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3.2.2. Die Capitula Regalia

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Neben dem amiatinischen Kapitelverzeichnis ist für die vorliegende Studie eine weitere Kapitelreihe in den Fokus der Untersuchung gerückt, welche (im Gegensatz zur KA A) in der neutestamentlichen Wissenschaft bisher weitgehend ignoriert wurde. Die besagte Kapitelliste ist heute nur noch in einem einzigen Manuskript zu finden. Diese Handschrift ist ein Doppelkodex, der Teil der königlichen Handschriftensammlung der British Library ist und die Signatur Royal MS 1 E VIII trägt.1 Im Weiteren soll er daher als „Codex Regalis“ bezeichnet werden, die Kapitellisten als „Capitula Regalia“ (KA Reg).2

Das Manuskript stammt wohl aus der Mitte des 10. Jahrhunderts3 und gilt neben dem Codex Amiatinus als die einzige noch vorhandene vollständige Bibelausgabe, die vor der Normannischen Eroberung 1066 in England entstanden ist.4 Neben dem Text des Alten und des Neuen Testaments bieten die beiden Bände des Doppelkodex sowohl Kapitelverzeichnisse als auch Prologe zu den entsprechenden biblischen Büchern. Die folgende Abbildung 3 zeigt die komplette Kapitelreihe zum Römerbrief:5

Abb. 3:

KA Rm Reg

Bei näherer Analyse des Kapitelverzeichnisses werden im Vergleich mit der KA Rm A folgende Besonderheiten deutlich:

Die KA Rm Reg umfasst deutlich weniger Sektionen, genau genommen nur 29. Diese sind relativ gleichmäßig innerhalb des Bezugstextes verteilt. Erst im letzten Drittel des Römerbriefes weisen die Capitula XIX, XXIII, XXIIII, XXV und XXVIII jeweils größere Abstände zu den nachfolgenden Sektionszahlen auf.

Die einzelnen Capitula der KA Rm Reg beinhalten im Vergleich zum Text der KA Rm A stets einen sehr ähnlichen, in der Regel mehr oder weniger kürzeren Text. 27 der 29 Sektionen der Capitula Regalia sind auch in den amiatinischen Capitula enthalten. Teilweise bieten die KA Rm Reg einen identischen Wortlaut, teilweise unterscheiden sie sich nur durch das Fehlen einzelner Worte, teilweise fehlen allerdings auch ganze Wortgruppen. In vielen Fällen, in denen die Capitula Amiatina auf mehrere Stellen innerhalb eines Abschnitts Bezug nehmen,6 berühren die KA Rm Reg fast immer nur einen einzelnen Vers. Ausnahmen sind die Capitula VI und LI der amiatinischen Kapitelreihe. Diese teilen sich in KA Rm Reg jeweils auf zwei aufeinander folgende Sektionen auf (III und IIII sowie XXVI und XXVII). Am folgenden Beispiel der Sektion VIII der KA Rm Reg lässt sich das eben Beschriebene veranschaulichen. Der Text des Capitulum liest sich wie folgt:

Über das Rühmen der Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes (5,2).
De gloriatione spei gloriae dei.

KA Rm Reg Sektion VIII

Das entsprechende Capitulum XI der KA Rm A wurde bereits zuvor zitiert – allerdings in einem anderen Zusammenhang. Es lautet folgendermaßen:

Über das Rühmen der Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes (5,2) und in gleicher Weise das Rühmen der Bedrängnis (5,3).
De gloriatione spei gloriae dei pariter gloriatione tribulationis.

KA Rm A Sektion XI

Man erkennt unschwer einerseits die wörtliche Übereinstimmung der beiden Sektionen, andererseits die zusätzliche Bezugnahme auf einen weiteren Vers durch den Text der KA Rm A.

Eine weitere bemerkenswerte Besonderheit der KA Rm Reg zeigt sich bei der genauen Untersuchung der Sektionszahlen des Verzeichnisses. Auf den ersten Blick scheinen diese sehr wirr in den Bezugstext gesetzt zu sein. So finden sie sich oftmals an Stellen, in denen der Bezugstext etwas ganz anderes liest, als es die Sektionen der Kapitelreihe nahelegen.7 Am eben zitierten Beispiel des Capitulum VIII lässt sich dies exemplarisch verdeutlichen.

Wie bereits oben gezeigt, bezieht sich der Text der Sektion auf Rm 5,2. An der besagten Stelle im tatsächlichen Bezugstext sucht man die Sektionszahl VIII allerdings vergeblich. Stattdessen findet sie sich ein ganzes Stück weiter vorn verzeichnet, nämlich bereits bei Rm 4,9, obwohl dort thematisch von etwas ganz anderem die Rede ist. Dieses Phänomen tritt bei etwa der Hälfte aller Sektionen der KA Rm Reg auf.8 Doch wie kommt diese Besonderheit zustande, wie ist sie zu erklären?

