte sich auf nichts dergleichen einlassen – überhaupt, war da draußen nicht LeBleu zuständig? Oder doch Iowa? Frustriert kehrte Pitre wieder auf die Straße zurück.

Wenig später kam er wieder, um einen zweiten Anruf zu tätigen. Das Wäldchen war ein schwieriges Terrain. In seinem nördlichen Teil gab es eine Schlucht und so etwas wie einen Kanal. Sie benötigten Geländefahrzeuge, vielleicht auch ein Boot.

Als Calton Pitre zum dritten Mal das weiß gestrichene Haus betrat, um seinen Vorgesetzten anzurufen, sah er, dass der braunhaarige Mann immer noch auf der Couch saß und fernsah, und er hatte eine Idee. »Sie kennen die Gegend hier?«, fragte er.

»Ja, klar«, antwortete der Mann.

»Können Sie mir eine Karte zeichnen?«

Der Mann nahm den Spiralblock, den Pitre ihm reichte, und skizzierte sorgfältig die Umgebung um das Haus, zeichnete den Wald ein. Er ließ ein Netz kleiner Nebenstraßen entstehen und markierte die Route zum Highway 90. »Sagen Sie mir, wenn Sie damit nicht klarkommen«, meinte der Mann.

»Danke«, sagte Pitre.

Aus dem Verhandlungsprotokoll, 2003

Frage: Und wie wirkte der junge Mann auf Sie?

Antwort: Er war ruhig, er war sehr ruhig.

Frage: Sehen Sie ihn hier im Gerichtssaal?

Antwort: Ja.

Frage: Können Sie auf ihn zeigen und beschreiben, was er trägt?

Antwort: Er trägt eine Brille und ein hellblaues Hemd mit Krawatte.

Frage: Euer Ehren, bitte lassen Sie zu Protokoll nehmen, dass der Zeuge den Angeklagten identifiziert hat.

Die Suchmannschaften und die Polizisten in den Geländewagen und die Feuerwehrleute fanden nichts. Sie würden ein Bergungsboot für den Kanal brauchen, aber das musste bis zum Morgen warten. Die Eltern hatten ihre Kinder abgeholt und waren heimgegangen. Die Taschenlampen, die sie zuvor in den Wäldern benutzt hatten, waren jetzt auf die dunkle Straße vor ihren Füßen gerichtet. Und obwohl sie nicht mehr durch die Wildnis, sondern durch Vorgärten liefen, hielten sie einander fester als sonst.

Pitre blieb vor Ort. Er konnte nicht aufhören, an den kleinen Jungen zu denken. Er hatte ein Schulfoto des Kindes an sein Klemmbrett geheftet – blonde Haare, blaue Augen, ein zahnlückiges Grinsen. Der Onkel, ein Mann namens Richard, hatte es ihm gegeben. Pitre saß am Steuer seines Wagens und sandte Licht­signale zwischen die Baumstämme. Einmal, zweimal, dreimal. Dann hielt er inne und wartete. Einmal, zweimal, dreimal. Warten. Der Wald war finster, das Rauschen der schwarzen Blätter die einzige Bewegung. Er ließ die Lampe erneut aufleuchten. Und wieder. Immer wenn er dachte, es sei an der Zeit, nach Hause zu gehen und etwas zu schlafen, stellte er sich das blonde Haupt des Kindes von dem Foto auf einem Blätterhaufen vor. Der Junge wachte vielleicht gerade jetzt auf, öffnete langsam die Augen, so wie Pitres Sohn es immer tat. Dann, genau dann, würde er das blinkende Licht bemerken. Dann würde er wissen, dass er auf das Licht zulaufen musste. Wie konnte Pitre aufhören, ehe der Junge aufwachte?

Aber zu guter Letzt drohte er selbst einzunicken. Der nächste Tag würde lang werden. Pitre fuhr nach Hause, küsste seinen schlafenden Sohn, küsste seine schlafende Frau und ging selbst schlafen.

Jetzt, im Morgengrauen, ist er zurück. Er sitzt hinter dem Steuer des Geländewagens und nippt an seinem Kaffee, während die Mütter aus der Nachbarschaft wiederkommen, um bei der Suche zu helfen.

