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E-Commerce: Der Longtail wird länger denn je
ОглавлениеDie Antwort ist: Die Idee ist vielleicht nicht so ganz neu, aber die Umsetzung in diesen Größen war vor E-Commerce nie möglich. Denn der Longtail-Absatz ist auch in der Musikbranche schon lange praktiziert worden: Während Walmart als nicht-spezialisierter Anbieter knallhart die Musik aussortierte, die sich nicht in der limitierten Verkaufsfläche rentierte, gab es natürlich auf dem US-Markt zahlreiche Läden, die sich auf Musik konzentrierten und Kunden anlockten, die auf der Suche nach älteren oder weniger beliebten Stücken waren. Das Spektrum an solchen Händlern reichte in den 1980er- und 1990er-Jahren von enzyklopädisch sortierten Tower-Records-Stores bis hin zu den kleinen inhabergeführten Läden in den Stadtvierteln, die sich auf bestimmte Musikrichtungen oder Lokales und Unkommerzielles spezialisiert hatten. Gerade solche Läden machten viel Umsatz jenseits des Shorttails.
Nur war ihr „langer Schwanz“ bestenfalls mittellang. Die Begrenzungen, die zu einer Verkürzung des Sortiments führten, waren zahlreich: Allen voran beschnitt natürlich die Wirtschaftlichkeit der Verkaufsfläche das Angebot. Schallplatten, Kassetten, CDs: Musik auf einem Tonträger nimmt Regalmeter ein, und selbst bei der größten Händlerkette sind weder der in Einkaufspassagen verfügbare Platz noch die finanziellen Mittel für Ladenmiete unbegrenzt. Auch schlug eine hohe Kapitalbindung für vom Händler vorfinanzierte Produkte zu Buche. Vor allem Kettenhändler im Musiksegment hatten zudem hohe Personalkosten und oft besonders teure Verkaufsflächen, die sich rentieren mussten.
Kleinere Händler abseits der Einkaufszentren hatten zwar geringere Kosten für Mitarbeiter sowie mietengünstigere Randlagen, stießen aber irgendwann ebenfalls an eine Profitabilitätsgrenze. Was sie allerdings als Ass im Ärmel hatten: Musik, die woanders nicht verfügbar war. Mixtapes von Musikern, die sich unterhalb des kommerziellen Radars bewegten, wurden in den 80ern und 90ern über solche Inhaberläden bezogen. Diese Exklusivität und Rarität hatte aber ebenfalls seine Beschränkungen: Die Künstler mussten über die Mittel verfügen, Ihre Musik aufzunehmen und zu vervielfältigen – sei es auch nur in kleinem Umfang –, und überdies die Ladenbesitzer davon überzeugen, Platz dafür in den Regalen freizuhalten.
Abgesehen von der Breite und Tiefe des Angebots waren sowohl Musikketten als auch lokale Händler räumlich begrenzt: Das letzte Exemplar einer Schallplatte einer vergessenen Rockband aus den 70ern, die in einem Laden in Boston schlummerte, nutzte dem besessenen Fan, der verzweifelt in Seattle nach ihr suchte, reichlich wenig. Und bis dieser Fan es nach Boston schaffte, war die Platte dem Händler ebenfalls ein Klotz am Bein.
Angebot und Nachfrage waren nicht optimal verknüpft. Der Longtail war beschnitten.
Dann kam das Internet – und mit ihm Portale wie Rhapsody, Itunes und Amazon, die Musik verkauften. Plötzlich wurden teure Regalmeter durch günstige Serverkapazität ersetzt, was es den Händlern wiederum erlaubte, alles ins Programm aufzunehmen. Sogar Musiker, die vorher nie eine Möglichkeit hatten, ihre Erzeugnisse auf den Markt zu bringen, konnten ihre Lieder anbieten, und weder Plattenfirmen noch Ladeninhaber konnten sie mehr abweisen. Und in den virtuellen Läden konnte jeder Musikfan jederzeit vorbeischauen, ob aus Boston oder aus Seattle, der Heimatstadt von Rhapsody.
Insofern ist die Erzählung, wie Rhapsody vom Longtail profitiert hat, Teil einer übergeordneten Geschichte: Der große Wandel – vor allem im Bereich der Medieninhalte – von begrenzten, bewachten Produktions- und Verkaufsmöglichkeiten hin zu demokratischen Strukturen, in denen jeder Produzent und Händler werden kann. Für den E-Commerce ist diese Entwicklung entscheidend, denn wer es vielen Erzeugern ermöglicht, ihre Produkte an die Kunden zu bringen, und es vielen Kunden ermöglicht, das zu finden, wonach sie suchen, kann im Promillebereich des Longtails Geld verdienen.
Die Longtail-Entwicklung wurde mit Musikanbieter Rhapsody dokumentiert und bleibt am sichtbarsten im Bereich der medialen Erzeugnisse. Amazon, Itunes oder Netflix haben alle Geschäftsmodelle, die nicht ohne den schleppenden, aber andauernden Verkauf von Millionen nischenspezifischer oder älterer Bücher, Songs und Filme – vor allem in elektronischer Form – auskommen. Ein Großteil dieser Anbieter hat zwischenzeitlich das Geschäftsmodell von Verkaufs- und Handelsmargen allerdings zu nutzungsabhängiger Bezahlung umgestellt, bei denen eine monatliche Gebühr fällig wird. Auch hier profitiert das Modell aber von einem großen Long-Tail-Angebot, das für jeden Geschmack etwas bietet. Das Prinzip ist auch in anderen Produktsegmenten anwendbar, wenn auch nicht in derselben Größenordnung, denn Kleidung oder Einrichtungsgegenstände sind nun einmal Waren, die auch in günstigen Lagerhallen abseits der Großstädte Platz einnehmen und Kapital binden. Zudem prägen in vielen Segmenten immer kürzere Produktlebenszyklen die Sortimente, zum Beispiel im Bereich Home Electronics, in dem auf jede Neuerung dicht die nächste folgt und das Vorgängermodell auf die Resterampe, schlimmstenfalls auf die Müllhalde verbannt. Ungeachtet dessen gilt in allen Bereichen des E-Commerce: Der Verkaufsschlager ist keineswegs tot, aber er ist angeschlagen.
Abbildung 2.3: Umsätze und Gewinne von Stationär-Händlern und Longtail-Händlern im Vergleich
Quelle: in Anlehnung an Chris Anderson, The Long Tail, DTV, 2009, S. 132