Читать книгу Über die Textgeschichte des Römerbriefs - Alexander Goldmann - Страница 10
2.1.2. Die 14-Briefe-Sammlung
ОглавлениеDer zweite ‚Fixpunkt‘ im Rahmen der Entstehungsgeschichte des Corpus Paulinum ist die 14-Briefe-Sammlung. Sie beinhaltet all jene 14 Texte, die auch in den heute gängigen Ausgaben des Neuen Testaments als Paulusbriefe erscheinen. Zusätzlich zu den aus der 10-Briefe-Sammlung bekannten Texten enthält sie also noch die Pastoralbriefe und den Hebräerbrief.
Ihr terminus ad quem lässt sich schwerer bestimmen als der der 10-Briefe-Sammlung. Einzelne Bezugnahmen auf Paulusbriefe bzw. allgemein eine Sammlung von Paulusbriefen1 finden sich zwar bereits im zweiten Petrusbrief (2 Petr 3,15f)2, bei Polykarp von Smyrna (Polyk 3,2)3 und in den Ignatiusbriefen (IgnEph 12,2)4. Diese sind allerdings zu fragmentarisch, um daraus valide Rückschlüsse zu ziehen, dass hier bereits eine Briefsammlung im Hintergrund steht, bzw. welche konkrete Gestalt und welchen Umfang eine solche hatte.5
Tatsächlich kann das Vorhandensein der 14-Briefe-Sammlung erstmals für Irenäus wahrscheinlich gemacht werden. Dieser liefert zwar keine expliziten Hinweise über den Umfang der Sammlung (beispielsweise in Form einer konkreten Auflistung), allerdings zitiert er aus (fast) allen heute bekannten Paulusbriefen. Die meisten der Briefe bezeugt Irenäus sogar namentlich – ein deutliches Indiz dafür, dass er eine entsprechende Briefsammlung vorliegen hatte.6 Einzig der Philemonbrief findet in Irenäus’ Texten keine Erwähnung, was freilich aufgrund seines knappen Umfangs und seiner geringen theologischen Bedeutung nicht allzu überraschend anmutet. Darüber hinaus wird auch aus dem Hebräerbrief nicht explizit zitiert. Allerdings finden sich diverse Anspielungen auf dessen Inhalt, sodass in der Forschung davon ausgegangen wird, dass Irenäus davon Kenntnis besaß und er ihn als Teil des Corpus Paulinum verstand.7 Somit ist es folgerichtig, Irenäus als ersten Zeugen der 14-Briefe-Sammlung anzusehen. Der terminus ad quem kann also gegen Ende des 2. Jahrhunderts datiert werden.8
Den nächsten, klaren Beleg für die Existenz der 14-Briefe-Sammlung liefert Origenes in seinen Predigten zum Buch Josua. Zwar ist der Text heute nur noch durch die lateinische Übersetzung des Rufin bezeugt, doch konnten etwaige Zweifel an der Zuverlässigkeit der Übersetzung9 zuletzt plausibel widerlegt werden.10 Das verlorene griechische Original, das der lateinischen Übersetzung zugrunde liegt, wird um 250 datiert.11 Der Text lautet wie folgt:12
Zuletzt folgt jener, der sagt: „Ich glaube aber, Gott hat uns Apostel als die letzten hingestellt“ [1 Kor 4,9] und mit dem Schall seiner vierzehn Trompeten in Gestalt seiner Briefe warf er die Mauern Jerichos bis in ihre Grundfesten nieder und alle Werke des Götzendienstes und alle Lehren der Philosophen. | Novissimus autem ille veniens, qui dixit: ‚Puto autem, nos Deus apostolos novissimos ostendit‘ et in quatuordecim epistolarum suarum fulminans tubis muros Hiericho et omnes idolatriae machinas et philosophorum dogmata usque ad fundamenta deiecit. | |
Orig. Hom. Jos. 7,1
Origenes predigt hier über den Fall Jerichos und vergleicht in diesem Zuge die Briefe des Paulus mit 14 Trompeten, welche die Mauern der Stadt zum Einsturz gebracht haben – ein deutlicher Rekurs auf die 14-Briefe-Sammlung. Darüber hinaus zitiert Origenes in seinen umfangreichen Werken häufig aus allen (14) Paulusbriefen. Sogar der Philemonbrief als auch der Hebräerbrief machen hier keine Ausnahme. Mit ziemlicher Sicherheit kann man also davon ausgehen, dass Origenes die 14-Briefe-Sammlung des Paulus nicht nur kannte, sondern er ihr auch eine überaus hohe Autorität zumaß.
