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FAHRER VON MATTHÄUS Mein Kumpel Lothar
ОглавлениеEs würde zu weit führen, wenn ich behaupten würde, dass es im Fußball keine Freundschaften geben kann. Natürlich entstanden auch bei mir im Laufe der Jahre gute Bekanntschaften zu einigen meiner Mitspieler. Als Fußballprofi lebst du in einer Art Kokon. Wenn man nicht gerade ein anderes Hobby oder viele Freunde aus der Schulzeit mit in das Erwachsendasein gerettet hat, kommt man zwangsläufig hauptsächlich mit anderen Fußballern in Kontakt. Einer meiner engsten Bekannten in den Gladbacher Jahren war Lothar Matthäus. Lothar und ich wurden sogar Freunde, auch wenn Fußballer-Freundschaften schon eine Sache für sich sind. Das Geschäft ist schnelllebig und dein Freund kann im nächsten Moment schon wieder dein Konkurrent sein, das ist eine ganz ungesunde Konstellation, um Freundschaften auch zu vertiefen. Viele meiner Beziehungen zu anderen Spielern waren doch sehr oberflächlich.
Bei Lothar und mir war es, jedenfalls eine Zeit lang, etwas intensiver. Nachdem er zu Beginn der neuen Saison 1982/83 mit seinem schicken weißen Mercedes in seiner Heimatstadt Erlangen etwas angeheitert in Nachbars Vorgarten gebraust war – und dadurch natürlich seinen Führerschein verlor – lernten wir uns besser kennen. Ich wurde nämlich zu einer Art Privatchauffeur für unseren Mittelfelddirigenten. Vor dem Training holte ich ihn ab, nach dem Training fuhr ich ihn wieder nach Hause, und nicht selten blieb ich zum Abendessen bei Lothar und seiner damaligen Frau Sylvia. Schöne Abende waren das, an denen wir natürlich über Fußball sprachen, den nächsten Gegner, unsere Mitspieler, Zukunftspläne und mögliche Ausflugsziele für einen gemeinsamen Urlaub. Fußballerisch war mir Lothar, obwohl nur ein Jahr älter, um Jahre voraus. Schon mit Anfang 20 spielte er eine wichtige Rolle in der Nationalmannschaft, bei der Borussia war er längst unverzichtbar geworden. Ob im Training oder am Wochenende im Punktspiel: Wenn Lothar in Ballbesitz war, staunte ich Bauklötze. Eine solche Physis, eine solche Dynamik in ihrem Spiel hatten in diesen Jahren nur ganz wenige Fußballer in Deutschland. Lothar hatte die besondere Gabe, Spielszenen vorauszusehen, was ihn im zentralen Mittelfeld zum Dreh- und Angelpunkt unseres Spiels machte. Ich war weiterhin ein einfacher Arbeiter, mein Spiel lebte von Einsatz und Kampfbereitschaft, Lothar hatte da ganz andere Möglichkeiten in seinem Spiel.
Auf dem Fußballplatz war ich ein Bewunderer, abseits des Rasens waren wir auf einer Wellenlänge. Mit jedem Abendessen und jeder gemeinsamen Autofahrt vertiefte sich unsere Freundschaft, auch wenn sie doch nur an der Oberfläche kratzte.
