Читать книгу Über die Textgeschichte des Römerbriefs - Alexander Goldmann - Страница 7

I. Hinführung und Motivation Der Schluss des Römerbriefs – ein unübersichtliches Problemfeld

Оглавление

„In den letzten 60 Jahren hat die Handschriftenkunde, Paläographie und Kunstgeschichte einen großen Aufschwung genommen; die textgeschichtliche Forschung ist demgegenüber etwas zurückgeblieben. Daher können hier weniger fertige Ergebnisse dargeboten werden, als vielmehr ungelöste Fragen und Probleme. Vielleicht locken sie neue Kräfte auf dieses Gebiet, das nur dem Unkundigen oder Anfänger als trockene Wüste erscheint.“1

Diese Einschätzung des ausgewiesenen Experten der Textgeschichte und -kritik des Neuen Testaments und langjährigen Leiters des Beuroner Vetus-Latina-Instituts Bonifatius FISCHER liegt nun schon mehr als drei Jahrzehnte zurück. Seitdem hat die Forschung durchaus wichtige Schritte unternommen und bemerkenswerte Weiterentwicklungen erfahren, doch zweifelsohne sind einige Fragen ungelöst und Probleme offen geblieben. Ein solches Problem birgt der neutestamentliche Römerbrief.

Folgt man dem Urteil der Herausgeber der gängigen kritischen Textausgaben, umfasst der Brief 16 Kapitel. Den Abschluss bildet dabei eine umfangreiche Doxologie. Doch schon ein kurzer Blick in die Apparate lässt erkennen, dass diese beiden Entscheidungen der Textkritiker (der Brief beinhaltet 16 Kapitel und endet mit einer Doxologie) keineswegs auf sicherem Fundament stehen.

Die handschriftliche Überlieferung des umfangreichsten der paulinischen Briefe weist an dessen Ende im Rahmen der Schriften des Neuen Testaments eine beispiellose Vielzahl an Varianten auf. Als unbestrittenes Schwer(st)gewicht der neutestamentlichen Textforschung identifizierte Kurt ALAND bzgl. des Briefschlusses insgesamt vierzehn (!) verschiedene Textformen und beschrieb das daraus resultierende Problem als das „schwierigste (…), welches der neutestamentlichen Textkritik überhaupt gestellt ist.“2 Zu klären ist in erster Linie, welche dieser Textformen den Ausgangspunkt der Überlieferung – den Archetyp – darstellt. Ferner muss danach gefragt werden, wie die verbleibenden bezeugten Textformen entstehen konnten, genauer: wie sie genealogisch miteinander zusammenhängen.

Die genannten Fragen fundieren das Problemfeld der Textgeschichte des Römerbriefschlusses, welches von Donatien de BRUYNE sogar als „das meistdiskutierte und dennoch das undurchsichtigste des gesamten Neuen Testaments“3 bezeichnet wurde. Solch kühne Einschätzungen (Aland, de Bruyne) hinterlassen Spuren und fordern heraus. Sie fordern heraus, das Problemfeld zu betreten. Sie fordern heraus, die herkömmlichen Lösungsmodelle zu durchdenken, dabei aber stets die Augen für neue Wege offenzuhalten.

