Читать книгу Verbrechen und Wahrheit (eBook) - Alex Marzano-Lesnevich - Страница 19

Оглавление

9

Louisiana, 1992

Lorilei ist diejenige, die zu guter Letzt die Polizei auf Ricky Langleys Spur führt. Früh am Montagmorgen, ihr Sohn ist noch immer nicht gefunden, sucht der Sheriff sie in Melissas Haus auf und bittet sie, zur Polizeistation zu kommen, um dort einige Fragen zu beantworten. Er ist freundlich, aber entschieden. Sie muss sich einem Lügendetektortest unterziehen.

Platzieren wir sie dafür in einem kleinen Raum in der Polizeidienststelle. Von der Decke hängt eine kegelförmige Lampe, genau wie in der Küche meiner Eltern, als ich ein Kind war, die Art Lampe, die in jedem Krimi zu sehen ist, wenn ein Verdächtiger verhört wird, und die deshalb zweifellos auch über Ricky Langleys Kopf hängen muss, wenn er schließlich vor laufender Kamera sein Geständnis ablegt. Lorilei ist nicht verdächtig – »Nein, Ma’am, wir wollen nichts andeuten«, sagt der größere, stämmige Polizist mehrmals zu ihr. Die Wahrheit ist, dass es keine Verdächtigen gibt. Noch nicht.

Die Männer stellen sich ihr als Don Dixon vom FBI-Außendienst und Donald DeLouche von der Polizeiwache des Calcasieu Parish vor. »Aber Sie können mich Lucky nennen«, meint der hochgewachsene Mann. »Das tun alle.«

Lucky?, denkt sie sich bestimmt. Schönes Glück! Wo ist ihr Junge?

In den Stimmen der beiden Männer am Tisch mischen sich Freundlichkeit und Anspannung. Sie kann nicht ausmachen, ob sie glauben, dass sie etwas mit Jeremys Verschwinden zu tun hat. Wahrscheinlich ist sie auch zu müde, um sich darum zu kümmern, was sie glauben. Sie will nur ihren Jungen zurückhaben.

»Nun, Ma’am, ich muss Sie bitten, sich so genau wie möglich an alles zu erinnern.«

Sie seufzt. »Ich habe den Ermittlern doch schon alles gesagt. Ich bin nach nebenan gegangen und danach zum Haus der Lawsons. Sie haben einen Jungen und ein Mädchen; Jeremy spielt dort manchmal mit ihnen. Ein Mann hat mir die Tür geöffnet und mir angeboten, das Telefon zu benutzen, damit ich meinen Bruder anrufen konnte.«

»Wissen Sie seinen Namen?«

Es ist das erste Mal, dass ihr jemand diese Frage stellt. Zu dem Zeitpunkt, als ihr Sohn verschwand, kannte sie seinen Namen noch nicht, inzwischen aber schon. »Ricky Langley«, sagt sie.

Lucky steht auf, nimmt seinen Hut vom Tisch und verlässt den Raum. Dixon folgt ihm.

Etwa eine Minute später kommt ein anderer Polizist herein. Er ist jünger als die beiden anderen und glatt rasiert. Er nimmt den Stuhl, auf dem Lucky gesessen hat, und zieht ihn zum Tisch. »Keine Sorge«, sagt er. »Die beiden müssen nur etwas überprüfen. Mein Name ist Roberts. Also dann: Sie wollten über den Mann reden, der Ihnen die Tür geöffnet hat?«

Stundenlang behält Roberts sie da, geht den Tag in allen Details mit ihr durch. Manchmal kommt ein anderer Polizist dazu. Gemeinsam spüren sie jedem einzelnen Schritt nach, den sie getan hat. Schließlich bringen sie sie ins Büro des Sheriffs.

Dort erzählen sie ihr, dass sie ihren Sohn gefunden haben. Er ist tot.

