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TRÄUME AUF ROTER ASCHE Kindheit und Jugend im Sauerland
Оглавление»Ulrich, spiel doch endlich Fußball!« Das musste mein Vater Ernst sein. Er stand hinter der Bande, wild gestikulierend. Selbstvergessen hockte ich auf dem Boden und formte behutsam Türmchen aus der roten Asche. Für mich war das hier ein herrlicher und riesengroßer Spielplatz. Erst die Worte meines Vaters rüttelten mich auf. Das hier war kein Sandkasten, sondern mein allererstes Fußballspiel. Auch wenn ich nur auf Probe für die ruhmreiche SG Hemer 08 antrat: Ich ließ die Türmchen Türmchen sein und stellte mich dem Angriff der gegnerischen Mannschaft entgegen. Jetzt würde ich meinem Vater zeigen, was für ein großartiger Fußballer ich doch war! KLATSCH! Vom Fuß meines Gegenspielers prallte der Ball direkt in mein Gesicht. Meine Wangen, meine Nase, meine Lippen, alles brannte wie Feuer. Wie reagierte ich als fünfjähriger Debütant? Lächelte ich den Schmerz einfach weg und fegte den Schuldigen bei nächster Gelegenheit über die Seitenlinie? Von wegen. Ich fing an zu heulen. Die Tränen kullerten mir nur so über die Wangen, hilfesuchend schaute ich zur Seitenlinie. Da standen sie: Meine Eltern Ernst und Erika. Meine kleine Schwester Astrid, meine Großeltern. Meine Familie. Und jetzt stand ich hier und jaulte wie ein Schlosshund. Meine Mutter wäre am liebsten auf den Platz gerannt, um mich in den Arm zu nehmen. Mein Vater aber sah mich nur an. Ganz ruhig, so wie es seine Art war. Er sagte kein Wort, aber ich wusste auch so, was er mir mitteilen wollte: Stell dich nicht so an! Und jetzt spiel endlich Fußball …
Ich bin am 19. Mai 1962 in Menden, einer kleinen Stadt im Sauerland, geboren. Meine Mutter, eine gebürtige Oberschlesierin, war 1956 nach Becke-Oese gekommen und hatte dort meinen Vater, einen gelernten Armaturenschleifer, kennen- und lieben gelernt. 1964 kam meine Schwester Astrid zur Welt. Mit zwei Kindern im Gepäck wagten meine Eltern dann den großen Schritt in die Selbstständigkeit – und eröffneten im Sommer 1970 die Vereinsgaststätte »Zum Hillebach« vom FC Oese 49. Die Gaststätte wurde unser Lebensmittelpunkt und unser Zuhause, schließlich wohnten wir direkt über der Kneipe. Lediglich der Hillebach und eine kleine Brücke trennten unser Grundstück vom Sportplatz.
Mein Vater Ernst, der Neuzugang Uli und meine Mutter Erika. © Uli Borowka privat
In den frühen siebziger Jahren war der kleine Ascheplatz der Mittelpunkt des örtlichen sozialen Lebens. Und wer in Oese zum Fußball ging, der schaute auch bei Ernst und Erika Borowka auf ein paar selbst gemachte Frikadellen oder ein Glas Bier vorbei. Arbeit ist das halbe Leben, heißt es. Für meine Eltern gab es nichts anderes. Um sechs Uhr morgens wurde die Gaststätte geputzt, dann eingekauft und das Essen zubereitet. Mittags kamen die ersten Gäste und bestellten ihr Schnitzel, abends schauten die Dorfkicker auf ein Feierabendpils vorbei. Ohne fremde Hilfe, nur zu zweit, hielten meine Eltern den Laden am Laufen. Die Gaststätte war ihr Leben.
