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POKALENDSPIEL IN DER PLASTIKWANNE Das legendäre Finale gegen die Bayern
ОглавлениеZwei Jahre waren vergangen, seit ich inmitten der Rauchschwaden aus der Pfeife unseres Managers Helmut Grashoff meinen ersten Vertrag als Fußballprofi unterschrieben hatte. Nun saß ich erneut mit meinem Trainer und Grashoff an einem Tisch, und wieder musste der gewiefte Manager nicht lange mit mir verhandeln. Ich unterschrieb einen Zweijahresvertrag mit 4000 DM Grundgehalt pro Monat und einer Jahresleistungsprämie von 40000 DM. Die, so stand es im Vertrag, würde es allerdings nur geben, wenn ich mindestens 30 Pflichtspiele pro Saison absolvieren würde. 40000 DM, ein stattliches Sümmchen – jedenfalls für mich. Unsere Topverdiener Matthäus, Kleff oder Hannes verdienten als Nationalspieler damals schon mehrere 100000 DM pro Jahr.
Mit dem neuen Gehalt gönnte ich mir einen kleinen Luxus, der heute wohl als ästhetisches Verbrechen bezeichnet werden muss: Mein neuer fuchsia-metallic-farbener BMW 323 sorgte jedenfalls für einen Farbklecks der besonderen Art auf den Straßen von Mönchengladbach.
Zeit genug, mein neues Auto der Öffentlichkeit zu präsentieren, hatte ich jedenfalls. Bereits am Ende der Vorsaison hatte ich mir im Training den Meniskus im rechten Knie gerissen, eine Verletzung, die heute relativ zügig behandelt und auskuriert werden kann, 1983 jedoch eine äußerst heikle Angelegenheit war. An einem Montag musste ich mich unter das Messer legen, erst am Freitag durfte ich mein Krankenbett wieder verlassen. Doch die größte Gefahr lauerte für einen Spieler von Borussia Mönchengladbach Anfang der achtziger Jahre außerhalb des Krankenhauses: Karl-Heinz Drygalski, unser Konditionstrainer, wartete sehnsüchtig auf jeden angeschlagenen Fußballer, um ihn mit seinen rabiaten Methoden wieder auf Vordermann zu bringen. Vor dem Mann hatte ich mehr Respekt als vor einer erneuten Meniskus-OP. Wenn er einen erstmal in seinem stahlharten Griff hatte, konnte man die folgenden Wochen mit 20-Kilo-schweren Hanteln die Treppen am Bökelberg rauf- und runterrennen. Hatte man das Spezialtraining dann überstanden, war man zwar fit wie ein Triathlet, fühlte sich aber, als wenn man soeben seinem Folterknecht entkommen wäre. Ich setzte alles daran, um nicht in diese Einzelhaft zu kommen, und tatsächlich reichte mein Fitnessstand nach der Operation, um mich in der Reha und mit der Mannschaft langsam an die Bestform heranzutasten.
Das gefürchtete Training auf den Süchtelner Höhen unter der Leitung des ehemaligen Zehnkämpfers Karl-Heinz Drygalsky (links). Frank Mill ist schon oben, ich gleich dahinter. Motto des Tages: Wir gehen erst, bis auch der Letzte gekotzt hat. © Horst Müller
Doch bis es so weit war, musste ich mich in Geduld üben. Eine fürchterliche Qual für einen jungen Spieler! Es dauerte bis zum siebten Spieltag der Saison 1983/84, ehe mich Jupp Heynckes beim Stand von 0:0 in der 88. Minute gegen den VfB Stuttgart einwechselte. Als ich für Winfried Schäfer auf den Rasen lief, war ich mir sicher, nun wieder fester Bestandteil der Mannschaft zu sein. Von wegen. Weitere sieben Spieltage sollten vergehen, ehe ich am 14. Spieltag gegen Borussia Dortmund mein erstes Spiel über 90 Minuten absolvieren durfte. Und obwohl wir mit 2:1 gewannen, ließ mich Heynckes schon in der nächsten Partie wieder auf der Bank, beim 3:1 gegen Bayer Leverkusen am 16. Spieltag wurde ich lediglich eine Viertelstunde vor Schluss eingewechselt. 107 Spielminuten, so lange dauerte meine ganz persönliche Hinrunde.