Zunächst einmal macht es deutlich, dass der Schreiber im Prozess des Abschreibens des Bezugstextes keinen Blick auf die vorangehende Kapitelliste wirft – ansonsten wäre ihm vermutlich aufgefallen, dass etwa die Hälfte der Capitula gar nicht mit den Stellen korrespondieren, an denen die Sektionszahlen im Bezugstext gesetzt sind.9 Analysiert man auch die anderen, bisher bekannten lateinischen Kapitelverzeichnisse für den Römerbrief, so eröffnet sich m.E. eine plausible Erklärungsmöglichkeit für den beschriebenen Befund. Konkret ziehe ich dafür das Kapitelverzeichnis der Bamberger Alkuin-Bibel10 (B → VgO bzw. ΦV → VgS) heran, einer karolingischen Minuskel, die um 840 in Tours, entweder im Kloster St. Martin11 oder Marmoutier12 entstanden ist. Zunächst fällt auf, dass das Kapitelverzeichnis zum Römerbrief der Alkuin-Bibel (KA Rm B) genau 30 Sektionen aufweist. Es stellt damit die einzige der bekannten lateinischen Kapitelreihen dar, die eine der KA Rm Reg ähnliche Anzahl an Sektionen aufweist. Ein genauer Vergleich der Positionen der Sektionszahlen in den beiden Bezugstexten zeigt nun, dass diese im Bezugstext der KA Rm Reg (bis auf zwei Ausnahmen) genau an denjenigen Stellen auftauchen, an denen sich auch die Sektionszahlen des Kapitelverzeichnisses zum Römerbrief der Alkuin-Bibel (KA Rm B) befinden.13 Anders als die Sektionszahlen der KA Rm Reg sind sie in der Alkuin-Bibel jedoch ausnahmslos an den „richtigen“ Stellen verzeichnet, also an denjenigen Textstellen, welche die einzelnen Capitula tatsächlich auch zusammenfassen. Da der Text der einzelnen Sektionen der Kapitelliste der Alkuin-Bibel dagegen keinerlei wörtliche bzw. inhaltliche Übereinstimmungen mit denen der KA Rm Reg (und somit auch der KA Rm A) aufweist, wird deutlich, dass die beiden Kapitelreihen grundsätzlich unabhängig voneinander sind. Die parallele Setzung der Sektionszahlen muss daher – wie bereits zuvor angedeutet – auf den Abschreibeprozess des Bezugstextes zurückzuführen sein. Hierbei wurden die in der Vorlage befindlichen Sektionszahlen einfach an genau den gleichen Stellen übernommen, ohne allerdings zu bemerken, dass das Kapitelverzeichnis, welches sich vor dem Text befindet, in vielen Fällen gar nicht zu den im Text selbst gekennzeichneten Abschnitten passt.

Diese Erklärung belegt, dass eine Kapitelliste unabhängig von ihrem tatsächlichen Bezugstext auszuwerten ist, da sie in einigen Fällen nachweislich auf verschiedene Vorlagen zurückgehen und damit verschiedene Textzustände bezeugen. So zeigt die Stellung der Sektionszahlen im Römerbrieftext des Codex Regalis, dass dieser auf eine Handschrift zurückgehen muss, der ein anderes Kapitelsystem vorangestellt war (nämlich KA Rm B). Wie an späterer Stelle der vorliegenden Arbeit ausführlich gezeigt wird, verweist dagegen KA Rm Reg ursprünglich auf einen ganz anderen Text bzw. eine andere Textsammlung. Bezugstext und Kapitelliste sind also inkongruent. Gleiches wird nachfolgend auch für die Kapitelliste des Codex Amiatinus ausführlich plausibilisiert werden. Zuvor jedoch ist es nun an der Zeit, das Verwandtschaftsverhältnis der KA Rm Reg und der KA Rm A zu erörtern. Denn wie bereits deutlich wurde, sind sich die beiden Kapitellisten durchaus sehr ähnlich. Allerdings sollte man sie keinesfalls gleichsetzen, wie das älteste Werk der neutestamentlichen Forschung aus der Feder des Benediktinermönches Donatien de BRUYNE suggeriert.14 Möglicherweise ist diese Gleichsetzung auch die Ursache für die bisherige wissenschaftliche Vernachlässigung der Capitula Regalia.

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