Der Anlaufpunkt der gesamten Familie: Die Gaststätte »Zum Hillebach« ganz in der Nähe des örtlichen Ascheplatzes. Davor meine Eltern. © Uli Borowka privat
Für mich war es das Paradies! Da war der große Saal für die Festlichkeiten. Der Besprechungsraum mit dem Billardtisch, in dem die Trainer mit ihren Spielern vor jeder Partie noch einmal die Aufstellung durchgingen. Der Garten mit den Schirmen und Tischen und dem gleich dahinter verlaufenden Hillebach, der unserer Gaststätte ihren Namen gegeben hatte. Oder der Keller mit dem Tischkicker, in dem es immer ein wenig nach Zigaretten und Bier müffelte. Jahrelang ließ ich hier den kleinen Ball zwischen den Holzfiguren rotieren, bis ich irgendwann so gut war, dass ich bei den Deutschen Meisterschaften teilnahm (und dort am Ende immerhin den neunten Platz belegte). Und natürlich der Ascheplatz, spätestens seit meinen ersten Erfahrungen als Fußballer Dreh- und Angelpunkt meines jungen Lebens.
Wenn ich heute an diese Jahre denke, dann schmeckt die Luft nach Mutterns Frikadellen. Ich sehe meinen Vater hinter dem Tresen, wie er das schäumende Bier aus dem Hahn in die Gläser sprudeln lässt. Ich sehe meine Großeltern, wie sie die Hühner füttern. Ich höre die Schlacke unter meinen Schuhen knirschen und den Motor unseres VW-Käfers mit den Doppelfenstern aufheulen. Und ich denke daran, wie ich mit meinen Kumpels hinter unserem Haus lauerte, bis der Platzwart fort war, damit wir wieder auf das Feld stürmen konnten. Schöne Jahre.
Die Rollenverteilung bei uns zu Hause erschloss sich erst auf den zweiten Blick: Mein Vater war die meiste Zeit sehr ausgeglichen, ein entspannter, in sich ruhender Typ. Natürlich trank er als Gastwirt auch mal eine Runde mit seinen Gästen. Wenn der Andrang am Tresen gerade nicht so groß war, knobelte er mit den Stammkunden um die Wette. Der Verlierer musste die Runden bezahlen, da kamen dann schon einmal mehrere Gläser Bier zusammen. Nur selten verlor mein Vater die Fassung, doch wenn das passierte, konnte er sehr böse werden. Meistens blieben die Streitereien jedoch ohne Folgen, weil meine Mutter die Gefahr roch und das Problem auf ihre Weise löste. »Ernst«, sagte sie immer, »geh doch mal in die Küche und iss einen Happen.« Wenn mein Vater verschwunden war, regelte meine Mutter die Angelegenheit. Sie hatte alles im Griff und war die gute Seele unserer Familie. Hatte ich etwas ausgefressen, dann ging ich selbstverständlich zu ihr. Von meinem Vater brauchte ich kein Mitleid zu erwarten. Das war noch später so, als ich in meinem ersten Trainingslager für Borussia Mönchengladbach vor lauter Schmerzen nachts nicht schlafen konnte und mit zitternden Muskeln in mein Kissen weinte. Wenn ich dann zu Hause anrief, hoffte ich stets, dass meine Mutter den Apparat abheben würde. Mein Vater hätte nur gesagt: Hör auf zu jammern und beiß dich durch. Harte Schale, weicher Kern, so war Ernst Borowka. Nur einmal habe ich als Kind meinen Vater weinen sehen. 1972 lag meine Mutter, der von Geburt an ein Gerinnungsstoff im Blut fehlt, nach einer schweren Unterleibsoperation im Krankenhaus. Fast wäre sie gestorben. Gemeinsam mit meinem Vater und meiner Schwester saß ich bei uns in Oese auf dem elterlichen Bett und betete für meine Mutter. Meinem alten Herrn, unserem starken Beschützer, rollten die Tränen über das Gesicht. Für mich als zehnjährigen Jungen war das schlimmer als jede väterliche Ohrfeige.
Silberhochzeit von Ernst und Erika. Natürlich im Klammerblues: der Sohnemann. © Uli Borowka privat
Ich glaube, ich war ein relativ anständiges Kind. Auch wenn ich Katastrophen anzog wie ein Magnet Eisensplitter. Im örtlichen Krankenhaus in Hemer war ich Stammgast. Mit vier Jahren fiel ich vom Kletterturm im Kindergarten und biss mir bei der Landung fast die Zunge ab. Mit Lederriemen schnallten mich die Ärzte an Beinen, Armen und Kopf fest und nähten mir die Zungenspitze wieder an. Ohne Betäubung. Einige Jahre später wollte ich meinen Großvater, der mit meiner Oma bei uns im Hinterhaus wohnte, mit einer freihändigen Fahrt auf dem Fahrrad beeindrucken, stürzte drei Meter tief in den Hillebach und riss mir die Hand auf. Und als ich – wie auch immer – meinen Fahrradschlüssel heruntergeschluckt hatte, mussten mich die Krankenschwestern mit Sauerkraut füttern, damit der Schlüssel auf natürliche Weise wieder ans Tageslicht gelangte.