Ich nutzte die Winterpause, um mich endlich wieder ins Team zurückzukämpfen. Derweil tat sich einiges in meinem Kollegenkreis. Einer der Neulinge hieß Ewald Lienen, von seinem Müsli-Wahn habe ich bereits erzählt. Nach zwei Jahren in Bielefeld war Ewald zu Beginn der Saison nach Mönchengladbach zurückgekehrt. Ehrlich gesagt, wir konnten uns nicht wirklich leiden, dafür waren wir zu verschieden. Der Alt-Hippie und der Junge vom Dorf, das konnte nicht gut gehen. Ewald tat auch einiges dafür, um seinem Image als Querkopf gerecht zu werden. Wenn wir mit der Mannschaft im Parkhotel zu Abend aßen und uns die dampfende Suppe serviert wurde, spielte sich regelmäßig folgendes Schauspiel ab: Lienen rief Rudi, den Kellner, und maulte: »Da sind Fettaugen in meiner Suppe, die will ich nicht!« Rudi nahm die Suppe, drehte eine Runde durch die Küche und stellte den Teller wieder ab. »So ist es besser«, rief Ewald und fing endlich an, die Suppe zu löffeln. Überflüssig zu erwähnen, dass Rudi natürlich nicht einmal versucht hatte, die Fettaugen abzuschöpfen. Unverständlich fand ich auch Ewalds Verhalten in Bezug auf Autogrammkarten. Für die kleinen Jungs, die uns vor oder nach dem Training um eine Unterschrift baten, gab es nichts Schöneres, als mit einem Autogramm ihrer Helden wieder nach Hause zu kommen. Nicht mit Ewald. Lang und breit versuchte er den Kindern zu erklären, dass die Unterschrift eines einzelnen Individuums nicht mit seinem moralischen Verständnis vereinbar sei und er deshalb kein Autogramm geben könne. Bis er mit seinen Erläuterungen fertig war, hatten die Kleinen längst Tränen in den Augen.
Die wichtigste Gladbacher Personalie in dieser Saison war ohne Frage allerdings eine andere: Lothar Matthäus, unser Superstar, mein Freund, befand sich auf Abschiedstournee. Nach fünf Jahren bei Borussia Mönchengladbach würde Lothar zu den Bayern wechseln, das erfuhren wir im Frühjahr 1984. Was für ein unnötiger Wechsel! Nicht für Lothar, der den nächsten Schritt in seiner beginnenden Weltkarriere tat, sondern für Borussia Mönchengladbach. Der Club verlor seinen besten Spieler, weil es die Vereinsführung einfach versäumt hatte, sich rechtzeitig mit Matthäus an einen Tisch zu setzen. Ich kannte Lothar inzwischen recht gut, natürlich sprachen wir auch über seine Zukunft. Er fühlte sich pudelwohl in Mönchengladbach, er hatte nicht vor, den Verein schon jetzt zu verlassen. Auch Geld spielte keine so wichtige Rolle, wie das viele vielleicht vermuten würden. Lothar verdiente in Mönchengladbach gut, ein neuer Vertrag mit leicht verbesserten Konditionen hätte ihn wahrscheinlich zum Bleiben bewegt. Doch dafür war die Borussia nicht geschickt genug. Ein Beispiel für das diplomatische Unvermögen: An Lothars 23. Geburtstag schickte Bayern-Manager Uli Hoeneß eine Magnum-Flasche Sekt und einen Strauß Blumen ins Haus Matthäus. Die Verantwortlichen von Borussia Mönchengladbach vergaßen sogar, ihrem Mittelfeldregisseur zu gratulieren. Als das Angebot aus München kam, schlug er ein. Ein Nackenschlag für uns alle. Und wer konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, was die Saison noch so alles für uns bereithielt.