Vierundzwanzig Stunden zuvor hätte Lucky und Dixon der Name Ricky Langley nichts gesagt. Aber am Morgen des 9. Februar, während die Suche weiterlief, waren die beiden zusammen in den Wald gegangen, um Gänse zu jagen. Später würde man ihnen vielleicht die Hölle heiß machen, weil sie jagen gegangen waren, obwohl ein Kind vermisst wurde. Später würde die ganze Sache vielleicht einen komischen Beigeschmack haben. Aber die Blässgänse kamen nur zweimal im Jahr durch diesen Landstrich, und überhaupt war der Junge höchstwahrscheinlich ertrunken und längst tot.

In aller Frühe hatten sie flache Boote mit Lockvögeln bestückt und langsam flussabwärts treiben lassen, bis sie das leise Schnattern des Schwarms hörten, mit dem die Vögel auf die Köder reagierten. Dort hatten sie die Boote festgemacht und in dem weichen Schlamm in Ufernähe zwei brusthohe Gruben ausgehoben. Nun, als sie Seite an Seite in ihren Löchern hockten, die Hände schussbereit an den Gewehren, eine Thermoskanne mit Kaffee zwischen sich, schaute Dixon in den leeren blaugrauen Himmel und sagte zu Lucky: »Was hältst du von der Sache mit dem Jungen, der immer noch vermisst wird? Macht ihr weiter mit der Suche?«

Die Gruben waren eiskalt, die Luft zu still. »Heute auf jeden Fall noch«, meinte Lucky. »Aber die brauchen mich da nicht.« Er goss Kaffee in den Plastikdeckel der Thermoskanne und nahm einen Schluck. »Sie suchen heute mit Baggern im Kanal. Die Leute von der Wache haben die Sache im Griff.«

»Ich weiß schon, dass es nicht mein Fall ist«, sagte Dixon, »aber ich glaube nicht, dass er im Wald ist. Wenn er dort wäre, hätten sie ihn mittlerweile gefunden.«

»Er ist bestimmt ertrunken. Viele Kinder ertrinken dort in der Gegend.«

»Dann hätten sie ihn auch schon gefunden.«

»Vielleicht«, antwortete Lucky. Mehr schien er nicht sagen zu wollen.

Dixon wartete eine Weile und wählte seine Worte dann mit Bedacht: »Wenn ihr die Leiche bis morgen früh nicht findet, wird das FBI sich intensiver mit der Sache befassen müssen.«

Nach dem Mord an Charles Lindberghs Baby war das Bundesgesetz zum Kidnapping in Kraft getreten, demzufolge nach vierundzwanzig Stunden von der Vermutung auszugehen ist, dass ein vermisstes Kind über die Grenze in einen anderen Bundesstaat gebracht wurde. Jeremy wurde bereits seit sechsunddreißig Stunden vermisst.

Sehr bald würde es nicht mehr Luckys Fall sein.

»Das weiß ich«, sagte Lucky.

»Sie werden die Sache an sich ziehen.«

»Ich weiß.« Lucky spielte an seinem Gewehr herum, entsicherte es und legte an. Keine Spur von den Gänsen. Er nahm die Jagdbeute ins Visier, die sich noch nicht blicken ließ. »Okay, morgen vernehme ich die Mutter.«

An diesem Abend, nachdem Lucky und Dixon zusammengepackt hatten, ohne dass die langen Stunden in den Gräben ihnen irgendeinen Erfolg beschert hätten, machte Lucky auf dem Weg nach Hause bei der Polizeiwache halt. Er wollte noch ein wenig Papierkram erledigen und alles für das Gespräch mit der Mutter am nächsten Tag vorbereiten. Er saß am Schreibtisch, und die einsame Schreibtischlampe warf ein warmes gelbes Licht auf die Akten vor ihm, als das Telefon klingelte. Am anderen Ende der Leitung war eine Bewährungshelferin. »Ich hab von dem vermissten Jungen bei Ihnen gehört«, sagte sie mit einer stark näselnden Stimme. »Es gibt da einen Mann, über den Sie Bescheid wissen sollten, er ist auf Bewährung draußen; saß in Georgia wegen Kindesmissbrauch. Nicht mein Fall, eigentlich – die haben von Georgia niemals irgendwelche Unterlagen geschickt; das letzte Mal habe ich ihn im Dezember gesehen. Danach ist er verschwunden.«

Viele Männer entzogen sich dem Bewährungsprozess. Sie meinte es sicher gut, aber wahrscheinlich hatte es nichts mit der Sache zu tun.