Zunächst ist zu klären, was das besagte Problemfeld eigentlich bedeutsam macht: Ungeachtet der Notwendigkeit, die einzelnen handschriftlich bezeugten Textformen in einem umfassenden Entstehungsmodell zu integrieren, bleibt der übergeordnete, strittige Punkt, ob der Brief des Paulus an die Römer ursprünglich 16, 15 oder gar nur 14 Kapitel beinhaltete.4 Alle drei Optionen sind im Hinblick auf den handschriftlichen Befund denkbar.5 Würde man das 16. Briefkapitel als sekundäre Interpolation verstehen, hätte das einigermaßen weitreichende Konsequenzen – nicht nur für die historische Paulusforschung. Bedeutsame Informationen hinsichtlich des Abfassungsorts sowie des Briefschreibers würden in neuem Licht erscheinen, ebenso die sozialgeschichtlich wertvollen Details über Struktur und Zusammensetzung der frühen christlichen Gemeinde in Rom. Nicht minder schwer wiegen die Schlüsse, die eine Abtrennung des 15. Kapitels vom ursprünglichen Briefkorpus mit sich brächte; Aussagen über das missionarische Selbstverständnis des Paulus (15,14–21), seine Reisepläne nach Spanien (15,22ff), seine Unruhe vor dem Hintergrund der Kollektenübergabe in Jerusalem (15,25–28.31) sowie die daraus resultierende Motivation des gesamten Schreibens müssten neu bewertet werden. Zu beachten ist außerdem, dass sich in Rm 15 auch der einzige literarische Hinweis innerhalb des Corpus Paulinum befindet, dass die Geldsammlung erfolgreich (d.h. hinreichend ertragreich) war und Paulus sie folglich wirklich in Jerusalem abzuliefern gedachte, wie es der Darstellung der Passionsgeschichte des Paulus in der Apostelgeschichte entspricht. Denn ohne die Kenntnis von Rm 15 wären für den Leser all jene Passagen, in denen in der Apostelgeschichte die Kollekte angedeutet wird, nur schwer verständlich.

Der umfangreiche forschungsgeschichtliche Befund zu der Thematik weist methodisch zwei zu differenzierende Stoßrichtungen auf: Einerseits werden literarkritische, also interne Phänomene in den Blick genommen, andererseits spielt – wie bereits erwähnt – der textkritische Befund (also die externe Bezeugung des Briefes) eine entscheidende Rolle. Um zu einer plausiblen Lösung der genannten Fragen zu gelangen, ist es zweifelsohne geboten, beide Blickrichtungen in angemessener Weise zu berücksichtigen,6 wenngleich der Ausgangspunkt der weiteren Untersuchungen die handschriftliche Bezeugung bleibt.7

Der Blick in die Forschungsgeschichte zur Problematik des Römerbriefschlusses macht deutlich, dass es in jüngerer Zeit immer wieder Versuche gegeben hat, das Problemfeld auf die alleinige Frage nach dem ursprünglichen Briefumfang (14, 15 oder 16 Kapitel) zu reduzieren.8 In diesem Zuge muss DU TOITs Hinweis „to avoid getting bogged down by less important detail“9 deutlich widersprochen werden, denn eine solche Reduktion kann der Komplexität der Materie schlicht nicht ausreichend gerecht werden. Mitnichten handelt es sich bei Varianten innerhalb der handschriftlichen Überlieferung um ‚unbedeutende Details‘. Vielmehr geht die vorliegende Arbeit davon aus, dass das Problem des ursprünglichen Briefumfangs gar nicht unabhängig von der Frage nach dem genealogischen Zusammenhang der einzelnen Textformen geklärt werden kann. Nur eine auf diesem Weg gewonnene Lösung würde auf einem hinreichend tragfähigen Fundament fußen.

Es ist daher unbedingt geboten, alle (!) handschriftlich bezeugten Variationen des Briefschlusses zu berücksichtigen und genealogisch miteinander in Beziehung zu setzen. Bezüglich des Römerbriefschlusses liegen die in diesem Zuge entstandenen Stemmata10 allerdings auch schon einige Jahrzehnte zurück und man muss feststellen, dass in jüngeren Studien in der Regel schlicht auf jene in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelten „Stammbäume“ verwiesen wird11 bzw. diese geringfügig modifiziert übernommen werden.12 Die vorliegende Arbeit setzt sich also zum Ziel, hier eine Neubestimmung zu wagen.

