Читать книгу Uli Borowka - Volle Pulle - Alex Raack - Страница 13
LEHRJAHRE MIT BLEIWESTE Vaterfigur Jupp Heynckes
ОглавлениеAm 19. Mai 1980 feierte ich meinen 18. Geburtstag. Gründe für eine zünftige Party gab es genug, aber ich, frisch gebackener Berufsfußballer, ließ es sehr ruhig angehen. Die Geschehnisse der ersten fünf Monate in diesem Jahr musste ich erstmal sacken lassen: Beendigung der Lehre, Auto- und Motorradführerschein, der Vertrag mit Borussia Mönchengladbach, einer Mannschaft, die im vergangenen Jahrzehnt fünfmal Deutscher Meister geworden war und mit ihrem sagenhaften Stil Maßstäbe im Fußball gesetzt hatte. Es war immer noch alles irgendwie surreal. Doch es sollte nicht lange dauern, bis ich die harte Realität eines Azubis unter dem Trainer Jupp Heynckes zu spüren bekommen würde.
Jupp hatte erst zwei Jahre zuvor seine einmalige Karriere beendet. Durch seine 218 Tore in 308 Bundesligaspielen für die Borussia und seine Erfolge mit der Nationalmannschaft war er in Mönchengladbach längst zu einer lebenden Legende geworden. 1979 hatte er mit 34 Jahren die Nachfolge von Udo Lattek als Chefcoach bei der Borussia angetreten und war damit zum jüngsten Trainer in der Bundesliga-Geschichte aufgestiegen. Ein Erfolgsmensch, von Ehrgeiz getrieben.
Einen besseren Trainer hätte ich mir für die Entwicklung meiner fußballerischen Fähigkeiten nicht wünschen können.
Schon bei meiner ersten ziemlich missratenen Trainingseinheit hatte Jupp in mir die Anlage zu einer Leistungsfähigkeit erkannt, die ich mir damals nicht einmal ansatzweise vorstellen konnte. Ich war ein rohes Stück Eisen, das Jupp nun in Form bringen wollte. Ohne seine besondere Gabe, die schlummernden Talente eines Fußballers zu erkennen, wäre ich sicherlich niemals in die Bundesliga gekommen.
Noch war ich von der großen Bühne allerdings so weit entfernt wie ein Schauspielschüler vom ersten Vertrag in Hollywood. Als so genannter Edelamateur hatte ich ein Jahr lang Zeit, mich meinem Trainer anzubieten. Von dieser Vorstellung war ich wie besessen, und das musste ich auch sein, um diese ersten Monate zu überstehen: Besessen und ein Stück weit wahnsinnig.
Vor dem Saisonstart fuhr die erste Mannschaft zum Trainingslager in die Sportschule Schöneck bei Karlsruhe. Auch ich war von Jupp Heynckes eingeladen worden. Kaum hatte ich das Gelände betreten, schloss sich hinter mir das riesige Eisentor. Herzlich willkommen in der Hölle von Schöneck!
Das Training begann morgens um halb acht und endete erst gegen Abend. Unter der Anleitung von Karl-Heinz Drygalski, einem ehemaligen Zehnkämpfer, der später Vereinspräsident bei der Borussia werden sollte, schufteten wir zum Aufwärmen eine Stunde lang im Kraftraum. Keine einfachen Übungen, Zirkeltraining mit schweren Gewichten! Drygalski war ein eisenharter Typ, der uns erst auf den Rasenplatz entließ, als auch dem Letzten vor Anstrengung die Muskeln zitterten.