Die Mütter sehen erschöpft aus; einige sind noch im Morgenmantel. Eine Frau trägt einen zugeknöpften Wintermantel über Pyjama und Hausschuhen. Die Nachricht verbreitet sich schnell: Keine Neuigkeiten, der Guillory-Junge wird immer noch vermisst. So unmittelbar wie ein Echo folgt die Antwort: Er hat sich nur verlaufen. Ganz sicher hat er sich nur verlaufen. Sie werden ihn finden. Eine Frau steht an der Grenze zwischen Straße und Wiese – dort, wo in anderen Gegenden der Stadt, in denen die Straßen Namen haben, ein Gehsteig wäre – und gibt mit lauter Stimme Anweisungen, um die Mütter in Suchtrupps zu organisieren. Jemand anderes kommt auf die Idee, an die Tür des weiß gestrichenen Hauses zu klopfen, um herauszufinden, ob noch etwas von dem Kaffee da ist, den die Mitarbeiter der Tankstelle am Highway am vergangenen Abend gebracht haben.

Die Tür des weißen Hauses bleibt geschlossen. Ricky und seine Vermieterin Pearl Lawson sind bereits in Pearls Auto gestiegen. Er muss zu seiner Schicht in der Tankstelle, und an den Tagen, an denen sie morgens ebenfalls eingeteilt ist, nimmt sie ihn mit. Pearl hat einen verantwortungsvollen Posten dort, manchmal übernimmt sie die Kasse für die Truckfahrer. Man kann ihr in Geldsachen vertrauen. Ricky räumt auf und hält die Tankstelle in Ordnung. Normalerweise unterhalten sie sich miteinander, aber heute früh schweigen beide. Die Morgenluft ist kühl, ein leichter Nebel liegt über allem, und Ricky rieb sich die Hände, um sie warm zu halten, während er wartete, dass sie das Auto aufschloss. Er warf die Tasche mit Schmutzwäsche, die er dabeihatte, auf den Rücksitz, und jetzt starrt er auf seinen Schoß hinunter. Pearl sieht nicht zu ihm hinüber. An diesem Morgen verhalten sich die beiden, als wären sie ein streitendes Ehepaar.

Als sich am Abend zuvor die Nachricht von dem verschwundenen Kind in der Nachbarschaft verbreitete und die Mütter zum ersten Mal zusammenkamen, standen sie alle auf der Straße vor dem Haus der Lawsons. Sie beschlossen, dass Ricky, der Untermieter, sich um die Kinder kümmern sollte, zumal er ja oft auf die beiden Kleinen der Lawsons aufpasste. Die Kinder hatten mit Ricky zusammen im Wohnzimmer ferngesehen, und später waren sie in sein Schlafzimmer hinaufgegangen, um dort zu spielen.

Aber spät am Abend, nachdem das letzte Kind von seiner Mutter abgeholt worden war und sich sogar die Polizisten auf den Heimweg gemacht hatten, als nur noch ein Streifenwagen vor dem Haus parkte und den Himmel in regelmäßigen Abständen mit den Scheinwerfern erhellte, kam Ricky nach unten und fand Pearl am Küchentisch sitzend vor. Er trug einen Plastikkorb mit Schmutzwäsche in der Hand. Die Waschmaschine befand sich draußen im Vorgarten, war über einen Schlauch mit dem Haus verbunden. Aber Pearl schaute ihn so ernst an, dass er den Korb abstellte. Sie war schon im Nachthemd; vor ihr stand ein Becher mit Tee. Sie und Terry schliefen auf einer Matratze im Wohnzimmer, seit Ricky im Haus wohnte. Sie hatten ihm das Schlafzimmer vermietet.

»Weißt du, Ricky«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme und studierte ihren Tee, anstatt Ricky anzusehen, als versuchte sie, ihre Worte nebensächlich klingen zu lassen. »Vielleicht solltest du die Stadt für ein paar Tage verlassen, bis sich wieder alles beruhigt hat.«

Pearl wusste – das wird Ricky später schwören –, sie wusste, dass er wegen Kindesmissbrauchs im Gefängnis gewesen war. Sie nahm ihn auf, als er nach seiner Haft in Georgia auf Bewährung frei war. Sie hatten sich kennengelernt, als sie beide noch in einem heruntergekommenen Motel in der Nähe der Tankstelle hausten, wo die Miete wöchentlich zu zahlen war. Pearl, Terry und ihre beiden Kinder schliefen dort alle zusammen in einem Raum. Ricky kannte damals niemanden und versuchte, alleine das Geld für sein Einzelzimmer aufzubringen. Pearl und Ricky sahen einander während ihrer Pausen an der Tankstelle, im Wäscheraum oder an der Eismaschine im Motel – und wenn sie beim Mann an der Rezeption bezahlten. Eines Abends, als Pearl und Ricky auf dem Parkplatz vor dem Motel he­rumstanden, hatte sie eine Idee. Sie und ihr Mann wollten ein Haus in Iowa mieten. Aber um sich das leisten zu können, würde sie mehr arbeiten müssen, und es wäre niemand da, der sich um June und Joey kümmern konnte. Vielleicht könnten sie sich zusammentun?