»Was ist die letzte Adresse, die Sie von ihm haben?«

»Lassen Sie mich nachschauen«, sagte sie. Lucky hörte das Rascheln von Papier. »Er hat bei seinen Eltern in Iowa gelebt. Iowa«, wiederholte sie. »Sie sprechen das komisch aus da drüben, nicht? Hier steht, er hat eine Vorliebe für Jungen im Alter von ungefähr sechs Jahren. Wie alt ist der Junge, den Sie suchen?«

Luckys Herz begann schneller zu schlagen. »Sechs.«

»Vielleicht sollten Sie versuchen, ihn zu finden«, riet sie ihm. »Er heißt Ricky Langley.«

Es ist kurz nach zehn Uhr am Montagmorgen, als Lucky und Dixon auf den Parkplatz der Tankstelle fahren. Der Himmel ist von klarem, leichtem Blau. Sie haben einen Haftbefehl bei sich, auf dem die Tinte der richterlichen Unterschrift noch kaum getrocknet ist – gegen Ricky Langley, wegen seines Verstoßes gegen die Bewährungsauflagen in Georgia. Dixon steigt aus dem Auto. Er sieht einen jungen Mann mit Segelohren, der auf einem Traktor sitzt und damit Muschelkalk auf dem Boden verteilt. Dixon bedeutet ihm, den Traktor abzustellen.

»Steigen Sie ab«, sagt er. Er mustert den Mann. Braune Haare, ziemlich dürr, Brille. »Ich bin Agent Dixon, und das ist Detective DeLouche. Sind Sie Ricky Langley?«

»Ja, Sir.«

Lucky hat bisher nichts gesagt, aber jetzt kommt er direkt auf Ricky zu. »Sie haben das Recht zu schweigen«, sagt er. Staub wirbelt von den zerstoßenen Muscheln auf, als er darüberläuft. »Sie haben das Recht auf einen Anwalt. Wenn Sie sich keinen Anwalt leisten können, wird Ihnen einer gestellt.« Ricky antwortet nicht, und Lucky hört nicht auf zu reden. »Verstehen Sie diese Rechte, die ich Ihnen gerade erklärt habe?« Er steht jetzt vor Ricky.

»Ja, Sir.«

»Wir werden Ihnen jetzt einige Fragen stellen«, sagt Lucky. »Sie kommen mit uns.«

Ricky wird plötzlich so still wie ein gejagtes Tier, das in die Falle gegangen ist. Dann senkt er den Blick – und das, wird Dixon später sagen, überzeugt ihn davon, dass sie den richtigen Mann gefunden haben. Wenn einer schuldig ist und bereit ist, zu gestehen, senkt er den Blick.

Schließlich sagt Ricky: »Ich hab meine Jacke da drin.«

»In der Tankstelle?«

»Ja.«

»In Ordnung, wir holen sie.«

Lucky geht zum Tankstellengebäude, um Rickys Jacke zu holen und die Stempelkarten zu untersuchen, die ihnen zeigen werden, wann Ricky an dem Tag, an dem Jeremy verschwand, in der Arbeit war. Dixon führt Ricky zum Streifenwagen. Er hätte ihm, wenn nötig, Handschellen angelegt, aber Ricky geht freiwillig mit, ein paar Schritte vor Dixon. Beide Männer gehen steifbeinig, ihre Körper sind wachsam und unter Hochspannung, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Die Februarluft ist so kalt und trocken wie ein leerer Raum. Als sie am Auto ankommen, beugt sich Dixon vor, öffnet die hintere Tür und bedeutet Ricky einzusteigen. Er gehorcht. Dixon schließt den Sicherheitsgurt und sagt noch einmal: »Sie haben das Recht zu schweigen.« Seine Stimme klingt hart. Ricky lässt den Kopf wieder sinken. »Sie haben das Recht auf einen Anwalt.« Dixon sagt das alles zum zweiten Mal. Die Verhaftung muss absolut wasserdicht sein. »Verstehen Sie diese Rechte, wie ich sie Ihnen erklärt habe?«

»Ja«, antwortet Ricky. Er klingt elend.