Lothar wollte seinen Abschied vergolden, das merkten wir, das musste auch jeder Zuschauer merken. In der großartigen Saison 1983/84 spielte er für Borussia Mönchengladbach eine überragende Rolle. Wir fegten mit solch einem kraftvollen und gradlinigen Fußball durch die Bundesliga, dass es einfach Spaß machte, Teil dieser Mannschaft zu sein. Nach der Winterpause konnte auch ich wieder ins Geschehen eingreifen. Die Verletzung war auskuriert, ich hatte Vertrauen in mein Knie, die Leidenszeit war überstanden. So stark wie wir in der Liga spielten, präsentierten wir uns auch im DFB-Pokal. Fortuna Köln, Arminia Bielefeld, SpVgg Fürth und Hannover 96 waren keine große Hürde. Nun wartete im Halbfinale mit Werder Bremen der erste richtig schwere Brocken auf uns. Noch einmal musste ich auf der Ersatzbank Platz nehmen, Jupp Heynckes traute sich nicht, den frisch genesenen Jüngling in diesem wichtigen Spiel von Anfang an auf den Platz zu schicken. So wurde ich unfreiwillig Beobachter eines der besten Spiele in der Geschichte des Pokals. 1:0 Matthäus, 1:1 Norbert Meier, 2:1 Ringels, 3:1 Rahn, 3:2 Benno Möhlmann, 3:3 Wolfgang Sidka, 3:4 Uwe Reinders, 4:4 Hans-Jörg Criens.
Kurios die Szene in der 64. Minute. Hinter dem Tor von Uli Sude flog etwas auf den Rasen und nebelte den Strafraum ein. Eine Rauchbombe, nicht unbedingt angenehm für uns Spieler, aber Mitte der Achtziger keine Seltenheit in deutschen Stadien. Nur eine Rauchbombe? Von der Bank aus sah ich meine Mitspieler aus dem dichten Nebel angelaufen kommen, Uli Sude und Uwe Rahn, hart gesottene Burschen, hatten Tränen in den Augen. Mein erster Gedanke war: Was gibt es denn da zu heulen? Bis auch ich begriff, dass da tatsächlich jemand eine Tränengasgranate aufs Feld geschmissen hatte! Nach einer kurzen Unterbrechung konnte das Spiel fortgesetzt werden. Kurz vor dem Schlusspfiff hatte mich Jupp Heynckes endlich von der Leine gelassen, und weil in der regulären Spielzeit kein Sieger gefunden worden war, mussten wir in die Verlängerung. Welch ein Spiel!
107. Minute. Diese Szene, hundertmal in meinem Kopf wiederholt: Kurz hinter der Mittellinie bekomme ich auf der linken Seite den Ball, laufe einige Meter und schlage den Ball in die Mitte. Hans-Jörg Criens, der großartige Criens, weiß genau, welche Flugbahn meine Flanke nehmen wird, er rast dem Ball entgegen, ein Zucken mit dem Kopf und schon steht es 5:4 für uns. Die Entscheidung!
13 Minuten später hatten wir es geschafft. Werder geschlagen und das Pokalfinale erreicht. Jubelnd fielen wir uns in die Arme und mussten doch wenig später einen kleinen Schock verdauen: Den Weg vom Rasen in unsere Kabine zeichnete eine Blutspur, als wenn ein Metzger sein frisch geschlachtetes Schwein durch die Katakomben gezogen hätte. Folgendes war passiert: Kurz vor dem Schlusspfiff war der Ball noch einmal in unseren Strafraum geflogen, Torwart Uli Sude, unser baumlanger Stürmer Uwe Rahn und Bremens Riese Frank Neubarth waren gemeinsam in die Höhe gesprungen. Uli hatte nach dem Ball fausten wollen, dabei allerdings Uwes Kopf getroffen, der gegen den Schädel vom langen Neubarth und von da zurück in Ulis Gesicht geprallt war. Ergebnis: Trümmerbruch der Nase für Uwe Rahn, schlimme Platzwunden für Uli Sude und Kopfschmerzen für Frank Neubarth. Als wir die besudelte Kabine erreichten, war unser Vereinsarzt Dr. Alfred Gerhards, ein Künstler mit Nadel und Faden, bereits dabei, das verwundete Duo zu versorgen.