Um den besagten Themenkomplex zu bearbeiten sind zunächst einige Vorüberlegungen notwendig:

1 Das Problem des Schlusses des Römerbriefs kann nicht losgelöst von den restlichen textkritischen Schwierigkeiten des Briefes bearbeitet werden.13 Insbesondere der Grundansatz des Instituts für neutestamentliche Textforschung in Münster (INTF) ist noch immer stark von der von Kurt ALAND als lokal-genealogische Methode bezeichneten Vorgehensweise14 geprägt, jede Stelle, an der Varianten in der handschriftlichen Überlieferung auftreten, einzeln auszuwerten und zu beurteilen.15 Diese Herangehensweise läuft Gefahr aus den Augen zu verlieren, dass die Phänomene zueinander in Verbindung stehen könnten.16 Darüber hinaus impliziert sie eine grundsätzliche Gleichartigkeit der einzelnen Varianten, d.h. es wird nicht unterschieden, um welche Arten von Textveränderungen es sich handelt.17 So rechnet die aktuelle Erweiterung der LGM, die sog. kohärenzbasierte genealogische Methode (CBGM)18, weiterhin v. a. mit zufälligen, nicht-intentionalen Veränderungen durch einzelne Schreiber, die völlig unabhängig voneinander geschehen. Dies mag für kleinere Varianten (mit denen es die Textkritik mehrheitlich ja auch zu tun hat) noch anwendbar erscheinen, aber bei solch umfangreichen Abschnitten, wie sie am Schluss des Römerbriefes fehlen (Kap 15f bzw. Kap 16) oder in ihrer Stellung variieren (Doxologie Rm 16,25–27), scheint eine solche Vorstellung und die daraus resultierende Methode nicht übertragbar. Hier ist es dagegen plausibel – pointiert könnte man vielleicht sogar sagen, dass es die textkritische Vernunft gebietet –,19 auch die Möglichkeit von redaktionellen Textveränderungen (also solchen Änderungen, die reflektiert und intentional geschehen)20 zuzulassen.21 Erst dann wird es möglich, bisher unabhängige Phänomene miteinander in Verbindung zu setzen und somit zu überzeugenderen Lösungen zu kommen. Die Arbeit wird deutlich machen, dass das Problem des Römerbriefschlusses nur zufriedenstellend zu lösen ist, wenn man die Textgeschichte des gesamten Briefes in den Blick nimmt, wenn man also die einzelnen Phänomene überlieferungsgeschichtlich miteinander in Beziehung setzt.

2 Die Textgeschichte des Römerbriefes wiederum ist nicht unabhängig von der Textgeschichte des Corpus Paulinum zu ergründen. Denn wie sämtliche paulinischen Briefe ist auch der Römerbrief in allen uns bekannten Zeugnissen und Manuskripten nie als einzelner Brief überliefert, sondern stets als Teil einer Sammlung von Paulusbriefen. Um das Rätsel des Römerbriefes zu entschlüsseln, muss man daher die Genese der Paulusbriefsammlung betrachten.22 Ausgangspunkt der neutestamentlichen Textüberlieferung der Paulusbriefe sind also stets Briefsammlungen23 und nicht die Fassungen der dokumentarischen Paulusbriefe, die möglicherweise im 1. Jh. geschrieben und an die Gemeinden verschickt wurden – Letztere sind schlichtweg unbekannt. Natürlich gehen Briefsammlungen in der Regel auf Autographa (also die ursprünglichen, dokumentarischen Texte) zurück, doch hat TROBISCH ausführlich herausgearbeitet, dass sie in solchen Fällen stets redaktionelle Bearbeitungen erfahren.24