Breitreifen, lackierte Felgen, ein Fahrer mit dem richtigen Biss: Mein Roller, Mitte der Sechziger das Fortbewegungsmittel Nummer eins für alle unter zwölf. © Uli Borowka privat
Ähnlich unangenehme Erinnerungen habe ich auch an meine Grundschulzeit. Weil sich ein Mädchen aus meiner Klasse bei einem Sturz gegen die Wand eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte – ich hatte ihr zuvor den Stuhl gemopst – wurde ich ins Rektorzimmer beordert. Dort wartete auch schon Rektor Strothköter. Mit einem Rohrstock prügelte er auf meine kurze Lederhose ein, bis ihm der Arm müde wurde. Heulend schlug ich zu Hause auf, Mitleid erwartend. Meine Eltern sagten nur: »Dann weißt du ja, was du in Zukunft nicht mehr tun darfst.« Das saß! Ein weiteres Beispiel der elterlichen Erziehungsmethoden erfuhr ich Jahre später als 14-jähriger Teenager. Mit meinem Kumpel Wolfgang Hain hatte ich die glorreiche Idee, die erste Zigarette unseres Lebens heimlich in der Kartoffelmiete hinter unserem Haus zu rauchen. Also hockten wir beide eines Nachmittags in diesem eineinhalb Meter in der Erde eingelassenen Vorratsspeicher und schmauchten ganz cool ein paar Kippen. Schon bald zogen die ersten Rauchschwaden aus der Miete, was wiederum meinen Opa alarmierte. Panisch brüllte er durchs Haus: »Die Miete brennt!« Mit einem Eimer Wasser rannte mein Vater in den Garten, doch ein kurzer Blick genügte ihm, um zu wissen, was da wirklich zwischen Kartoffeln und Kohlköpfen vor sich ging. »Wenn ihr beiden Halbstarken unbedingt rauchen wollt, dann habe ich was für euch«, sagte er und schleifte uns in die Gaststätte. Er fischte eine riesige Dannemann-Zigarre aus der Schublade, steckte sie an und schob uns den Kolben zwischen die Zähne. »Schön ein- und wieder ausatmen«, hörten wir seine Stimme zwischen dem beißenden Qualm. Es dauerte nicht lange, bis Wolfgang und ich zu den Toiletten stürmten und das Mittagessen in die Keramik verabschiedeten. Es hat Jahre gedauert, bis ich mich wieder an die nächste Zigarette herangewagt habe.
Ich habe bereits von meinem Vater erzählt. Man musste ihn schon sehr hartnäckig triezen, damit er die Fassung verlor. Umso absurder, was sich abspielte, wenn dieser Mann dann auf dem Fußballplatz stand. Im gesamten Kreis Iserlohn war Ernst Borowka vom FC Oese 49 als harter Hund gefürchtet. Ein knüppelharter Zweikämpfer, der die regionalen Ascheplätze so zuverlässig umpflügte wie die Bauern ihre Kartoffeläcker. Wenn wir ihm am Wochenende bei seinen 90-minütigen Ausbrüchen zuschauten, dann gab es regelmäßig Rangeleien mit den Meckerrentnern der gegnerischen Mannschaft und wüste Auseinandersetzungen mit den bedauernswerten Schiedsrichtern. Und wenn er dann mal gegen den Ball statt gegen den Gegner trat, tat er das meistens mit der Pike. Noch heute sehe ich diesen etwas klein gewachsenen Wüterich, wie er Gift und Galle speiend über den Platz stiefelte. Es war wie bei Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Auf dem Fußballplatz wurde mein Vater zu einem anderen Menschen. Jahre später sollte ich erkennen, wie ähnlich wir uns doch waren.