Was macht man nach so einem Spiel? Sich von den Kollegen verabschieden und einfach nach Hause fahren? Ging nicht, zu viel Adrenalin, zu viel Fußball im Kopf. Die Nacht zum Tage machen? Vier Tage später mussten wir bereits gegen Borussia Dortmund im Kampf um die Meisterschaft antreten, an die große Party war also nicht zu denken. Wie so häufig in diesen Gladbacher Jahren zogen wir gemeinsam spät am Abend noch zu unserem Stammlokal in der Gladbacher Innenstadt, einem Argentinier, der uns auch noch um Mitternacht ein leckeres Essen zauberte. Zwischen Steak und Altbier sprachen wir über das Spiel, die Tränengasgranate, die Verlängerung … Momente des Zusammenseins, Momente, die ich heute vermisse. Später, im Bett, lief wieder einmal mein Kopfkino auf Hochtouren. Erst nach dem Abspann fiel ich in den Schlaf.
Immerhin brauchte ich seit Anfang des Jahres 1984 nicht mehr alleine einzuschlafen. In einer Disco hatte ich sie kennengelernt und mich bald schwer verliebt: Carmen. Dass diese Beziehung später so brutal in die Brüche gehen sollte, konnte ich in diesen ersten rosa-roten Monaten natürlich nicht ahnen.
Im Herbst 1985 suche ich ein wenig Entspannung beim Waldspaziergang und treffe diese schöne Unbekannte. Im Ernst: Die Dame vor mir ist meine spätere Frau Carmen, die ich Anfang des Jahres 1984 kennengelernt hatte. © imago/Passage
Nun stand ich also im ersten Pokalfinale meines Lebens und auch in der Meisterschaft waren wir weiter vorne mit dabei. Eine unnötige 1:2-Niederlage am 29. Spieltag gegen den Hamburger SV, einen der größten Konkurrenten im Rennen um den Titel, hatte uns zwar die kurzzeitig erkämpfte Tabellenführung gekostet, doch die Chance auf die Meisterschale war weiterhin gegeben. Müßig darüber zu streiten, warum es am Ende doch nur zu Rang drei reichte. War es die Niederlage gegen den HSV? Die 1:4-Klatsche am 31. Spieltag gegen Borussia Dortmund? Den neuen Deutschen Meister vom VfB Stuttgart hatten wir jedenfalls in der Rückrunde mit 2:1 bezwingen können, doch trotz der Stuttgarter 0:1-Niederlage gegen den HSV (der schlussendlich Zweiter wurde) war es der VfB, der nach 34 Spieltagen die Sektkorken knallen ließ. Punktgleich mit uns und dem HSV, allerdings sieben Tore besser als der schärfste Verfolger, wurden die Schwaben Deutscher Fußballmeister. Auf Rang vier landeten übrigens die Bayern – mit nur einem Punkt weniger.
Ein bitteres Saisonfinale, doch zur großen Staatstrauer blieb uns keine Zeit. Fünf Tage nach dem letzten Punktspiel (und gut zwei Wochen nach meinem ersten Bundesligator gegen Bayer Uerdingen) zogen wir Seite an Seite mit unserem Endspielgegner Bayern München ins Frankfurter Waldstadion ein. 61000 Zuschauer begrüßten uns, ein sagenhaftes Gefühl, bei so einer Partie auf dem Rasen zu stehen! Mir schwitzten die Hände, ich hatte am ganzen Körper eine Gänsehaut – doch der schwierigste Teil meiner Arbeit lag noch vor mir. Mein Gegenspieler, Karl-Heinz Rummenigge. 1984 war er in der Bundesliga längst eine Legende, nach dieser Saison sollte er für zehn Millionen Mark zu Inter Mailand wechseln. Ihn hatte Jupp Heynckes mir zugeteilt. Vor dem Spiel schaute ich ihm tief in die Augen, dieser Weltklassemann sollte gleich wissen, dass ich vielleicht Respekt vor dem Menschen Rummenigge, nicht aber vor dem Sportler Rummenigge hatte.
Unser Trumpf hieß Lothar Matthäus. Das Pokalfinale gegen die Bayern sollte sein letztes Spiel für Borussia Mönchengladbach sein, ausgerechnet. Wenige Tage vor dem großen Tag hatten wir noch gemeinsam in seiner Wohnung gesessen und über das Endspiel gesprochen. »Uli«, hatte Lothar gesagt, »ich will mich hier mit einem Titel verabschieden!« Natürlich wollte er das – warum auch nicht? Alle Befürchtungen, Matthäus werde im Spiel gegen seinen neuen Arbeitgeber mit angezogener Handbremse spielen, empfanden wir Mitspieler als geradezu lächerlich.