Die Vorstellung, dass es möglich ist, den „ursprünglichen“ Römerbrief zu rekonstruieren, ist aufgrund unserer vorhandenen Zeugnisse sehr kritisch zu betrachten. Doch auch das vordergründige Ziel der CBGM, die Suche nach dem Ausgangstext (initial text), d.h. derjenigen Textform, die den Beginn der Textüberlieferung darstellt,25 ist wiederum insofern problematisch, als die Methode gewissermaßen einen eklektischen Text liefert, der in seiner Gesamtheit mit keinem bekannten Manuskript identisch ist.26 Die Frage, welches Manuskript bzw. welche tatsächlich bezeugte Textform (die wiederum Teil einer konkreten Briefsammlung sein müsste) den Ausgangspunkt (also den Archetyp) der Überlieferung darstellt, darf nicht ignoriert werden. Dazu bemerkt TROBISCH:

„Present editions of the New Testament are so focused on the text line, the initial text, that the larger picture is easily missed.“27

Es geht also um die Frage nach dem textkritischen Ansatz: die historische und textliche Rekonstruktion von Briefsammlungen muss vor der Rekonstruktion der konkreten textkritischen Archetypen der einzelnen Briefe stehen.28 So fordert SCHMID zu Recht:

„The unusual textual tradition of Paul’s letter to the Romans has to be interpreted within the history of the Corpus Paulinum as a collection.“29

In diesen einleitenden Überlegungen kamen drei Einsichten zur Sprache, die das Problemfeld der vorliegenden Studie fundieren:

1 Die bisherige methodische Herangehensweise und Zielstellung der textkritischen Arbeit greift zu kurz. Ein synthetisch hergestellter, eklektischer Ausgangstext, auf den alle anderen Textformen zurückgehen sollen, kann – losgelöst von jeglichen überlieferungsgeschichtlichen Aspekten – kaum historische Plausibilität beanspruchen.

2 Der methodische Ansatz der CBGM, in der Regel hauptsächlich von zufälligen und voneinander unabhängigen Eingriffen in die Texte auszugehen, um die Entstehung einer solchen Vielzahl an Textvarianten zu erklären, die das Neue Testament bietet, genügt nicht. Die Anbindung der Textgeschichte an ein historisch plausibles, überlieferungsgeschichtliches Modell bleibt unumgänglich und muss v. a. klar benannt werden. Tatsächlich wird auch die Methodik der CBGM von impliziten, überlieferungsgeschichtlichen Grundannahmen getragen.30 Da diese aber mit einiger Wahrscheinlichkeit z.B. für die Offenbarung31 wie auch für die Evangelien32 nicht zutreffen, kann dies zu falschen Entscheidungen führen33 und erfordert zumindest eine Modifikation des zugrunde liegenden Überlieferungsmodells.34

3 Weiterhin wurde deutlich, dass nicht der historische Römerbrief (also das Autographon) rekonstruiert werden kann, sondern der Römerbrief als Teil einer Schriftensammlung, nämlich des Corpus Paulinum, also einer Sammlung35 von Paulusbriefen. Die verfügbaren Handschriften bezeugen allesamt eine Sammlung von Texten (bzw. Teile davon), niemals aber nur einen einzelnen Brief. In seiner jüngsten Studie fordert FLEMMING daher zu Recht:

„Neutestamentliche Textkritik sollte demnach als Editionskritik stattfinden, d.h. stets die Existenz verschiedener Ausgaben der biblischen Texte mitdenken. Gerade für die Paulusbriefe ist ein solcher Fokus auf Ausgaben von Texten besonders naheliegend, weil uns diese ausschließlich in Form von Briefsammlungen überliefert sind.“36

Es ergibt sich also die Einsicht, dass die Frage der Textgeschichte des Römerbriefes nur editionsgeschichtlich gelöst werden kann.37 Daher ist zu fragen, ob der Römerbrief im Rahmen der Editionsgeschichte Veränderungen erfahren hat und redaktionell bearbeitet wurde.38 Die vorweggenommene Antwort der vorliegenden Studie lautet: der heute bekannte Römerbrief ist tatsächlich ein umfangreich interpolierter Text. Das methodische Vorgehen, das zu dieser Einsicht führt, wird im Folgenden dargestellt und erklärt.

Über die Textgeschichte des Römerbriefs

Подняться наверх