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IX

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Telvenkeskua, 2.Juli, 2.325, in der Nacht

Sie waren tot, und doch gingen sie. Tot, und doch hallten ihre Stimmen in ihr wider. Mörderin nannten sie Ashexee, gemeine Mörderin. Warum hast Du mich getötet, ich hatte Weib und Kinder zu Hause? So sprach ein Toter mit zerfetztem Leib. Ich war noch so jung, klagte eine kleine dunkelhäutige Frau, den Kopf von einem Schwertstreich halb abgerissen.

Fliehen, den Stimmen, den toten Augen, der Mörderin in ihr entgehen, war ihr einziger Gedanke. Sie wanderte durch Türme, Hallen, Straßen, Wälder, Berge. Die Toten fanden sie stets, ihre Stimmen verließen sie nicht.

Auf einem Berggipfel, am Himmel merkwürdige große Flugtiere, wie riesenhafte Fledermäuse, oder waren es Drachen, wich der Ring der Gemeuchelten zurück, machte Platz für einen großen Mann in lederner Rüstung, ein langes, gerades Schwert in der Hand.

Auch sie trug Leder und ein Schwert, ihres jedoch mit gebogener Klinge.

So war es immer gewesen. Woher kam dieser Gedanke?

Der Mann sprach, tief und fest war seine Stimme. Kämpfe oder ergib Dich.

Nie hatte sie sich ergeben, niemals. Vielleicht, wenn sie es diesmal tat?

Der Mann verschwand. Ein tiefe Höhlung, Rascheln und Fiepen, hoch, fast unhörbar. Sie spürte Angst. Ein schwarzes, behaartes Bein. Eine große Spinne löste sich aus der Dunkelheit. Da waren noch mehr, wimmelten in der Schwärze.

Wieder wollte sie fliehen. Ein totes Mädchen neben ihr klagte über ihre Grausamkeit, sie getötet zu haben.

Ein Gasthaus, dampfende Speisen auf den Tischen, ein Feuer prasselte im Kamin. Die Toten, ihre Wunden klaffend wie rote Schlünde, hoben ihre Krüge und prosteten ihr zu.

Komm, trink mit uns, sprachen sie, in ihren trüben Augen waberte verborgen etwas Dunkles, dass sie zu belauern schien.

Sie zappelte in dem Netz milchiger, armdicker Stränge, hilflos, die Spinne kroch heran, ihre Fänge, haarig und glitschig, zuckten gierig.

Sie schrie. Der große Mann stopfte ihr einen Knebel in den Mund, sie zerrte an den Lederriemen, die ihren Leib banden. Die Toten musterten sie, nie nachlassend in ihrer Klage.

Gefesselt, wie sie war, wand sie sich von ihnen, der Spinne, dem grimmigen Mann, weg, nach hinten, in den Abgrund. Sie fiel. Splitter mit kleinen Bildern leuchteten in der Finsternis, stürzten mit ihr. Die Stimmen der Toten verstummten.

Ashexee erwachte in der Dunkelheit, gebadet in Schweiß, eingewickelt in das weiche, nun feuchte Laken wie in die Bande einer Spinne, einen Schrei auf den Lippen. Nur ein Gurgeln entwich ihrer Kehle. Sie atmete mehrmals hastig durch, wickelte sich dann aus dem Laken. Vor dem Fenster flatterte eines der kleinen Flugtiere vorbei, die von den Menschen hier Ptackas genannt wurden.

Im Bett nebenan wälzte sich ihre Zimmergenossin im Schlaf herum. Ashexee griff nach dem Holzbecher auf ihrem Nachttisch und trank den kalten, bitter schmeckenden Tee, den ihre Heilerinnen für eine Art Universalheilmittel zu halten schienen. Shilje, hieß das Zeug. Sie verstand die Sprache, fenlorisch, ihr Name, das Einzige, an das sie sich erinnerte, war fenlorisch, doch die Namen der Tiere und Pflanzen, der Orte und Flüsse, nichts davon sagte ihr auch nur das Geringste. Die Sitten hier waren ihr fremd, alles hier war irgendwie falsch. Der Gedanke bereitete ihr stechende Kopfschmerzen und eine widerliche Übelkeit im Hals.