Dixon setzt sich ans Steuer. Im Rückspiegel betrachtet er Ricky. Er registriert – dafür wurde er geschult –, dass Rickys Halsschlagader unter dem gesenkten Kinn heftig und schnell pulsiert. Registriert die Spannung in seinen Halsmuskeln und die zu Fäusten geballten Hände. Ricky sieht aus wie ein Mann, der sich verzweifelt wünscht, dass der gegenwärtige Augenblick nicht wahr ist.

Das ist der geeignete Moment, beschließt Dixon.

Er wendet sich zu ihm um. »Also, Ricky«, sagt er. Er kann Rickys Gesicht nicht sehen, nur seinen Scheitel, sein dunkles Haar. »Ich will, dass du mir in die Augen siehst, von Mann zu Mann.«

Ricky rührt sich nicht.

»Von Mann zu Mann, Ricky.« Dixon lässt seine Stimme ruhig und unbewegt klingen. Bei jemandem wie Ricky, der sein ganzes Leben als seltsam galt, einem Außenseiter, einem, den niemand res­pektiert, muss man ruhig klingen, das weiß Dixon. Als würde man ihn ernst nehmen. »Sieh mich an, Ricky.«

Einen kurzen Moment blickt Ricky auf, und als er seine Augen sieht, weiß Dixon Bescheid. Die Pupillen sind geweitet. Dixon hat ihn.

»Ich will, dass du mir in die Augen siehst« – Ricky schaut weg – »nein, ich will, dass du mir in die Augen siehst, Ricky, und mir sagst, ob du irgendetwas über das Verschwinden von Jeremy Guillory weißt.«

Ein Schauer rieselt über Rickys Schultern. Wie das Zittern, das durch einen Körper geht, der den Kampf aufgibt.

Dann, plötzlich: »Ich war es.« Ricky atmet aus. »Ich hab’s getan, ich hab’s getan, ich weiß nicht, warum, aber ich hab’s getan.« Er verbirgt das Gesicht in den Händen. Einfach so. So einfach. Drei Tage, und dann ist es plötzlich vorbei. Schluss.

»Wo ist die Leiche?«, fragt Dixon.

»Im Schrank. In meinem Schlafzimmer.«

Ohne ein weiteres Wort dreht sich Dixon nach vorn und steigt aus dem Wagen. Steigt aus und verriegelt die Tür hinter sich.

Ricky, der gerade einen Mord gestanden hat, bleibt allein im Auto zurück.

Woran denkt er? In jener Nacht, in der Nacht nach dem Mord an Jeremy, ging Ricky alleine im Dunkeln hinauf in sein Schlafzimmer. Nachdem all die Eltern ihre Kinder abgeholt hatten und mit ihnen nach Hause gegangen waren, und nachdem Pearl ihm gesagt hatte, er solle besser die Stadt verlassen, und ihr Gesicht abgewandt hatte, als könne sie es nicht ertragen, ihn anzusehen, und nachdem sie sich neben ihrem Ehemann auf der Matratze im Wohnzimmer schlafen gelegt hatte. June und Joey schliefen gegenüber. Das Haus war still. Ricky saß auf dem Bett und lauschte der Stille.

Es war das erste Mal seit Stunden, dass er alleine war, das erste Mal, seit Jeremy am Nachmittag an der Tür geklingelt hatte. Er konnte nicht schlafen – er war viel zu aufgeregt –, und er dachte die ganze Zeit an Jeremy. Dachte daran, dass seine Augen offen gewesen waren, als Ricky ihn gepackt hatte, und dass sie sich wie von selbst geschlossen hatten. Er wusste, dass es nicht sein konnte, aber wie er da in seinem Schlafzimmer saß und wusste, dass der Junge in dem Schrank war, hatte er das Gefühl, ihn atmen zu hören. Er bildete sich ein, dass sich diese Augen wieder öffneten. Jemand beobachtete ihn.