Auf dem Platz wartete schon Heynckes mit einem Grinsen im Gesicht. Er scheuchte uns über den Rasen, Laufeinheiten, Technikschulung, Trainingsspiele, Zirkeltraining. Natürlich war ich als junger Kerl dafür zuständig, dass die Bälle aufgepumpt waren, die Trinkflaschen gefüllt und die Tore am richtigen Platz standen. Nach dem Training wurde kurz gegessen, schon ging es ab in die Kojen. Nach so einem Tag willst du nur noch die Augen zumachen. Aber ich konnte nicht schlafen. Habe ich bereits erwähnt, dass ich als einziger Spieler sämtliche Übungen mit einer zehn Kilogramm schweren Bleiweste absolvieren musste? Kaum lag ich im Bett, zitterten meine Beine, meine Arme, mein Oberkörper. Ich hatte höllische Schmerzen, erst nach Stunden übermannte mich der Schlaf. Bereits in der zweiten Nacht waren die Schmerzen so schlimm, die Belastungen des Tages so groß, dass ich Rotz und Wasser heulend aufrecht im Bett saß, das Trainingslager, Drygalski, Heynckes, ja selbst den Fußball verfluchend. Jede weitere Übungseinheit war Folter für meinen Körper, der von der Bleiweste zusätzlich geschunden wurde. Ich fühlte mich nicht am Limit meiner Leidensfähigkeit, ich war schon darüber hinaus. Und als ich eines Abends exakt 60 Sekunden zu spät zum verabredeten Abendbrottermin erschien, machte mich Jupp gleich zur Schnecke. Wie ich es wagen könne, mich hier zu verspäten! Sollte das noch einmal passieren, würde er meinen Vertrag vor meinen Augen in tausend Stücke zerreißen. Dieses eine Mal kam ich mit einer 50-DM-Strafe davon. Natürlich war ich von nun an überpünktlich.
Erst Jahre später dankte ich Jupp Heynckes für diesen knallharten Einstieg in den Profifußball. Er wusste ganz genau, dass mir, dem doch eigentlich so Talentfreien, nur der pure Drill helfen würde, um mich stark zu machen. Härte zu mir selbst und zu den Gegenspielern, ein eiserner Wille, Leidensfähigkeit im Grenzbereich – die Stärken, die mich später zum Stamm- und Nationalspieler werden ließen, lassen sich alle auf das Trainingslager in Schöneck zurückführen. Als sich nach einer Woche das schwere Eisentor wieder öffnete und ich erstaunlicherweise noch gerade gehen konnte, wusste ich, was ich meinem Körper alles zumuten konnte.
Ich war nun mittendrin im bunten Fußballzirkus, beobachtete die Bundesligastars beim Training und an den Spieltagen. Von uns Oberligaspielern aus der zweiten Mannschaft wurde erwartet, bei jedem Heim- und teilweise auch jedem Auswärtsspiel im Stadion anwesend zu sein. Nichts lieber als das! Wie ein Student seine Bücher studierte ich die Bewegungen und das Spiel der Profis auf dem Rasen. Einem Schwamm gleich sog ich alle Eindrücke in mich auf. Wie hatte sich der Linksverteidiger beim Gegenangriff verhalten, wie der Rechtsverteidiger beim Vorstoß in die Offensive? Wann griffen die Defensivspieler den Gegner an, wann brauchte es eine Grätsche, wann reichte ein einfacher Bodycheck? In der Oberliga und im Training versuchte ich dann mein Wissen in der Praxis anzuwenden – meinen persönlichen Erfolgen konnte ich in diesem ersten Jahr beim Wachsen zusehen. Gelegenheiten dafür hatte ich genug: Zweimal am Tag trainierte ich mit der ersten Mannschaft, abends dann noch mit den Amateuren. Unter der Woche spielte ich in der damals noch existierenden Nachwuchsrunde – eine Liga für U-23-Spieler und etablierte Profis, die nach Verletzungen wieder langsam Spielpraxis sammeln sollten –, am Wochenende lief ich für Borussia II in der Oberliga West auf. Mein Leben bestand nur aus Fußball. Wie ein Irrer spulte ich Trainingseinheiten und Spiele ab, nachts lag ich im Bett und ließ die Erlebnisse des Tages noch einmal vor meinem geistigen Auge ablaufen. Ganze Spielszenen spukten wie Kurzfilme durch meinen Kopf.