Normal bei Amnesie, hatten ihr die Heilerinnen versichert, selbstsicher und arrogant. Wenigstens dies schien angemessen für diese Zunft. Nicht alles war unvertraut an diesem fremden Ort.

Zunächst hatte frau die junge Dunkelhaarige für eine Geisteskranke, eine von Sheila berührte, gehalten. Als sie jedoch, in der Nacht magisch in Schlaf versetzt, am folgenden Vormittag erwacht war, zeigte sie keine Symptome der gefürchteten Erkrankung mehr. Sie hatte jedoch offensichtlich jede Erinnerung an ihr voriges Leben, ja an Terklora selbst, verloren.

Die Heilerinnen hielten sie zur Beobachtung im Haus, seit dem zweiten Tag in der offenen Abteilung der Seelenheilstätte.

Die junge Frau, die sich Ashexee Krasnajal nannte , zeigte sich freundlich und geduldig, ihr Schicksal, die verlorene Erinnerung scheinbar gelassen hinnehmend, und zeigte zudem reges Interesse und sichtliches Mitgefühl mit den anderen Kranken hier. Auch die Schwestern mochten sie, die oft ein schiefes Lächeln aufsetzte und unbewusst Haarsträhnen um die Finger ihrer Rechten wickelte.

Eine Untersuchung hatte gezeigt, dass sie etwa 20 Jahre alt und körperlich völlig in Ordnung war, sogar sehr fit. Dem Alter nach hätte sie am Ende ihres Wehrdienstes sein müssen. Eine Anfrage bei der Legion und dem Zentralregister der Schwesternschaft in der Hauptstadt Targomua lief noch. In Telvenkeskua selbst war jedenfalls keine Krasnajal, Ashexee gemeldet, selbst der Familienname Krasnajal war unbekannt.

Sie fuhr sich durch die verschwitzte dunkle Mähne und kletterte aus dem Bett. Der lederbespannte Steinboden war kühl. Sie genoß das Gefühl an ihren bloßen Füßen. An diesem Ort war es auch in der Nacht sehr warm. Es war Sommer, der hier sehr heiß werden sollte, hatte es geheißen. Sie sog alle Informationen gierig auf, die ihre Mitmenschen ihr, meist beiläufig, vorsetzten. Merkwürdigerweise konnte sie auch fenlorisch lesen, und Tag für Tag arbeitete sie sich durch die Werke der kleinen Bücherei des Hauses, nachdem sie zunächst die bunten Zeitschriften im Aufenthaltsraum verschlungen hatte.

Entschlossen war sie, diese Ashexee Krasnajal, das hatten Heilmagas und Schwestern ebenfalls schon festgestellt. Sie wusste nichts mehr über ihre Welt, ihre Heimat Fenlora? Sie würde es lernen, so schnell wie möglich.

Die Damen Magas in ihren gelben Kleidern und den eleganten Overkneestiefeln gleicher Farbe hatten Ashexee versichert, ein gut gewirkter Zauber könne ihre Erinnerung wecken, alles zurückbringen, was sie verloren. Irgendwie hatte Ashexee ihnen nicht geglaubt, gewusst, das nichts Gutes daraus erwachsen würde. Tatsächlich hatte der Zauber ihre Erinnerung nicht zurückgebracht, aber stattdessen die Albträume erweckt, die sie nun Nacht für Nacht quälten. Die Heilmagas machten nachdenkliche, gewichtige Mienen und nickten wissend.

Ashexee aber wusste, das die Damen gar nichts wussten. Die Heilkunde, die Magie, die jede hier so selbstverständlich nahm, konnte ihr nicht helfen.