Hinter seinem Schlafzimmer gab es eine Treppe, sieben Meter lang, die direkt in den Wald führte und sich angeboten hätte, wenn Ricky die Leiche hätte loswerden wollen. Stattdessen schlich Ricky mitten in der Nacht hinunter in die Küche und nahm eine Rolle Alufolie. Er bedeckte die beiden Fenster seines Schlafzimmers mit Folie und klebte sie fest, sodass kein Licht mehr hereinfallen oder hinausdringen konnte.

Er hätte nicht sagen können, wer ihn nicht beobachten durfte und warum es so wichtig war, dass diese Fenster nicht mehr da waren. Er wusste nur, dass er eine kleinere Welt brauchte, eng um ihn herum, verschlossen.

Dieses Gefühl muss Ricky jetzt wieder haben, im Polizeiauto, wo die klare, helle Wintersonne durch die Scheiben scheint und das Wageninnere aufheizt. Wenn nur die Welt so klein bleiben könnte, nach außen abgeriegelt. Er hüllt sich in das Gefühl, eine Zeit lang, er weiß nicht, wie lange.

Bis Dixon zurückkommt und sagt: »Wir fahren zum Haus.«

Tagelang war die Straße voll mit Menschen, Hunden, Polizeikräften und Schleppern für die Suchboote. Aber als Dixon und Lucky jetzt mit dem Streifenwagen vorfahren, ist die Straße verlassen. Ricky sitzt, noch immer mit gesenktem Kopf, in Handschellen auf der Rückbank.

»Das ist das Haus«, sagt Lucky. Dixon hält sich zurück. Nun bleibt es doch weiterhin Luckys Fall. »Der Junge ist da drin«, sagt Lucky. Es ist keine Frage, aber er sieht Ricky trotzdem dabei an.

Ricky hebt fast unmerklich den Kopf und nickt.

»Also schön«, sagt Lucky. »Gehen wir.«

Lucky ruft keinen Krankenwagen. Er beeilt sich nicht. Später wird er sich diesen Augenblick im Zeugenstand vergegenwärtigen und den Geschworenen sagen, dass er sich natürlich nicht beeilt hat, weil er ja wusste, dass der Junge tot war. Zweimal wird er das wiederholen, wie um seine Entscheidung vor sich selbst zu rechtfertigen. Es ist eigenartig, dass ihn gerade dieser Moment quält, dass er gerade darauf zurückkommt. Es hätte schließlich nichts geändert, wenn er sich beeilt hätte. Lucky hätte den Notarzt rufen oder sofort ins Haus rennen können, ja, er hätte sogar den Jagdausflug am Vortag sein lassen können – es hätte keine Rolle gespielt. Jeremy war tot. Eigenartig, an welchen Details die Gedanken manchmal hängen bleiben. Eigenartig, an welchen Stellen sie uns suggerieren, es würde irgendetwas ändern.

Lucky steigt aus dem Wagen.

Der Deputy, der mit der Videokamera auftaucht, hat Pickel im Gesicht, so jung ist er. Oder zumindest stelle ich ihn mir so vor, während ich das Transkript lese. In den nächsten paar Stunden wird dieser Mann alles, was gefilmt wird, von der Kameralinse umrahmt sehen. Er ist die einzige Person, die auf dem Band nicht zu hören ist, die nichts sagt, nicht reagiert, sondern nur aufzeichnet. Er bleibt in dem Material ein Unbekannter, aber überlegen wir, was er alles sieht. Womit er konfrontiert wird. Ich stelle mir vor, dass diese Situation neu für ihn ist; stelle mir vor, dass seine Augen sich weiten. Ich sehe die kleine Wunde in der Haut, wo er sich beim Rasieren geschnitten hat, sehe seinen dürren Hals.

Dixon taxiert ihn und schüttelt den Kopf. Er und die Polizei­fotografen sind bereits oben im Schlafzimmer gewesen und haben Bilder vom Tatort gemacht. Schön und gut, dass die Polizeidienststelle begonnen hat, mit Videoaufnahmen zu arbeiten, aber sie betrachten es eher als niedere Aufgabe, die man auf die Neulinge abschiebt.