Auch Eusebius’ Aussage in Hist. Eccl. 3,3,513 belegt in wünschenswerter Deutlichkeit die Kenntnis der 14-Briefe-Sammlung:
Die offenkundigen und eindeutigen [Briefe] des Paulus sind vierzehn. | τοῦ δὲ Παύλου πρόδηλοι καὶ σαφεῖς αἱ δεκατέσσαρες. | |
Euseb. Hist. Eccl. 3,3,5
Spätere Belege für die Konstanz der Sammlung liefern beispielsweise Kyrill von Jerusalem (um 350)14 und Athanasios von Alexandria (367)15. Letzterer bezeugt in seiner Kanonliste die gleiche Reihenfolge der 14 Briefe (Rm, 1/2 Kor, Gal, Eph, Phil, Kol, 1/2 Thess, Hebr, 1/2 Tim, Tit, Phlm), wie sie auch in den drei ältesten Vollbibeln des 4. Jahrhunderts – Codex Sinaiticus (ℵ), Codex Alexandrinus (A) und Codex Vaticanus (B) – auftaucht.16
Neben der oben angeführten Einmütigkeit der Kirchenväterzitate bzw. der Kanonlisten17 stellen letztlich die neutestamentlichen Handschriften selbst ein gewichtiges Argument für die Existenz der 14-Briefe-Sammlung dar, da die übergroße Mehrheit der ältesten dieser Handschriften18 in Umfang und Reihenfolge der Paulusbriefe exakt übereinstimmen. Eine Ausnahmeerscheinung stellt in gewisser Weise P46 dar. Der Papyruskodex ist das älteste19 handschriftliche Zeugnis einer Sammlung von Paulusbriefen. Damit spielt er in jeder der unterschiedlichen Theorien zur Genese des Corpus Paulinum eine zentrale Rolle. Zwei Besonderheiten sind auffällig: das scheinbare Fehlen der Pastoralbriefe und die Stellung des Hebräerbriefes. Auf beide Phänomene soll hier kurz eingegangen werden.
Die Annahme, dass die Pastoralbriefe in P46 fehlten, gründet sich auf der Beobachtung, dass der Text des (einlagigen) Kodex bei 1 Thess 5,28 abbricht. Die letzten Seiten fehlen also. Ob diese fehlenden Seiten ausreichten, um neben 2 Thess und Phlm auch Platz für die drei Pastoralbriefe zu bieten, ist in der Forschung strittig bzw. wird letztlich offen gelassen.20 Allerdings konnte DUFF zuletzt aufzeigen, dass P46 mit einiger Wahrscheinlichkeit tatsächlich alle kanonischen Paulusbriefe beinhaltete (oder beinhalten sollte) – auch die Pastoralbriefe.21
Die zweite Besonderheit betrifft den Hebräerbrief. In den meisten bekannten Manuskripten findet er sich entweder zwischen den Gemeindebriefen und denen an Einzelpersonen (konkret dann also zwischen 2 Thess und 1 Tim)22 oder aber ganz am Ende der Sammlung (also nach Phlm).23 In P46 taucht er dagegen bereits an zweiter Position (also zwischen Rm und 1 Kor) auf – eine Stellung, die sich sonst nirgends wiederfinden lässt. Diese variierende Stellung des Hebräerbriefes24 deutet darauf hin, dass der Text gleichsam eine Sonderstellung innerhalb des Corpus Paulinum einnimmt. Denn für keinen der anderen 13 Briefe lässt sich ein ähnlicher Befund ausmachen. TROBISCH erklärt daher den Hebr als einen späteren (sekundären) Anhang.25 Unstrittig ist, dass die Authentizität des Hebräerbriefes bereits früh in Frage gestellt wurde. Dies belegen die zahlreichen patristischen Diskurse über den Hebräerbrief.26 Allerdings muss die Infragestellung der paulinischen Verfasserschaft nicht zwingend auf die Existenz einer Vorstufe der 14-Briefe-Sammlung hindeuten, die ohne den Hebr auskam.27
Fazit: Im 2. Jh. existieren also (mindestens) zwei Sammlungen von Paulusbriefen. Es sind die beiden frühesten Fixpunkte, auf die sich die Forschung mit hinreichender Sicherheit berufen kann: die 10-Briefe-Sammlung und die 14-Briefe-Sammlung.28 Einigkeit besteht darin, dass diese beiden Textsammlungen in einem literarischen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen. Unklar bleibt zunächst jedoch, wie dieses literarische Abhängigkeitsverhältnis tatsächlich aussieht. Diese Frage spielte in der bisherigen Forschungsgeschichte jedoch nur eine marginale Rolle. Denn im Kontext der Forschungen zu Marcion und seinen Texten wurde der Fokus vornehmlich auf das Verhältnis des durch Marcion bezeugten Evangeliums und des kanonischen Lukasevangeliums gelegt.29 Die dabei entwickelten drei möglichen Optionen lassen sich allerdings unschwer auf die Frage nach dem literarischen Abhängigkeitsverhältnis der beiden Briefsammlungen zueinander übertragen (Übersicht 1):
A1 | Die 10-Briefe-Sammlung stellt eine redaktionelle Bearbeitung (in erster Linie eine Verkürzung) der 14-Briefe-Sammlung dar. In der Evangelienforschung ist diese Annahme als Patristic-Hypothesis bzw. (in Anlehnung an ihre wirkmächtigsten Verfechter) als Zahn/Harnack-Hypothese bekannt.30 |
A2 | Die 14-Briefe-Sammlung stellt eine redaktionelle Bearbeitung (in erster Linie eine Erweiterung) der 10-Briefe-Sammlung dar. Diese Option wird in der Frage nach dem redaktionellen Verhältnis des durch Marcion bezeugten Evangeliums und des kanonischen Lukasevangeliums als Schwegler-Hypothese bezeichnet.31 |
A3 | Beide Sammlungen gehen auf eine gemeinsame Vorlage zurück, die unabhängig voneinander und in ganz unterschiedlicher Weise redaktionell bearbeitet wurde. Die Evangelienforschung kennt diese Möglichkeit als Semler-Hypothese.32 |
Übersicht 1: Möglichkeiten des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen 10- und 14-Briefe-Sammlung