Denn auch wenn meine Karriere auf so unrühmliche Art begonnen hatte – bald gab es nichts anderes mehr in meinem Leben als Fußball. Trotz Türmchenbaus: Mit fünf Jahren begann ich meine Laufbahn bei der SG Hemer 08, spielte dort drei Jahre und wurde nach dem Umzug nach Oese Mitglied beim FC 49. Zugegeben, sonderlich talentiert war ich nicht. Aber ich liebte dieses Spiel mit jeder Faser meines Körpers und spulte in jedem Spiel wie ein Verrückter einen Kilometer nach dem anderen ab. Die Leistungen des kleinen Derwischs aus Oese blieben nicht unbemerkt. Gleich mehrfach wurde ich für die Kreisauswahl Iserlohn nominiert, und weil ich auch dort wie ein Wahnsinniger die Ascheplätze rauf und runter rannte, erhielt ich im Frühjahr 1974, gerade einmal elf Jahre alt, eine Einladung zur Westfalenauswahl. Tagelang schwebte ich auf Wolke sieben durch die Schule, dann war der große Tag endlich gekommen. Am 16. April 1974 brachte mich mein Vater in die Sportschule Kaiserau, wo sich der zusammengewürfelte Haufen talentierter Nachwuchskicker aus ganz Westfalen auf die ersten Auswahlspiele vorbereiten sollte.
Das Trikot ordentlich in der Hose: Meine ersten fußballerischen Gehversuche für die SG Hemer 08. © Uli Borowka privat
Kaiserau, für mich damals der schönste Ort der Welt! Nicht nur dass man mich in die Westfalenauswahl berufen hatte – zeitgleich bereitete sich hier auch die deutsche Nationalmannschaft auf ein Testspiel gegen die Ungarn vor. Mein Idol Rainer Bonhof, Franz Beckenbauer, Gerd Müller, die Gladbacher Torwartikone Wolfgang Kleff, alle waren sie da. Meine Helden trainierten auf den gleichen Plätzen wie ich! Ich war mir sicher, mit elf Jahren bereits auf dem Höhepunkt meiner Karriere angekommen zu sein. Einen Tag nach unserer Ankunft in Kaiserau, am 17. April 1974, durften wir uns sogar den großartigen 5:0-Sieg im Dortmunder Westfalenstadion anschauen, der Verband hatte uns Freikarten besorgt. Nicht einmal drei Monate später wurde diese Mannschaft Weltmeister. Wenn mir einer in diesen Tagen gesagt hätte, dass ich nur wenige Jahre später gemeinsam mit Wolfgang Kleff das Zimmer bei Auswärtsspielen mit Borussia Mönchengladbach teilen und beim Abschiedsspiel von Rainer Bonhof mit auflaufen würde, ich hätte ihn ganz sicher für geisteskrank erklärt.
Wie schnell und brutal das Fußballgeschäft sein kann, musste ich dann einen Tag nach dem Länderspiel von Dortmund erfahren. Nach der letzten Übungseinheit rief mich unser Auswahltrainer zu sich. »Borowka«, sagte er, »du bist zu klein und schmächtig für unsere Mannschaft. Pack deine Sachen und ruf deine Eltern an, sie sollen dich abholen.« Eben noch drängelte ich mich auf ein Foto mit meinem Idol Rainer Bonhof, glaubte auf dem Höhepunkt meiner noch jungen Karriere angekommen zu sein, und jetzt dieser Nackenschlag. Die Worte meines Trainers brannten wie Peitschenhiebe. Mein Vater musste mich aus Kaiserau abholen. Heimlich verdrückte ich auf dem Beifahrersitz ein paar Tränchen.