»Bereit?«, fragt Dixon. Ich sehe ihn Latexhandschuhe überstreifen und eine durchsichtige Tüte mit der Aufschrift »Beweismaterial« entfalten. Er kann nur hoffen, dass der Junge hier schon mal eine Leiche gesehen hat. Das fehlt ihnen gerade noch, dass der Kameramann sich übergeben muss.

»Ja«, sagt der Junge. Er klingt nicht so, als ob er wirklich bereit dafür ist.

»Ich hole jetzt den Verdächtigen«, sagt Lucky, und seine Worte sind nun, da sie gleich aufgenommen werden sollen, viel förmlicher.

Er kommt mit Ricky zurück, der in Handschellen neben ihm herschlurft und nicht aufblicken will. Ehe er über die Türschwelle tritt, bleibt er abrupt stehen.

»Aufnahme an«, sagt Lucky.

Die Aufnahme läuft.

»Ich möchte, dass Sie jetzt …«, setzt Lucky an, dann hält er inne. »Was ich jetzt von Ihnen will, Jeremy, ist …«

(Dieser kleine Versprecher, die Tatsache, dass er Ricky mit dem Namen seines Opfers anspricht, ist das einzige Anzeichen dafür, dass Lucky nervös ist. Der einzige Anhaltspunkt, wie wichtig dieser Augenblick für ihn ist. Später steht an dieser Stelle im Transkript der Vermerk »[sic]«.)

»Der Kameramann wird Ihnen ins Haus folgen, und ich möchte, dass Sie mich zu dem Zimmer führen, wo es passiert ist, und ich will, dass Sie ihm den Raum zeigen und nichts anfassen, okay? Ich weiß, dass es hier drin Waffen gibt, und wie gesagt, ich will, dass Sie nichts anfassen.«

Lucky sieht Ricky erwartungsvoll an.

»Hm«, macht Ricky.

Sie gehen los.

Mit drei Leuten und dem Kameramann, der direkt hinter Ricky herläuft, ist es eng auf der Treppe. Auf dem Fernsehbildschirm wird der Film dunkel wirken – die Körper kaum mehr als Schatten, Rickys schwarzes T-Shirt ein Fleckchen Nacht in der Düsternis. Der Winkel der Kamera lässt die Decke niedriger erscheinen, die Wände enger beisammen. Die Männer steigen wortlos die Treppe hinauf, ein rascher Schritt nach dem anderen, bis sie vor der Tür des Schlafzimmers stehen.

»Hier drin?«, fragt Lucky.

Ricky nickt und erinnert sich dann, dass er laut antworten soll. »Ja.«

»Wollen Sie noch etwas ergänzen, bevor wir reingehen?«, will Lucky von Dixon wissen.

»Ja, einen Moment noch«, erwidert der. Vielleicht kommen ihm jetzt, da es so weit ist, Zweifel daran, ob es klug war, Lucky die Angelegenheit zu überlassen. Schließlich ist das hier sein Fund. Hat nicht er Lucky überhaupt erst dazu bewogen, endlich etwas zu unternehmen? Er hat Ricky dazu gebracht, die Tat zu gestehen. Oder vielleicht will er auch nur noch einmal sichergehen, dass die Verhaftung absolut wasserdicht ist. Aus welchem Grund auch immer, er geht alles noch einmal durch. »Ricky, als wir Sie an der Tankstelle festgenommen haben und Sie mit mir im Auto saßen, habe ich Sie da in irgendeiner Weise bedroht?«

Ricky schüttelt den Kopf. »Nein.«

»War ich höflich zu Ihnen?«

»Ja.«

»Und ich habe nur gesagt: ›Ricky, sehen Sie mir in die Augen, von Mann zu Mann‹, und ich habe Sie über Ihre Rechte aufgeklärt. Und alles, was Sie mir gesagt haben, haben Sie freiwillig gesagt.«

»Ja, Sir.«

»Also gut.« Dixon nickt Lucky zu. Sie sind bereit.