Das war vor zwei Monaten gewesen. Und Ricky vergriff sich nie an den Lawson-Kindern. Das Versprechen hatte er sich selbst gegeben. Ein Versprechen, das er hielt.

Jetzt hat sie ihn aufgefordert zu gehen.

Und deshalb hat Ricky an diesem Morgen eine Reisetasche mit sauberen Sachen dabei sowie einen Sack mit der Kleidung, die er am Vortag getragen hat und die er eigentlich in der Nacht hatte waschen wollen. Pearl lenkt das Auto auf die Straße hinaus und nickt Pitre zu, ehe sie an der Polizeiabsperrung vorbeifahren.

Pitre nickt zurück. Er erkennt Pearl wieder. Vergangene Nacht hat sie ihm das Telefon gezeigt und sich um die Verteilung des Kaffees gekümmert, den die Betreiber der Tankstelle gespendet hatten. Er erkennt in Ricky den jungen Mann, der ihm die Karte gezeichnet hat, die jetzt an seinem Klemmbrett befestigt ist. Die Sonne steigt über dem Horizont auf in den Himmel, und übermüdete Eltern kommen immer noch in kleinen Grüppchen vor Ort an. Wenn genügend von ihnen eingetroffen sind, wird Pitre die Karte nutzen, um die Teams zu koordinieren. Er wird die Sektoren der Karte abhaken, während die Suche läuft. Sie werden das Kind finden, da ist er sich sicher.

Als Ricky am Abend seine Schicht in der Tankstelle beendet hat, kehrt er zum ersten Mal, seit er dort eingezogen ist, nicht in das weiße Haus der Lawsons zurück, in dem zu wohnen ihn so stolz gemacht hat. Es war das erste Zimmer, das er jemals wirklich sein Eigen nennen konnte. Das Zimmer, in dem in diesem Moment die Leiche von Jeremy Guillory steif im Schrank steht, von allen Seiten eingekeilt, eingewickelt in die blaue Decke von Rickys Bett, mit einem Müllsack über Kopf und Schultern. Die Wanderschuhe, die ihm von den Füßen gefallen waren, als Ricky ihn würgte, stehen fein säuberlich daneben. Auch das Luftgewehr ist an seiner Seite. Ricky hatte ihn dort versteckt und die Schranktür geschlossen, bevor die anderen Kinder ins Zimmer kamen. Er hatte dem Jungen eine Socke in den Mund gestopft und um seinen Hals ein Stück Angelschnur festgezogen. Das Kind hatte die ganze Zeit gurgelnde Laute von sich gegeben.

Statt zu den Lawsons zurückzukehren, fährt Ricky also per Anhalter zu dem Wohnwagen seiner Eltern in einem anderen Stadtteil von Iowa. Die Wohnwagensiedlung ist ein weitläufiges, flaches Gelände mit niedergetrampeltem Gras zwischen den einzelnen Parzellen. Seine Eltern lebten früher in einem Haus in der nahe gelegenen Stadt Hecker, das sein Vater Alcide gebaut hatte, aber in den vergangenen Jahren machten es ihnen die Krankenhaus- und Arztkosten seiner Mutter Bessie unmöglich, das Stück Land weiterhin zu behalten. Sie zogen in diesen weißen Wohnwagen, als Ricky und sein jüngerer Bruder noch zu Hause lebten. Er klopft an die elfenbeinfarbene Tür.

Es dauert, bis Bessie ihm öffnet. Zwanzig Jahre sind vergangen, seit die Ärzte ihr Bein amputiert haben, und noch immer läuft sie mithilfe einer einzelnen uralten Krücke. Es ist schwer, sich damit in dem engen Raum zu bewegen. Er nickt ihr zu, nicht mehr als ein kurzes, steifes Zur-Kenntnis-Nehmen ihrer Person, dann geht er direkt zu der Waschmaschine und dem Trockner, die ganz hinten im Wohnwagen übereinander stehen. Öffnet den Wäschesack. Schaltet die Maschine ein und stopft seine Khakihose hinein. Die Hose, die er gestern trug, als er Jeremy erwürgte. Schüttet das Waschmittel direkt darauf. Vielleicht befinden sich auf der Hose Spermaspuren, vielleicht auch nicht. Das Wasser wäscht die Wahrheit mit fort.