Ein Rückschlag, aber bald hatte ich die Schmach von Kaiserau vergessen. Ich schlug mich relativ durchwachsen durch meine Schulzeit, die großen Erfolge feierte ich weiter auf dem Fußballplatz. Nicht ohne Folgen. Ich war 13, als ich das erste Transferangebot meines Lebens erhielt. Herr Eckmann, der erfolgreichste Stahlhändler der Region, war ein Fußballverrückter, der sich in den Kopf gesetzt hatte, den nahen SSV Kalthof mit semiprofessionellen Strukturen auszustatten. Dafür brauchte es Geld und das hatte Stahlhändler Eckmann, dessen Söhne ebenfalls beim SSV spielten, mehr als genug. Die Kalthofer wollten mich unbedingt haben! Lange Rede, kurzer Sinn: Ich verließ den FC Oese, um fortan beim SSV Kalthof in einer wesentlich höheren Liga zu kicken. Ein ganz normaler Vereinswechsel. Würde man denken. Nicht so im Mikrokosmos Oese. »Dreckige Spelunkenwirte« war noch eine der harmloseren Beleidigungen, die sich meine Eltern in der Folgezeit gefallen lassen mussten. Einige Teams boykottierten gar unsere Gaststätte und verlagerten ihre Besprechungen und Mannschaftsabende in die Umkleidekabinen. Und das alles, weil der Sohn der Gastwirte den Verein gewechselt hatte! Meine Eltern trugen diese lächerlichen Reaktionen einiger Sturköpfe mit Fassung. Viele Jahre später, als ich längst ein bekannter Bundesligaspieler in Diensten von Borussia Mönchengladbach geworden war, tauchten die gleichen Personen wieder in unserer Kneipe auf und baten dreist um Freikarten für den Bökelberg. Wir haben nie darüber sprechen können, aber ich weiß, dass mein Vater in diesem Moment einen stillen Triumph feierte, der zumindest teilweise all die Jahre der Anfeindungen vergessen ließ.
Ich wurde älter, kam in die Pubertät und nicht nur auf dem Kopf wuchsen die Haare nun, wie sie wollten. Um Mädchen und Partys machte ich häufig einen großen Bogen, denn längst war der Fußball zu meiner Religion geworden, und die galt es nun einmal zu befolgen. Eine Freundin? Konnte ich mir nicht leisten. Erst mit 17 lernte ich Simone aus der Nachbarstadt Iserlohn kennen und musste einsehen, dass jedes Zirkeltraining ein Klacks gegen die Schwierigkeit ist, eine Frau erfolgreich zu beeindrucken. Aber damals? Nicht eine Trainingseinheit wollte ich versäumen, und welches Mädchen hätte es schon verstanden, wenn ich, statt mit ihr ins Kino zu gehen, zum Waldlauf verschwunden wäre? Ich himmelte nicht die Schulschönheiten, sondern mein Idol Rainer Bonhof an. Der hatte einen Schuss wie ein Pferd und konnte rennen wie ein Marathonläufer. Schusskraft und Kondition, viel mehr hatte ich als Fußballer, ehrlich gesagt, auch nicht in die Waagschale zu werfen. Fast alle meine Mitspieler waren talentierter und konnten geschickter mit dem Ball umgehen. Aber wenn am Wochenende der Trainer die Aufstellung verlaß, wessen Name stand dann auf der Tafel? Auf meiner angestammten Position im linken Angriff sorgte ich zwar nicht für technische Kabinettstückchen, bereitete aber regelmäßig Tore vor, schoss selber welche und grätschte nebenbei so zuverlässig über den Platz, dass die Gegenspieler schnell die Lust an weiteren Zweikämpfen verloren.
1977, das Jahr der großen Veränderungen. In der Firma Maschinen- und Apparatebau Seuthe begann ich meine Ausbildung zum Maschinenschlosser. Gleich nach der Hauptschule hatte ich mich hier mit 15 Jahren erfolgreich auf eine Lehrstelle beworben. Dass man mich überhaupt genommen hatte, war schlichtweg ein Wunder. In meinen Lieblingsklamotten, einer kurzen von meiner Oma bereits mehrfach geflickten Jeanshose und einem kunterbunten T-Shirt, war ich zum Bewerbungsgespräch gestiefelt. Meine Mutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als ich ihr davon erzählte, aber die Argumente gingen ihr schnell aus: Ich hatte den Job! Knapp 300 DM brutto Monatslohn und eine solide Ausbildung – meine Eltern waren stolz wie Bolle. Und ich kaufte mir vom ersten Gehalt erst einmal einen Wimpel von Borussia Dortmund. Drei Jahre marschierte ich im Blaumann zur Maloche, immer den heißen Atem unseres Ausbilders Lothar Köhring im Nacken. Einmal drohte er mir wutschnaubend mit einer Dreikantfeile, die Klinge löste sich bei seinem Gefuchtel vom Holzgriff und stach mir ins Schienbein. Ein stichhaltiger Beweis dafür, dass Lehrjahre Ende der Siebziger nun wirklich keine Herrenjahre waren. Trotz Ausbilder Köhring und seiner Dreikantfeile – die Jahre als Lehrling sind mir auch durchaus in positiver Erinnerung geblieben. Dass ich eines Tages mein Geld mit Fußballspielen verdienen würde, daran verschwendete ich damals noch keinen Gedanken. Also lernte ich schweißen, schmieden, feilen, bohren und stanzen, eben all das, was ein anständiger Maschinenschlosser in den siebziger Jahren an Grundlagen benötigte. Die ersten drei Monate verbrachte ich gemeinsam mit anderen Lehrlingen in der Lehrwerkstatt Hemer. Jede Mittagspause nutzten wir, um im nahen Park ein zünftiges Fußballspiel auszutragen, natürlich komplett im Blaumann und den schweren Sicherheitsschuhen. Verschwitzt und verdreckt standen wir anschließend wieder an der Werkbank.