Die Männer betreten den Raum. »Schnitt«, sagt Lucky, und der Junge mit der Kamera stellt die Aufnahme ab. Dann zu Ricky: »Zeigen Sie mir den Schrank.« Ricky setzt sich in Bewegung. »Nein, gehen Sie nicht hin. Deuten Sie einfach darauf.«

Ricky gehorcht.

»Das Kind ist da drin?«, fragt Dixon wieder. Er kennt die Antwort. Er war schon hier oben, während Lucky Ricky aus dem Wagen geholt hat. Aber er beobachtet Ricky jetzt. Sieht die kleinen Anzeichen von Unbehagen und Furcht, die durch seinen Körper zucken.

»Ja«, sagt Ricky.

»Ist er einfach nur so da drin oder …«

»Ich hab ihn in ein paar Decken gewickelt.«

Lucky tritt nach vorn und bedeutet Dixon und Ricky, das Zimmer zu verlassen. Dann geht er zum Schrank. Die weiße Farbe an der Tür ist schmutzig und abgeblättert. Die Tür steht weit offen. Innen befindet sich ein Bündel Decken, die gar nicht danach aussehen, als würden sie einen Körper verbergen. Einfach nur nach einem Bündel. Er wartet, bis er den Kameramann hinter sich weiß, dann nickt er. Der Kameramann startet die Aufnahme wieder. Lucky spricht langsam und deutlich. »Es ist 15.35 Uhr. Wir sind wieder in dem Raum. Es ist der 10. Februar 1992. Wir sind wieder im südöstlich gelegenen Schlafzimmer von Ricky Langley, unsere Fotografen sind mit ihren Aufnahmen fertig, und wir werden jetzt die Decke oder Überdecke entfernen oder was auch immer Ricky Langley benutzt hat, um die Leiche zu verbergen.«

Er leuchtet mit der Taschenlampe ins Innere des Schrankes. Der Lichtkegel lässt das Bündel gelb aufleuchten, ehe er weiterwandert, damit die Kamera den Umriss aufnehmen kann. Lucky tritt zurück ins Bild und fasst in den Schrank. »Wir nehmen das – ich lege hier einen Vorhang oder eine Tagesdecke in diese Tüte.«

Die Aufnahme ist von diesem Punkt an umständlich. Lucky kommentiert jeden Handgriff. Er will es offensichtlich um jeden Preis richtig machen. Lage um Lage entfernt er und zeigt der Kamera jedes Mal die entsprechende Decke, ehe er sie in die Plastiktüte packt.

Aber sehen Sie diesen ersten Sack, der dort in der Ecke darauf wartet, versiegelt zu werden, den Plastiksack mit der Aufschrift »Beweismaterial«, der keinen Zweifel daran lässt, was in der Tüte ist? Diese Tüte wird falsch beschriftet und mit einer anderen verwechselt werden, in der sich Kleidungsstücke befinden, die später sorgfältig von Jeremys Körper heruntergeschnitten werden. Sehen Sie den Sack, den Lucky als Nächstes füllt? Auch er wird falsch beschriftet und zusammen mit einer Tüte aufbewahrt werden, in der sich nichts von Bedeutung befindet.

Ich habe eine Kopie dieser Aufzeichnung gesehen. Ich habe zugesehen, wie Ricky und Lucky die Stufen zum Haus der Lawsons hinaufgegangen sind, habe Ricky in Handschellen zu derselben Haustür gehen sehen, vor der Jeremy ein paar Tage zuvor stand. Das Geständnis, das man mir in der Anwaltspraxis zeigte, das Band, das mich überhaupt erst auf diese Geschichte aufmerksam gemacht hat, wurde unmittelbar danach aufgenommen, nachdem Dixon und Lucky Ricky zurück zur Polizeiwache gebracht hatten. Ricky sah aus wie ein Kaninchen, seine Augen schossen unruhig hin und her, und er hielt seine gefesselten Hände unbeweglich im Schoß. Der Rest seiner Worte erreicht mich in einzelnen Erinnerungsfetzen, als könnte mein Körper das alles nur in geringen Dosen ertragen, immer nur ein kleiner Schluck, gefolgt von Schwärze.