Schiedsrichter Volker Roth pfiff das Spiel an. Gladbach gegen Bayern. Matthäus gegen die Zweifler. Ich gegen Karl-Heinz Rummenigge. Es gibt ein Foto von diesem Spiel, vermutlich zeigt es eine meiner bekanntesten Grätschen. Hübsch geschmückt mit dem damals noch todschicken Schnauzbärtchen unter der Nase nehme ich der Bayern-Legende den Ball ab und, wie es sich gehört, gebe ihm dabei noch einen satten Pferdekuss mit auf den Weg. Was musste ich mir nach dieser Aktion von Rummenigge anhören! Aber die Beschimpfungen nahm ich gerne in Kauf, denn danach hatte ich ihn voll im Griff. Lag es am verhinderten Goalgetter, dass die Bayern so schwerfällig ins Spiel kamen? Erst nach der 1:0-Führung durch Frank Mill in der 33. Minute kam die rote Lawine ins Rollen. Jetzt mussten wir in der Defensive Schwerstarbeit verrichten. Nach knapp einer Stunde ging Bayern-Trainer Udo Lattek volles Risiko und brachte mit Dieter Hoeneß einen zusätzlichen Stürmer. Lattek hätte auch einen Bulldozer aufs Feld schicken können, es hätte keinen Unterschied gemacht. Alle Verteidiger, die jemals Bekanntschaft mit dem Kraftpaket Hoeneß gemacht haben, werden wissen, wovon ich spreche. Noch heute höre ich die Körper von Winnie Hannes und Dieter Hoeneß aneinanderklatschen, wenn wieder ein hoher Ball in unseren Strafraum getreten wurde. Und doch war es nicht Dieter Hoeneß, der schließlich doch noch für die Bayern traf, sondern Wolfgang Dremmler. Einen Abpraller vom Pfosten haute Dremmler durch die Beine von Hans-Günter Bruns ins Netz. Acht Minuten vor dem Schlusspfiff. Welch ein Tiefschlag.
Verlängerung. Kurze Pause. Beine durchschütteln, trinken, Wasser ins Gesicht klatschen. Das Brüllen der Fans, die Stimmung im Stadion, die letzten Anweisungen des Trainers? Hörst du nicht mehr. Da ist nur noch ein Rauschen und dein Herzschlag, der dir sagt: Es geht weiter. Zweimal 15 Minuten Verlängerung in meinem ersten großen Finale, etwas weniger Dramatik wäre mir auch lieb gewesen. Und es war ja noch nicht vorbei. Weil auch in den zusätzlichen 30 Minuten kein Tor fiel, musste die Partie im Elfmeterschießen entschieden werden. Ein Szenario, dass wir vor dem Spiel zwar durchgegangen waren, ja sogar die möglichen Schützen hatte Jupp Heynckes ausgewählt, aber als es nun hart auf hart kam, waren von den fünf Schützen plötzlich nur noch drei in der Lage, an den Punkt zu gehen. Ich sah Jupp auf mich zukommen, sein fragender Blick und der Satz: »Kannst du schießen?« Ich war viel zu schlapp, um mich anständig aus der Sache herauszuwinden, also sagte ich einfach »Ja«. Mein Gott, was hatte ich nur getan! Jetzt war es zu spät für einen Rückzieher, als Schütze Nummer drei stand ich auf dem Zettel von Schiedsrichter Roth.
Der erste Elfmeter, dafür hatte Jupp unseren sichersten Mann ausgeguckt: Lothar Matthäus. Der Mann, der nach diesem Spiel zu den Bayern aus München wechseln würde. Mit meinen Mitspielern stand ich am Mittelkreis und musste das Drama hilflos mit ansehen: Wie Lothar anlief, gegen den Ball trat und die verdammte Kugel über das Tor von Jean-Marie Pfaff schoss. Eine Katastrophe. Aber noch waren wir ja nicht verloren. Sören Lerby für die Bayern – Tor. Kai-Erik Herlovsen für Mönchengladbach – Tor. Norbert Nachtweih – Tor. Uli Borowka.