Erst danach wendet sich Ricky um und begrüßt Bessie.

Es ist Abend. Bessie trinkt schon seit Stunden. Sie wuchtet ihren Körper durch den engen Raum zum Esstisch hinüber. Sie lässt sich schwer auf den Stuhl fallen, und ihr pinkfarbenes Hauskleid bläht sich dabei über ihrem ausladenden Schoß ein wenig auf. Alcide räumt die Rechnungen vom Tisch, ehe er sich ebenfalls setzt.

Ricky blickt sich in dem düsteren, schäbigen Raum um. Er registriert die Rechnungen, den Schmutz, der die Oberflächen im Küchenbereich verkrustet, das dreckige Geschirr im Waschbecken. Die Glühbirne über dem Ofen ist kaputt und nicht ausgetauscht worden. Die Luft riecht schal und scharf; ein säuerlicher Hauch von Bessies Alkohol hängt über allem. Er hasst es. Er hasst das alles. Hasste es, als er noch hier lebte, und hasst es noch mehr, als er jetzt sieht, was er hinter sich gelassen hat.

In der Ecke steht ein kleiner Fernseher, der so platziert ist, dass man ihn sowohl vom Küchentisch als auch von dem braunen Sofa an der Wand aus sehen kann. Das Gerät ist abgeschaltet, aber noch warm. Bessie und Alcide haben den ganzen Tag daraufgestarrt. Sie wussten, dass Ricky zu ihnen kommen würde. Sie haben das weiße Haus gesehen, in dem er lebte, unheimlich und geisterhaft im Licht der Kameras, haben die improvisierte Suchzentrale vor dem Haus gesehen. Sie haben einen Reporter berichten hören, dass ein kleiner Junge vermisst werde, haben die Schule des Jungen auf dem Bildschirm gesehen. Die Kamera zeigte die weinende Mutter des Kindes.

Bessie weiß, dass Alcide nichts über das sagen wird, was sie gesehen haben. Er ist kein großer Redner, schon gar nicht, wenn es um seinen ältesten Sohn geht. Also muss Bessie das übernehmen. Sie reicht über den Tisch und ergreift die Hand ihres Sohnes, die kühl und schlaff ist. Er erwidert ihren Händedruck nicht. »Ricky«, sagt sie, und dann hält sie inne.

Ricky wartet.

»Du hattest doch nichts mit diesem kleinen Jungen zu tun, der vermisst wird, oder?«

Was geht in einer Mutter in dem Augenblick vor, bevor sie so eine Frage stellt? Ihr Sohn ist an der Tür des Wohnwagens aufgetaucht, ihr Sohn, den sie jetzt, da er erwachsen und von zu Hause ausgezogen ist, kaum mehr sieht. Sie liebt ihren Sohn. Hat ihn geliebt, noch bevor er geboren wurde, als sie um ihn kämpfen musste gegen die Ärzte, die nicht wollten, dass er geboren wird, dieses Kind, das so viele Probleme hatte. Dieser Junge, der öfter versucht hat, sich umzubringen, als sie zählen kann, und der bereits zweimal wegen Kindesmissbrauchs im Gefängnis saß. Einmal hat Bessie einer Sozial­arbeiterin erzählt, dass sie ihn keine fünf Minuten aus den Augen lassen konnte, ohne dass er loszog und irgendwen belästigte.

Jetzt ist Ricky erwachsen. Er lebt jenseits ihres Einflussbereichs. Ein Junge aus der Straße, in der er lebt, wird vermisst.

Sie stellt die Frage.

»Nein«, antwortet er.

Dieses Schweigen, in das sie daraufhin verfällt – ist es das süße, dankbare Schweigen von jemandem, der glaubt, was er hört? Oder ist es so schwarz und trügerisch wie die Nacht, die sich gerade über das Ende des zweiten Tages einer erfolglosen Suche legt und die dunklen, feuchten Wälder verbirgt, in denen keine Kinderleiche zu finden ist. Verbirgt dieses Schweigen ebenso viel wie die Dunkelheit?

»Wetten, der Junge ist da draußen im Wald?«, fügt Ricky hinzu. »Sie werden ihn finden«, sagt er, während die drei, der Mann und die Frau und das Kind, das sie gezeugt haben, beieinandersitzen und die zweite Nacht hereinbricht.

Verbrechen und Wahrheit (eBook)

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