Für Jupp Heynckes war ich bald zu einer Art Ziehsohn geworden. Das überstandene Trainingslager hatte ihn noch weiter in seiner Ansicht bestärkt, dass man aus mir einen anständigen Bundesligafußballer würde formen können. Also ließ er mir eine spezielle Form der persönlichen Betreuung zukommen, für die ich ihm noch heute dankbar bin: Morgens vor dem Training schickte er mich für eine halbe Stunde an die Ballwand, mit links, mit rechts, mit der Innenseite, mit dem Spann, mit dem Außenrist trat ich den Ball gegen die Betonmauer, um meine Technik zu verbessern. Von Tag zu Tag wurde aus mir ein besserer Fußballer.
War das reguläre Training beendet und die Mitspieler schon unter der Dusche, nahm mich Jupp gar persönlich zur Seite. Einen Jugendspieler ließ er Flanken in den Strafraum schlagen, ich sollte den Abwehrspieler mimen, er natürlich den Angreifer. Die erste »Spezialeinheit« werde ich nie vergessen: Kaum flog der erste Ball in unsere Nähe, wurde aus dem Trainer Heynckes wieder der Weltklassestürmer Heynckes, ein Strafraumspieler, mit allen Abwassern gewaschen! So schnell konnte ich gar nicht gucken, da hatte ich den Ellenbogen auf der Nase. Die nächsten Minuten wurden zu einer schmerzhaften Lektion im Unterrichtsfach »Wie man sich in der Bundesliga im Strafraum verhält«. Jupp trat mir mit den Stollen auf die Zehen, riss mir am Trikot, drückte mir den Ellenbogen ins Gesicht. Davon abgesehen war er stets einen Schritt schneller, besser postiert, mir körperlich überlegen. Ball für Ball rauschte ins Tor, ich machte keinen Stich gegen meinen Trainer. Nach einer halben Stunde hatte das Trauerspiel ein Ende. Ich hatte Schrammen und Blutergüsse am ganzen Körper, die Hose und das Trikot waren zerrissen. Jeden Tag nahm sich Jupp die Zeit und machte mich mit seiner Erfahrung und seiner Leidenschaft zu einem besseren Fußballer. Nach ein paar Monaten kannte ich alle legalen und auch illegalen Tricks, um im Zweikampf zu bestehen. Bald sollte ich Gelegenheit haben, sie alle in der Praxis auszuprobieren.
So sehr ich mich auch im Training oder den Pflichtspielen aufopferte, von den Profis wurde ich weiterhin ignoriert. Um in diesen elitären Zirkel aufgenommen zu werden, brauchte es schon ein Aufnahmeritual der besonderen Art. Dass es ausgerechnet Jürgen Fleer war, der mir diese Gelegenheit ermöglichte, muss heute als Ironie des Schicksals bezeichnet werden. Ich glaube, ich trete Jürgen Fleer nicht zu nahe, wenn ich behaupte, dass er gegenüber den Nachwuchsspielern eine intensive Abneigung hegte. Wir jungen Spieler hatten das Gefühl, von Fleer regelrecht gehasst zu werden. Er tat auch nicht wirklich viel, um dieses Image zu entkräften. 1,76 Meter groß, Schnauzbart, ein knallharter Verteidiger, fünf Jahre älter als ich, machte er sich gerne einen Spaß daraus, einen der jungen Kollegen mit rüden Grätschen über die Seitenlinie zu treten. Ganz bewusst versuchte er uns zu verletzen. Schon mehrfach hatte es auch mich erwischt.
Im Herbst 1980, ich hatte inzwischen meine ersten Monate hinter mich gebracht, trafen wir in einem Trainingsspiel erste gegen zweite Mannschaft erneut aufeinander. Es nieselte, der Rasen war feucht, als plötzlich der Ball zwischen uns lag. Fleers Spezialität war es, mit drei Metern Anlauf in Ball und Gegenspieler zu grätschen, ich wollte ihn diesmal nicht enttäuschen und setzte ebenfalls zur Blutgrätsche an. In vollem Tempo, auf nassem Rasen, rutschten wir, die langen Alustollen voran, aufeinander zu. Jetzt konnte es nur noch einen geben. Es krachte fürchterlich, für einen Moment blieb ich am Boden, dann stand ich auf. Unverletzt. Jürgen Fleer blieb liegen, die Knie von einer Risswunde und Prellungen gezeichnet.