Gut 40 Meter sind es vom Mittelkreis bis zum Elfmeterpunkt. 40 Meter Zeit für viel zu viele Gedanken. Sollte ich nach rechts, nach links, nach oben, nach unten schießen? Mit der Seite, Vollspann, gar mit der Pike? Ehrlich gesagt, ich wusste es nicht. Nicht auf den 40 Metern, nicht als ich mir den Ball zurechtlegte, nicht als ich anlief. Dann im letzten Moment der Befehl an meinen rechten Fuß: Vollspann, einfach drauf. Ein sagenhaft einfallsreicher Plan! Und doch hatte ich Glück: Durch die Beine von Pfaff überquerte der Ball die Linie, ein Glückstreffer, aber mehr hatte ich ja gar nicht gewollt.
Wolfgang Grobe für die Bayern – Tor. Hans-Günther Bruns – Tor. Klaus Augenthaler – Uli Sude hält! Inzwischen hatte ich einen neuen Beobachtungsplatz eingenommen: Zusammengekauert hockte ich in einem Wäschebottich, hinter mir unser Masseur Charly Stock, der mich schon einmal vorsorglich eng umklammert hatte.
Wilfried Hannes – 5:4 für uns! Karl-Heinz Rummenigge – 5:5. Hans-Jörg Criens – 6:5. Wolfgang Dremmler – 6:6. Michael Frontzeck – 7:6. Bernd Martin – 7:7. Norbert Ringels – Pfosten! Was für ein Drama. Jetzt sollte eigentlich Dieter Hoeneß schießen, doch eine kurze Ansage von Karl-Heinz Rummenigge änderte den Plan von Udo Lattek: Kalle schickte kurzerhand seinen jüngeren Bruder Michael nach vorne, der den Ball ganz lässig links an Uli Sude vorbei ins Netz legte.
8:7 für die Bayern, wir waren geschlagen, die Münchner DFB-Pokalsieger 1984. Kurz ging ich zu Lothar und legte meinem Kumpel den Arm um die Schulter, dann zog es mich wieder in meine hellblaue Wanne. 20 Minuten muss ich dort gesessen haben, wie ein Kind, das auf das Badewasser wartet. Ich sah meinen Gegenspieler Rummenigge den Pokal in die Höhe stemmen, ich sah die Bayern jubeln und meine Kollegen heulen. Ein beschissenes Gefühl. Nach einer halben Ewigkeit schlurften wir schließlich in die Kabine. Es war mucksmäuschenstill. Niemand sagte ein Wort. Was brauchte es auch schon Worte, wo wir soeben nicht nur die Meisterschaft, sondern auch den Pokal im letzten Moment aus den Händen gegeben hatten?
Mit dem Bus fuhren wir zurück nach Mönchengladbach. Im Restaurant »Zur Traube«, in Korschenbroich, war eigentlich alles für die große Party vorbereitet worden. Jetzt herrschte hier eine Stimmung wie nach einer Beerdigung. Damit nicht genug: Zu später Stunde entluden sich die aufgestauten Emotionen der vorangegangenen Wochen. Irgendein Gladbacher Vorstandsmitglied wagte es, Lothar Matthäus vorzuwerfen, er habe den Elfmeter extra verschossen, um sich bei seinem neuen Verein anzubiedern. Ich muss an dieser Stelle nicht erklären, welche Auswirkungen solche Äußerungen auf ein reizbares Gemüt wie das von Lothar haben können. Plötzlich war die Stimmung vergiftet, beinahe hätten beide Parteien den Streit mit Fäusten ausgetragen. Immerhin das konnten wir verhindern.
Nur wenige Tage später war die Bundesliga, der DFB-Pokal, Karl-Heinz Rummenigge, der ganze Stress der Saison 1983/84 weit, weit weg. Am Strand von Gran Canaria genossen Lothar und ich die Sonne. Gemeinsam mit unseren Frauen hatten wir die Reise schon vor Wochen gebucht. Wir sprachen nicht mehr über den Elfmeter, auch nicht über den Wechsel zum FC Bayern. Ich wagte es nicht, meinen Freund darauf anzusprechen, dafür war er noch zu sehr mitgenommen. Also starrten wir lieber aufs Meer. Ich dachte an die Borussia und er vielleicht an die Bayern. Nach der Reise trennten sich unsere Wege. Und ich bin nie wieder mit Lothar Matthäus in den Urlaub gefahren.