Ein Schnappschuss aus meiner Zeit als Maschinenschlosserlehrling. Kenner werden sehen: Ich habe gerade Pause, die Drehbank ist leer. © Uli Borowka privat
Gleich neben der Lehrwerkstatt dampften die Schornsteine der Schokokuss-Firma »Dickmann«. Wann immer es möglich war, deckten wir uns hier mit Waffelbruch aus der überschüssigen Produktion ein. Vielleicht hatten ihm die vielen Schokoküsse etwas den Kopf verdreht, auf jeden Fall überraschte uns eines Tages einer unserer Kollegen mit einer fragwürdigen Wette: »100 DM wenn ich es schaffe, an einem Tag 100 Schokoküsse zu verdrücken!« Vier gegen einen, das hieß im schlimmsten Fall 25 DM pro Person, immerhin ein Zwölftel unseres monatlichen Bruttolohns! Wir schlugen ein, die Wette konnte der gute Mann nicht gewinnen. Besser gesagt: Die Wette durfte er nicht gewinnen. Den ganzen Tag lang ließen wir ihn nicht aus den Augen, denn der Wettgewinn war an eine Bedingung geknüpft: Wer kotzt, verliert! Doch obwohl wir ihn selbst bis auf die Toilette verfolgten, hatte er bis zur Raucherpause um halb drei bereits 90 Stück verputzt. Es war ganz offensichtlich, dass er auch die letzten zehn Dinger schaffen würde. Wir mussten uns etwas einfallen lassen. In Schokokuss 95 steckten wir einen dicken fetten Regenwurm. Unser Kollege biss herzhaft rein, sah den halben Wurm im Eiweißschaum – und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Die Wette hatte er damit verloren …
Es blieb nicht bei diesem einen Lehrlingsstreich. In Erinnerung ist mir noch ein Experiment, bei dem wir beinahe die Werkhalle abgefackelt hätten. »Hab ich im Fernsehen gesehen«, lautete das Startsignal eines Kollegen. Wir also den Schwefel von Streichhölzern abgekratzt, in ein kleines Metallröhrchen gestopft und mit einem konischen Metallstift versehen. Kaum waren die Meister in der Mittagspause verschwunden, spannten wir unsere kleine Bombe in der Werkbank ein und hauten mit dem Hammer auf das Gehäuse. BUMMM! Ein fürchterlicher Knall hallte durch die Halle, eine Stichflamme zischte nach oben und katapultierte den Metallstift durch das nigelnagelneue Aluminiumdach zehn Meter über unseren Köpfen. Erst Wochen später erfuhren die Meister die Ursache für den Knall, der ihre Mittagspause so abrupt beendet hatte.