Eine brutale Aktion, die ich überlebt hatte. Und plötzlich änderte sich das Verhalten meiner Mitspieler. Den Alten hatte es offenbar imponiert, wie ich in das Duell mit dem gefürchteten Jürgen Fleer gegangen war. Nicht lange nach dieser Grätsche sprach mich auf einmal Wilfried, genannt Winnie, Hannes im Training an. Der große Winnie Hannes, Kapitän und Galionsfigur im Verein! Das hatte er vorher noch nie gemacht. Er zeigte mir, wie ich noch geschickter in die Zweikämpfe gehen, wie ich besser zum Ball stehen konnte, solche Sachen. Für mich war das wie ein Ritterschlag. Stolz marschierte ich nach dem Training nach Hause. Bald war ich bei den Platzhirschen der Mannschaft nicht mehr nur geduldet, sondern akzeptiert. Mit Lothar Matthäus, der nur ein Jahr älter ist als ich, damals allerdings schon als kommender Superstar gehandelt wurde, verband mich bald eine Freundschaft.
Und als im Spätherbst die fünfte Jahreszeit in Mönchengladbach begann, erhielt ich meinen nächsten Ritterschlag, diesmal von unserem Stürmer Harald Nickel, der Mann, der den Elfmeter aus dem Stand erfunden hat. Harald war ein Feierbiest, der Karneval war für ihn natürlich die schönste Zeit des Jahres. Wenn Harald in Mönchengladbach auf die Piste ging, blieb kein Auge trocken. Vor einem Trainingsspiel nahm er mich zur Seite: »Uli, ich muss am Wochenende Tore schießen. Also halt dich heute mal ein wenig zurück, wenn wir in die Zweikämpfe gehen. Dann nehme ich dich auch mal mit »Zum Alfred« und gebe dir einen aus.« »Zum Alfred« hieß die Stammkneipe der Borussia-Profis am Alten Markt, dem Kneipenviertel in Mönchengladbach. Wahnsinn. Wenn schon dieser ausgebuffte Stürmer vor mir Respekt hatte, musste ich ja inzwischen ein ziemlich toller Hecht sein. Ich ließ Harald in Ruhe und wenige Tage später stellte er, schick gekleidet mit Anzug und Krawatte, einen Whiskey-Cola vor meine Nase. Jetzt durfte ich mich sogar schon mit einem der Routiniers ins Gladbacher Nachtleben stürzen. Ein erhebendes Gefühl.
Da ich nun anerkanntes Mitglied der Mannschaft war, wurde ich auch schnell in Interna eingeweiht, die sonst die Kabine nicht verlassen dürfen. So rieten mir gleich mehrere Mitspieler, einen großen Bogen um einen gewissen Mitspieler zu machen, der damals ebenfalls für die Borussia spielte. Er hatte, so erfuhr ich, innerhalb eines Teils der Mannschaft den Spitznamen »der Blaue« oder »der Schaum«, eine abschätzige Bezeichnung für jemanden, der nicht mit offenen Karte spielte. »Das ist ein hinterfotziger Typ, dem darfst du nicht über den Weg trauen«, steckten mir die Kollegen. Ich nahm mich in Acht.
Eine etwas kuriose Szene erlebte ich ein paar Wochen später. Der Anstand verbietet es, an dieser Stelle Namen zu nennen, aber einer der »Alten« nahm mich nach dem Training zur Seite und fragte: »Uli, du hast doch sicherlich heute Abend Lust auf ein schönes großes Steak?« Ich antwortete: »Sicher, wann wollen wir uns treffen?«
Nun, das Steak musste ich alleine essen. Ich bekam 50 DM und durfte mich satt futtern, besagter Kollege bekam im Gegenzug den Schlüssel zu meiner 33-Quadratmeter-Wohnung und drei Stunden Zeit für ein unbehelligtes Techtelmechtel mit seiner Geliebten. Hatte ich darauf gehofft, wenigstens mein Bett anschließend in einem aufgeräumten Zustand vorzufinden, wurde ich enttäuscht.