Nur das Transkript – wenn ich es mir jetzt ansehe – bringt die Erinnerung dazu, sich zu setzen.

Die blaue Decke ist die letzte Lage, die Lucky entfernt und in die Kamera hält. »Um den unteren Teil der Leiche ist eine blaue Decke gewickelt, mit irgendeiner bunten Figur darauf, vielleicht Dick Tracy, die ein Gewehr in der Hand hat. Jetzt entfernen wir die Decke, um das Opfer ganz sehen zu können.«

Die Kamera hält sich nicht mit diesem Anblick auf. Sie streift das blonde Haar und strauchelt dann im Angesicht des Jungen. Aber in diesem Augenblick befindet sich auf Jeremys Lippe – zu klein, als dass die Kamera es erfassen würde, und überhaupt schaut niemand so genau hin, keiner will die Leiche so genau anschauen –, in diesem Moment befindet sich auf Jeremys Lippe ein einzelnes dunkles Schamhaar.

Später werden Proben aus Jeremys weißem T-Shirt geschnitten, Beweisstücke, an die sich Calton Pitre noch nach Jahrzehnten erinnern wird, und ihre Untersuchung ergibt, dass sich Spermaspuren auf dem T-Shirt befinden. Das Sperma wird als Rickys identifiziert. Aber dieses Haar auf der Lippe? Es stammt nicht von Ricky. Sie testen es zweimal, und zweimal kommt dasselbe Ergebnis zurück: nicht Rickys.

Ricky hat Jeremy getötet; daran gibt es keinen Zweifel. Und das Schamhaar könnte einfach von einer Decke abgefallen sein. Aber diese Decken gehören nicht alle Ricky, dazu sind es zu viele. Sie müssen auch von Joeys und Junes Bett stammen. Vielleicht ist das Haar in der Wäsche darauf gekommen.

Vielleicht aber auch nicht. Gehört das Haar zu Terry, der in diesem Moment noch am Leben ist, seinen Sohn noch nicht auf einen Motorradausflug mitgenommen hat und sich nicht im Haus, sondern an einem unbekannten Ort aufhält, während die Polizei ihre Suche vornimmt? Gehört das Haar also nicht dem verurteilten Sexualstraftäter, dem, von dem man weiß, wie gefährlich er ist, sondern dem Vater, der im Geheimen vielleicht ebenfalls ein Raubtier ist?

Lucky redet weiter. »Sie können hier eine einzelne Socke erkennen, die offensichtlich im Mund des Opfers ist. Unser Opfer trägt ein weißes T-Shirt, hellblaue oder türkise kurze Hosen mit einem gelben Streifen am Saum, weiße Socken, und die Stiefel, von denen die Mutter ausgesagt hat, dass er sie trug, waren auch hier drin.«

Aquamarin. Lorilei beschreibt die Farbe der Hose als aquamarin. Vier Tage zuvor hat sie sie aus dem Wäschetrockner genommen und zusammengelegt, sodass die beiden Seiten des Bundes sauber übereinanderlagen, hat die kleinen Hosenbeine sorgfältig zu einem Päckchen gefaltet und mit dem T-Shirt zusammen verräumt. Sie trug die Kleidungsstücke zu der Kommode, die sie und Jeremy sich in Melissas Haus teilten, und legte die Hose in die unterste Schublade, das T-Shirt in die darüber. Behutsam, als ob sie ein Kind ablegte.

All diese Kleidungsstücke, die Jeremy trägt – diese Beweis­stücke –, haben eine Geschichte. Die Beweisstücke tragen etwas von ihrem gemeinsamen Leben in sich. Sie enthalten ihre Liebe.

»Außerdem kann man in der Ecke des Schrankes das Luft­gewehr sehen«, fährt Dixon fort, »das laut der Mutter dem Opfer Jeremy gehörte.«

In der Polizeistation verbirgt Lorilei das Gesicht in ihren Händen und beginnt zu schluchzen.

Verbrechen und Wahrheit (eBook)

Подняться наверх