Weiterhin hatte ich nichts anderes im Kopf als Fußball. Fußballfremde Hobbys? Fehlanzeige. Ich ging ins Kino, ich kaufte ab und an eine neue Platte, ich ging gerne ins argentinische Steak-Restaurant (dessen Besitzer Ernesto bald zu einem Freund wurde), aber ansonsten bestimmte der Sport meinen Alltag. Gegen so viel Fußballverrücktheit hatte Jupp Heynckes natürlich nichts einzuwenden. Im Gegenteil. Vor jeder neuen Saison gab er uns jungen Spielern den gleichen Rat: »Bildet euch weiter! Schaut Fußball, so oft ihr nur könnt. Geht ins Stadion, beobachtet die Kollegen, vergleicht euer Spiel mit dem der Routiniers.« Fortbildung für Fußballprofis, dagegen hatte ich nichts einzuwenden. Wenn es der Spielplan zuließ, besorgte ich mir Karten für die Stadien der Konkurrenz und tat das, was Zehntausende Fans auch taten: Ich schaute Fußball. Einen denkwürdigen Nachmittag erlebte ich am 6. November 1982. Einen Tag zuvor, an einem Freitag, hatten wir am Bökelberg mit 3:0 gegen Eintracht Braunschweig gewonnen, den Samstag nutzte ich ganz professionell und fuhr ins Dortmunder Westfalenstadion, um mir den Auftritt des BVB gegen Arminia Bielefeld anzuschauen. Nach der Führung durch den Bielefelder Frank Pagelsdorf schossen Burgsmüller, Abramczik, Klotz, Raducanu und Huber gemeinsam noch sage und schreibe elf Tore, welch eine Schmach für die Arminia! Das 1:11 beim BVB ist bis heute die dritthöchste Niederlage der Bundesligageschichte. Als Abwehrspieler gab es für mich an diesem Tag nicht wirklich viel zu lernen …
Karten spielen war noch die einzige Beschäftigung, der ich außerhalb des Fußballplatzes regelmäßig nachging. Als Fußballer in den achtziger Jahren wurdest du zwangsläufig zum Kartenspieler angelernt, auf den langen Fahrten zu den Auswärtsspielen gab es wenig Alternativen, um die Zeit totzuschlagen. Und wer weihte mich ein in die hohe Kunst der Kartenspiele? Natürlich Wolfgang Kleff. Wolfgang brachte mir auch Backgammon bei, das Lieblingsspiel unserer Defensivabteilung um Libero Hans-Günter Bruns, Frank Schäffer und Bernd Schmider. Dieses Trio war es auch, dass vor dem achten Spieltag in dieser Saison von Jupp Heynckes für seine Leidenschaft hart bestraft wurde. Weil unser Trainer schließlich herausgefunden hatte, dass Hans-Günter, Frank und Bernd vor der 2:4-Auswärtspleite gegen Arminia Bielefeld bis nachts um drei Backgammon gespielt hatten – natürlich um Geld –, machte er kurzen Prozess und setzte die »Backgammon-Sünder« am darauf folgenden Spieltag gegen Eintracht Frankfurt auf die Tribüne. Spielsperre wegen Backgammon, das konnte es nur bei der Borussia geben. Jetzt kann ich es ja sagen: Auch ich war damals Teil dieser Zockerrunde! Als es an unserer Tür klopfte, war ich es, der öffnete. Weil ich allerdings sofort erfasste, wer der unangekündigte Besucher war, war ich blitzschnell hinter die Tür gesprungen – und wurde so von Jupp Heynckes schlichtweg übersehen.
Jupp Heynckes konnte man ohnehin nichts vormachen. Er schien eine Art dritten Sinn für seine Spieler zu haben. Wenn wir am Abend vorher mal ein wenig zu tief ins Glas geschaut hatten, brauchte uns Jupp vor dem Training nur kurz in die Augen zu sehen und schon wusste er genau, wann wir im Bett gewesen waren. Diese Menschenkenntnis war fast schon unheimlich, für einen erfolgreichen Trainer allerdings unentbehrlich.
Und dank dieses Einfühlungsvermögens startete ich als Stammspieler in die Saison 1982/83. Wenn auch nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte. Zum Auftakt in die neue Spielzeit empfing uns Schalke 04 im heimischen Parkstadion. Die Schalker waren damals eine Attraktion in der Liga, jedenfalls frisurentechnisch. Die drei Glatzenträger Manfred Drexler, Hubert Clute-Simon und Ulrich Bittcher konnte man schon aus weiter Ferne an den glänzenden Fleischmützen erkennen. Durch Tore von Matthäus, Kurt Pinkall und Wolfram Wuttke führten wir nach 55 Minuten bereits mit 3:0, und ich genoss einen äußerst gemütlichen Nachmittag. Nach einer Stunde verabschiedete sich mit Clute-Simon der erste Glatzenmann, Schalkes Trainer Siggi Held schickte dafür Ilyas Tüfekci auf den Platz, einen nur 1,64 Meter großen Türken. Am Seitenrand sah ich Jupp Heynckes auf und ab hüpfen, trotz der beruhigenden Führung wild gestikulierend. »Uliii«, brüllte mein Trainer, »das ist deiner« – er zeigte auf Tüfekci – »pass bloß auf!« Ich hob den Daumen. Gegen dieses halbe Hemd sollte das kein Problem sein. Was soll ich sagen? Innerhalb von nur drei Minuten hatte das halbe Hemd mir einen Knoten in die Beine gespielt und zwei Tore erzielt. Jetzt war auf Schalke aber der Teufel los! Mit Müh und Not und einem späten Tor von Hans-Günter Bruns retteten wir den Sieg über die Zeit. 4:2-Erfolg hin oder her, in der Kabine bekam ich trotzdem erst einmal mein Fett weg.