Frauen spielten auch in meinem Leben eine immer größere Rolle. Die Mädchen in der Disco wussten schon bald sehr wohl, wer ich war: ein Fußballspieler, wenn auch keiner aus der ersten Reihe, aber immerhin ein Fußballspieler. Diese Mini-Prominenz verhalf mir zu einigen Flirts, nichts Ernstes, aber ich hatte meinen Spaß. Für meine Beziehung zu Simone, dem Mädchen aus Iserlohn, war das natürlich Gift. Wenige Monate nach meinem Umzug nach Mönchengladbach trennten wir uns.
Regelmäßig besuchten mich meine Eltern in der neuen Heimat. Alle zwei Wochen, wenn in der Wirtschaft Ruhetag war, setzten sie sich ins Auto und fuhren die knapp 140 Kilometer nach Mönchengladbach. Mein Vater begleitete mich zum Training, wobei er sich stets über einen kurzen Schnack mit Jupp Heynckes freute, meine Mutter schrubbte die Wohnung ihres Sohnes auf Hochglanz. Zweimal in der Woche rief ich in Oese durch und erzählte meinen Eltern von den neuesten Trainingseindrücken, prominenten Gegenspielern oder dem nächsten Pflichtspiel. Weil ich damals allerdings noch kein eigenes Telefon besaß, musste ich 200 Meter bis zur nächsten Telefonzelle laufen. Wochenlang war ich nun schon zum gleichen öffentlichen Apparat spaziert, da fiel es mir beim Telefonieren wie Schuppen von den Augen: Die vielen stark geschminkten Frauen auf der gegenüberliegenden Straßenseite, das waren Prostituierte! Und ich Unschuld vom Lande hatte mich immer gewundert, worauf all die so aufreizend gekleideten Damen denn wohl warten würden. Das war der Straßenstrich von Mönchengladbach.
Ich sprach also gerade mit meinen Eltern, als ich einen eleganten schwarzen Wagen bei den Frauen halten sah. Ich schaute genauer hin: Das Auto kannte ich doch! Es gehörte einem Mitspieler! Der wollte sicherlich nur nach dem Weg fragen, anders kann ich mir das heute nicht erklären …
Überhaupt, was für Typen wir in unserer Mannschaft hatten! Wolfram Wuttke zum Beispiel: Wir kannten uns ja bereits von der für ihn ziemlich schmerzhaften Begegnung auf Schalke, nun spielten wir beide im selben Verein. Unterschiedlicher als Wolfram und ich konnten Fußballer nicht sein. Während ich meine offensichtlichen technischen Mängel mit einer Extraportion Fleiß und Ehrgeiz ausgleichen musste, konnte sich das Wunderkind Wuttke getrost ein paar Disziplinlosigkeiten erlauben. Eines unserer täglichen Rituale war das Wiegen vor dem ersten Training. Wer ein Kilo über seinem Idealgewicht lag, musste 1000 DM in die Mannschaftskasse zahlen. Und jeden Tag, den Gott werden ließ, hatte Wolfram morgens ein Kilo zu viel auf den Rippen. Seine Reaktion auf die drohende Geldstrafe? »Na und, dann zahl ich halt!«
Die ersten Schritte auf dem Weg zum Fußballprofi hatte ich getan. Nach dem spektakulären Zweikampf gegen Jürgen Fleer nahmen mich die Kollegen ernst, Trainer Jupp Heynckes kümmerte sich ohnehin rührend um mich, und die ersten Kneipenabende mit den Routiniers hatten mein Selbstbewusstsein gestärkt. Ich war jemand, jedenfalls mehr als noch bei meinen ersten Trainingseinheiten auf Probe. An der Hackordnung innerhalb der Mannschaft änderte das freilich wenig. Noch immer musste ich mich für das Training mit der ersten Mannschaft in dem kleinen Nebenraum umziehen, an den ersten Einsatz in der Bundesliga war noch nicht zu denken. Eine Szene verdeutlichte meine Rolle in der internen Mannschaftshierarchie mehr als alles andere: Monatelang lugte ich aus meinem Kabuff in den Massageraum, wo sich Masseur Charly Stock der Wehwehchen der Fußballer annahm. Charly war schon damals eine Art Vereinsmaskottchen und aus dem Club nicht wegzudenken. Einmal sah ich Carsten Nielsen, unseren dänischen Stürmer, zu Charly auf die Massagebank humpeln. Er hatte offenbar irgendwas mit dem Ischiasnerv und wurde auch gleich von Charly durchgeknetet. Ich überwand meine Scheu und marschierte einfach Nielsen hinterher. Groß waren die Schmerzen an den Beinen, im Rücken, im Oberkörper, ja, eigentlich am ganzen Körper. Vorsichtig fragte ich Charly: »Kriege ich auch eine Massage?« Er schaute mich kurz an und fragte dann: »Wie viele Bundesligaspiele hast du bislang absolviert?« »Noch keines.« »Dann komm wieder, wenn du 200 hast, dann können wir über eine Massage reden.« Das saß! Wie ein Straßenköter zog ich mit eingezogenem Schwanz davon.