Parallel zur Ausbildung mit Schweißgerät und Blaumann feilte ich natürlich weiter an meiner Karriere als Fußballspieler. Statt Schokoküsse verteilte ich Pferdeküsse, statt wilde Werkbank-Experimente auszutesten, malochte ich im Training und in den Punktspielen. Im letzten A-Jugend-Jahr wechselte ich von Kalthof zum DSC Wanne-Eickel in die Westfalenliga, damals die höchste Spielklasse der Region. Mein Kumpel Peter Potthoff, der ein Jahr vorher von Kalthoff Richtung Wanne-Eickel gewechselt war, hatte mich beim DSC empfohlen. Hatte der Fußball zuvor schon sehr viel Zeit in meinem Leben eingenommen, dominierte er nun alles. Von acht bis 16 Uhr stand ich jeden Tag im Blaumann an der Werkbank, dreimal die Woche fuhren Peter und ich eine Stunde zum Training und wieder zurück. Wenn ich dann um 23 Uhr im Bett lag, war ich meistens fix und fertig. Beim DSC rückte ich von der linken offensiven Außenbahn ins defensive Mittelfeld. Als defensiver Zweikampfspezialist war es meine Aufgabe, die gegnerischen Spielmacher an die Kette zu legen. Was ich, bei aller Bescheidenheit, ganz ordentlich tat. Wenn auch nicht immer mit fairen Mitteln. Nicht selten schoss ich über das Ziel hinaus. Wie mein Vater auf dem Oeser Ascheplatz war ich bald als harter Hund berühmt-berüchtigt. Waren es die Gene, die dafür sorgten, dass ich im Schlagerspiel gegen die A-Jugend von Schalke 04 nach nicht einmal zehn Minuten den gegnerischen Wunderknaben im Mittelfeld, einen gewissen Wolfram Wuttke, so heftig über den Haufen grätschte, dass er mit dem Krankenwagen vom Platz gefahren werden musste? Eher nicht. Meine Gegner von einst werden das bestreiten, aber sehr häufig kam ich einfach zu spät. Nicht selten habe ich dafür die Zeche bezahlt. So war es zumindest auf dem kleinen Nebenplatz der alten Schalker Glückaufkampfbahn, als mich nach dem Spiel wütende Rentner mit Regenschirmen und Krückstöcken bis in die Kabine verfolgten.
1980, das Jahr der großen Veränderungen. Die Lehre hatte ich erfolgreich absolviert, den Führerschein für Motorrad und PKW in der Tasche. Was mir jetzt zu meinem Glück noch fehlte, war ein Vertrag als Fußballprofi, und wenn nicht das, dann doch wenigstens ein Vertrag als Amateur. In all den Jahren hatte ich keinen Gedanken an eine Zukunft als Fußballprofi verschwendet. Denn: Waren nicht all die anderen Jungs die weitaus besseren Kicker? Die größeren Talente? Aber jetzt, da ich so weit gekommen war, sollte es noch nicht zu Ende sein. Ich war ein Junkie, der seinen Stoff brauchte: Fußball! Schließlich versprach mir der DSC Wanne-Eickel das zu geben, was ich so dringend benötigte. 1978 hatte die erste Mannschaft den Aufstieg in die damals noch zweigleisige Zweite Bundesliga geschafft, im Frühjahr 1980 bot man mir einen Vertrag für die kommende Saison an. Stolz wie ein Spanier rannte ich zu Hause in Oese meinen Kumpels die Bude ein und protzte mit meiner rosigen Zukunft als Profi beim DSC. Ein schwerer Fehler. Nur wenige Tage später wurde bekannt, dass der von Mäzen Robert Heitkamp geführte Club die vom DFB neu eingerichtete eingleisige Zweite Bundesliga doch nicht würde finanzieren können. Vor meinen Augen zerbrach das zarte Gebilde Fußball-Zukunft in tausend Scherben. Der DSC Wanne-Eickel verabschiedete sich in die Oberliga und meinen Vertrag konnte ich in die Tonne treten. Der Spott meiner Freunde brannte wie Feuer, wenigstens meine Familie hatte Mitleid mit mir. Meine Eltern wussten genau, wie viel mir diese Chance als Zweitligaprofi bedeutet hatte. Ich lag auf meinem Zimmer und starrte an die Decke. Unten, in der Gaststätte, jaulte Bernd Clüvers »Der Junge mit der Mundharmonika« aus den Boxen unserer »Rock Ola«-Jukebox. »Da war ein Traum, der so alt ist wie die Welt …«
Mein Traum, da war ich mir in diesem Moment sicher, war unwiderruflich zerstört. Was hatte all die Plackerei auf dem Trainingsplatz jetzt noch für einen Sinn? Sollte ich mit dem Fußball aufhören? Vielleicht war es besser so.