Ein Sieg zum Saisonauftakt, das war es dann aber auch beinahe mit den Erfolgsgeschichten in dieser Saison. Von den 17 Spielen der Hinrunde verloren wir elf, zur Winterpause standen wir auf Platz zwölf. Die Abstiegsplätze waren näher als uns lieb war. Entsprechend angespannt war die Stimmung. Immerhin: Wir gerieten trotz der schlechten Stimmung nicht in Panik. Was ganz sicher auch daran lag, dass es Jupp Heynckes in den Jahren zuvor gelungen war, aus der Mannschaft eine echte Einheit zu formen. Diese Einheit hatte ihre Rituale, und die galt es zu pflegen. Vor Heimspielen lief bei uns immer das gleiche Programm ab. Einen Tag vor dem Spiel trainierten wir vormittags auf Platz 11 und bezogen dann das Parkhotel in Süchteln, ein Haus, das mich jedes Mal an die Villa Kunterbunt von Pippi Langstrumpf erinnerte. Rudi, der Oberkellner, begrüßte uns stets an der Rezeption, um seinen Hals hing die obligatorische schwarze Fliege. Beim Mittagessen luden wir uns ordentlich die Teller voll, Nasi Goreng, Hähnchenkeule, Cordon Bleu, dazu vielleicht noch eine Käseplatte – alles, was schmeckte, war auch erlaubt. Anschließend ging es auf die Zimmer zur Mittagsruhe, entspannte Stunden, die in späteren Jahren lediglich durch Ewald Lienen gestört wurden. »Müsli-Ewald«, wie wir ihn nannten, fühlte sich berufen, vor allem uns jüngere Spieler von den angeblich unschlagbaren Vorteilen eines frisch gemahlenen Müslis zu überzeugen. Gesunder Ernährung war ich als Leistungssportler natürlich nicht generell abgeneigt, aber Ewald ging mir damals doch ziemlich auf den Keks. Während wir anderen versuchten, ein kleines Mittagsschläfchen zu halten, röhrte aus Ewalds Zimmer die mitgebrachte Müsli-Maschine. Wie viele schlechte Träume dieses Teil ausgelöst hat, möchte ich gar nicht wissen.
Nach der Mittagsruhe folgte der wichtigste Teil unserer Heimspielvorbereitung: Gemeinsam fuhren wir durch den Süchtelner Wald zu der dort gelegenen Natur-Minigolfbahn, bestellten Kaffee und Kuchen und spielten mit der gesamten Mannschaft. Natürlich mit Strichliste, die sorgfältig gepflegt und ausgewertet wurde. Von den regelmäßigen Besuchen auf der Minigolfbahn profitiere ich als leidenschaftlicher Golfer noch heute. Dieses Ritual ließen wir uns nie nehmen, ob es nun in Strömen regnete, oder wir erst mit Schaufeln die Schneemassen von der Bahn räumen mussten. Am frühen Abend versammelten wir uns zum Abendessen im Parkhotel, und wer dann noch wollte, hatte bis halb elf Ausgang, um in Mönchengladbach ins Kino zu gehen. Der frühe Zapfenstreich provozierte jedes Mal eine ziemlich riskante Raserei auf der Autobahn, schließlich endeten die meisten Filme erst um kurz nach zehn. Auf den Schock ging es meistens noch zu Mutter Marie, der guten Seele und Hotelchefin, die uns selbst zu so später Stunde in der Hotelküche dicke Stullen schmierte, die anschließend mit einem Gläschen Aquavit und einer Flasche Bier heruntergespült wurden. Wer für das Spiel am kommenden Tag auf Nummer sicher gehen wollte, mixte sich noch eine ganz spezielle Energiebombe: Eine Flasche Rotwein, verrührt mit zehn Eiern und Traubenzucker. Wir Fußballer hielten das damals für ein unschlagbares Gesöff, der Rotwein-Eier-Zucker-Mix war quasi unser ganz eigener Zaubertrank.