Die blasse Dunkelhaarige schlüpfte in weiche Amshaunterwäsche und zog eine knappe, leichte Tunika in blau darüber. Die Farbe blau gefiel ihr irgendwie. Die Farbe der Frau, im Gegensatz zum Rot des Mannes, so sagte die Schwester, die ihr beim Auswählen der Kleidung geholfen hatte. Sie nahm die flachen, leichten Stoffschuhe, Tamis genannt, zur Hand und zog sie über die Füsse. Ashexee verspürte Hunger, sie schien immer Hunger zu haben. Schneller Stoffwechsel, hatte eine andere Schwester, ein mütterlicher, fülliger Typ, dazu gemeint. Was war ein Stoffwechsel? Sie hatte es nachgelesen, wie so vieles. Aber es gab noch soviel mehr zu wissen.

Sie verließ leise das Zimmer und glitt lautlos auf den Gang. Magisches Licht erhellte diesen, aus Lampen unter der Decke. Solche Dinge, die Zauber gespeichert hielten, die jeder Mensch, auch Nichtzauberer, auslösen konnten, nannte frau Artefakte. Die selbstverständliche Art mit den geheimnisvollen Kräften der Magie umzugehen, erfüllte Ashexee mit Unbehagen, ohne den Grund dafür zu kennen.

Weiter hinten im Gang wischte ein schmächtiger Mann in kurzer gelber Tunika den Boden. Ein Sklave des Heilungshauses. Noch so eine Sache, die sie mit Unbehagen erfüllte, sich irgendwie falsch anfühlte, sehr falsch. Alle Männer in Fenlora, diesem Land hier, waren Sklaven, rechtlos, zum Arbeiten und Lust spenden geboren oder gezähmt. Nur Frauen waren frei. Anderswo sollte es Länder geben, wo die Männer herrschten und die Frauen versklavten. Fenlora lag mit diesen Männerländern, Phallokratien genannt, in unversöhnlichem Krieg, angeblich seit Anbeginn der Zeit.

Ashexee näherte sich dem Sklaven, der sie nicht kommen hörte. Lautlos wie ein Raptor, auch das hatte jefrau hier über sie gesagt.

„Hallo.“

Überrascht sah der junge Mann auf. Kurz glitt sein Blick über ihre langen, blossen Beine, hinauf zu ihrem Busen, bis zu ihrem Gesicht. Leichte Röte überzog seine Wangen und er senkte hastig den Blick, neigte tief den Kopf.

„Herrin?“

„Du bist Arl, nicht wahr? Wie geht es Dir?“

„Ahh, der Sklave freut sich, dass Herrin seinen Namen behalten hat. Arl geht es gut, Herrin.“

„Steh doch auf, wenn Du mit mir redest.“

„Uh, wie Herrin befehlen.“

„Meinst Du, ich bekomme in der Kantine noch etwas zu Essen?“

„Da fragt die Schwestern im Wachzimmer, Herrin.“

Ashexee spürte, dass der junge Kerl sich unbehaglich fühlte. Wut stieg in ihr hoch. Sklaverei war falsch, böse. Ein Mensch war frei. Nur weil er ein Mann war… sie rief sich zur Ordnung. Ihr Gesicht hatte sich verfinstert, und Arl schrumpfte unter ihrem Blick, Angst in den Augen.

Sie lächelte schief und berührte ihn leicht am Arm.

„Es ist gut, danke.“

Sie wandte sich ab und ging in die andere Richtung zum Wachzimmer der Schwestern. Hinter ihr begann Arl wieder den Boden zu putzen.

Wenn sie etwas gegessen hatte, wollte sie noch etwas lesen, drüben, im Aufenthaltsraum. Ein Geschichtsbuch, über den Genderkrieg. Warum hassten sich Männer und Frauen hier nur so?

Die Kopfschmerzen kehrten zurück. Kleine, fallende Splitter in der Finsternis. Sie schloss die Augen und verhielt im Schritt. Plötzlich hörte sie den Sklaven atmen, roch sein Gemächt, das sich wegen ihr geregt hatte, sein Herz klopfte, schnell und hart. Er war über 12 Schritte entfernt.

Sie blinzelte. Die sensorischen Eindrücke vergingen, wie sie gekommen waren. Nach außen zeigte sie Geduld, Annehmen des eigenen Schicksals. Es schien ihr schlicht richtig zu sein. Doch wer war sie? WAS war sie?

Jikaila, Die Splitter der Erinnerung I

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