Die erste Saison für Mönchengladbach neigte sich dem Ende entgegen und mein Vertrag, lediglich auf ein Jahr befristet, lief damit aus. Bislang hatte ich alles in die Waagschale geworfen, mich in jedem Training bis zur völligen Erschöpfung verausgabt, in den Punktspielen war ich gerannt und hatte gegrätscht wie ein Verrückter. Ich hatte Schmerzen ignoriert und mich selbst an die Grenzen meiner Leidensfähigkeit gebracht. Wille, eiserner Wille, nie aufgeben, immer weiter, ich hatte nur dieses eine Ziel: Fußballer werden. Ich hatte versucht, so professionell wie möglich zu leben, von den Burgern mal abgesehen. Zu Jupp Heynckes war eine besondere Verbindung entstanden, niemand im Verein wusste besser als er, welche Fortschritte ich in diesen ersten Monaten gemacht hatte. Doch das erhoffte Gespräch über eine mögliche Vertragsverlängerung hatte bislang noch nicht stattgefunden. Würde es überhaupt jemals stattfinden, oder reichten meine Fähigkeiten einfach nicht aus, um mit einem Profivertrag ausgestattet zu werden? Wieder zweifelte ich an mir selbst, an meinen Chancen, an meiner Zukunft.
Ein Tag im Frühjahr 1981. Das Training war gerade beendet, als Jupp mich zu sich in die Kabine rief. Auch Helmut Grashoff war dabei, Gladbachs legendärer Manager, der wie immer seine kleine Pfeife im Mundwinkel hatte. Grashoff legte mir einen Vertrag auf den Tisch, durch die Rauchschwaden konnte ich die Bedingungen lesen: Zwei Jahre Laufzeit, das gleiche Gehalt wie als Edelamateur, stark leistungsbezogen. Ich unterschrieb sofort. Geld spielte in diesem Moment keine Rolle für mich. Ich hatte das, was ich haben wollte: Ich war Profifußballer von Borussia Mönchengladbach! Das Märchen von Uli Borowka wollte einfach kein Ende nehmen. Einen Berater? Hatte ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Kurz nach der Unterschrift meines ersten Edelamateurvertrags war zwar der damalige Berater von Lothar Matthäus, der inzwischen leider verstorbene Norbert Pflippen, auf mich zugekommen, um auch mich unter seine Fittiche zu nehmen. Doch nach wenigen Monaten nahm mich Pflippen zur Seite. »Uli«, sagte der damals schon für seine Weitsicht berüchtigte Spielerberater, »tut mir leid, aber ich glaube nicht, dass du als Fußballer eine Chance hast.« Wir trennten uns in Frieden. Nun hatte ich es doch geschafft und Pflippen hatte sich geirrt.
Kaum in meiner Wohnung angekommen, rannte ich zur Telefonzelle und rief bei meinen Eltern an. Mein Vater nahm ab.
»Papa, ich bin Profi! Sie haben mir einen Vertrag gegeben!«
Mein Vater holte tief Luft und sagte: »Tja. Dann hast du es ja geschafft.«
Tja, dann hatte ich es ja geschafft. Dass meinem Vater nach diesem Anruf die Augen vor Stolz glänzten, erfuhr ich erst einige Zeit nach unserem Telefonat. Natürlich von meiner Mutter.