Irgendwann war auch für uns Schlafenszeit. Die nächtliche Ruhe vor dem Spieltag hatte in all den Jahren eine Modenschau der ganz besonderen Art zur Folge. Amateurmodel Uli Borowka präsentierte unter dem Gejohle der Mitspieler den vermutlich hässlichsten Schlafanzug, der jemals von einem Profifußballer getragen wurde. Ein fesches Frotteehöschen kombiniert mit einem orangenem Oberteil. Dass ich dieses furchtbare Teil trug, war noch so ein Ritual in unserer Mannschaft. Und als ich 1987 zu Werder Bremen wechselte, nagelte mein Kumpel Bernd Krauss den Schlafanzug an die Wand in meinem Hotelzimmer. Vielleicht hängt er da immer noch – als abschreckendes Beispiel für all die Borussen, die nach mir die Villa Kunterbunt im Süchtelner Wald bezogen …
Trotz Minigolf, trotz Mutter Marie, trotz Schlafanzug – in der Saison 1982/83 war einfach der Wurm drin. In der Liga kämpften wir gegen den Abstieg, und im DFB-Pokal zerstörte ausgerechnet ein Zweitligist aus Köln unsere Träume vom Finale. Nach Siegen gegen den VfB Wissen, Union Solingen und Waldhof Mannheim trafen wir im Viertelfinale auf Fortuna Köln. Gegen die Mannschaft von Trainer Martin Luppen saß ich zunächst nur auf der Bank, doch als uns Frank Mill mit zwei Toren in Führung geschossen hatte, schickte mich Jupp Heynckes nach 50 Minuten für Armin Veh aufs Feld, um den Sieg über die Zeit zu retten. Ich hatte einen fürchterlichen Tag erwischt, verschuldete das 1:2 durch Gerd Zimmermann und musste mit ansehen, wie Bernd Grabosch nach 73 Minuten auch noch der Ausgleich gelang. Unentschieden, das hatte 1983 ein Wiederholungsspiel zur Folge. Am 8. März trafen wir uns wieder, diesmal stand ich in der Startformation. Es half alles nichts: Fortunas Sturmhüne Dieter Schatzschneider, der nach dieser Saison zum frisch gebackenen Deutschen Meister nach Hamburg wechseln sollte, schenkte uns zwei Tore ein, der Treffer von Lothar Matthäus war zu wenig. Wir schieden aus. Tagelang machte ich mir schlimme Vorwürfe, schließlich war der lange Schatzschneider mein Gegenspieler gewesen.
Im Pokal gescheitert, in der Bundesliga immer am Rand des Abgrunds, diese Saison ging uns allen an die Nerven. Es war mein Glück, als junger Spieler neben so erfahrenen Kollegen wie Winnie Hannes oder Bernd Schmider zu spielen. Die Routiniers gaben mir Halt. Auf dem Platz und auch abseits des Rasens. Vor allem Bernd Schmider hatte für mich immer ein offenes Ohr, seine ruhige und ausgeglichene Art ließ mich trotz der sportlich angespannten Lage nicht in Panik verfallen. Auch das ist ein Geheimnis von gut funktionierenden Mannschaften: erfahrene Spieler mit Charakter, die ihr Wissen zum Wohl der Gruppe mit den internen Konkurrenten teilen. Unser Pech war es, dass ausgerechnet diese Eckpfeiler in der Saison 1982/83 regelmäßig wegbrachen. Die Ausfälle von Libero Hans-Günter Bruns und Kapitän Winnie Hannes, die beide verletzungsbedingt wochenlang nicht zur Verfügung standen, machten sich bemerkbar. Zwar schossen wir in dieser Spielzeit 64 Tore, kassierten allerdings auch 63 Gegentreffer. Langweilig wurde es unseren Fans jedenfalls nie. Auch ich verletzte mich Ende April schwer und fiel für die letzten fünf Saisonspiele aus. Von der Tribüne aus sah ich meine Kollegen, wie sie in den beiden letzten Spielen zweimal gewannen (darunter ein verrücktes 6:4 gegen Borussia Dortmund) und den Klassenerhalt schließlich mit 28:40 Punkten sicherten. Den ersten sportlichen Überlebenskampf meiner Karriere hatte ich also noch einmal glimpflich überstanden.