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Nicht nur Kühe, sondern Kleinvieh: Longtail-Beschaffung

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Die Verschiebung der Gewichte durch den Longtail wird besonders deutlich, wenn man ihn neben einem klassischen Geschäftsmodell aus dem stationären Handel aufstellt und in drei Stufen unterteilt: Angebot, Umsatz, Gewinn. Mit anderen Worten: Aus der bekannten 80:20-Faustregel wird ein Drei-Drittel-Prinzip.2 Setzen wir einmal voraus, dass im stationären Handel 20 Prozent der angebotenen Artikel 80 Prozent der Verkaufserlöse ausmachen. 80 Prozent der Artikel werfen demnach nur 20 Prozent des Umsatzes ab. Nach Abzug von sämtlichen mit dem Unterhalt einer Verkaufsfläche einhergehenden Kosten steuern diese 80 Prozent sogar zum Gewinn überhaupt nichts bei: Dieser kommt zu 100 Prozent von den 20 Prozent der Artikel, die 80 Prozent der Verkaufserlöse ausmachen. Ein Longtail-Geschäftsmodell im Internet kann komplett anders aussehen:

Das Angebot an Produkten ist zehnmal so groß. Die Verkaufsschlager machen also nicht mehr 20 Prozent, sondern nur noch 2 Prozent des Inventars aus.

Die 80 Prozent der Produkte, die sich weniger gut verkaufen, stellen folglich nur noch 8 Prozent dar.

90 Prozent der Produkte befinden sich im Longtail. Diese steuern ein Viertel des Umsatzes bei.

Ein weiteres Viertel des Umsatzes kommt von der 8-Prozent-Tranche des Angebots.

Eine Hälfte des Umsatzes wird durch die 2 Prozent der Verkaufsschlager generiert.

Der Gewinn speist sich aber jeweils zu einem Drittel aus jedem der Angebotssegmente.

Interessante Aspekte lassen sich aus diesen Modellrechnungen herleiten. Erstens: In einem Laden in einer durchschnittlichen Einkaufsstraße werden gut vier Fünftel des Angebots nicht gewinnbringend verkauft. Zugleich ist ihre Anwesenheit notwendig, damit Kunden vom Angebot angesprochen werden und ins Geschäft kommen – um dann bei dem Fünftel der Produkte zuzugreifen, die Gewinn abwerfen.

Bemerkenswert ist aber, dass der Kassenschlager im Longtail-Modell für den Umsatz noch wichtiger ist: Aus den oberen 2 Prozent wird eine volle Hälfte der Verkaufserlöse generiert. Erst in der dritten Stufe, beim Gewinn, relativiert sich diese Verschiebung wieder: Hier trägt jedes Angebotssegment ein Drittel der Gewinne bei. Im Umkehrschluss muss dieser Unterschied an den Kosten liegen. In einem Inventar, das nur aus virtuellen Produkten besteht – wie etwa bei einem Musikdownload-Anbieter –, liegen die Lagerungskosten pro Produkt unterhalb der Wahrnehmbarkeitsschwelle. Ladenmiete wird durch günstigen Speicherplatz ersetzt. Personalkosten sind eine zu vernachlässigende Größe. Insofern ist es unwesentlich, welches Produkt zu welcher Marge genau verkauft wird. Da ist es sogar akzeptabel, wenn die verkaufsträchtigen Produkte, die 50 Prozent der Umsätze beisteuern, stark rabattiert sind und letztendlich nur 33 Prozent des Gewinns verantworten. Man kann Kühe melken und die Milch zu Kampfpreisen verschleudern, solange genügend Kleinvieh noch Mist macht.

Damit diese Longtail-Rechnung aufgeht, müssen also so viele Produkte wie möglich angeboten und den Kunden zugänglich gemacht werden – unterstützt durch einfache Filtermöglichkeiten, damit die große Auswahl nicht zum „Paradox of Choice“ führt.

Das Prinzip heißt: Make everything available – alles zur Verfügung stellen. Die Beschaffung ist also oberste Pflicht. Wer beim Einkauf noch das Wort „oder“ benutzt, hat dieses Prinzip nicht verstanden, denn „oder“ gehört durch „und“ ersetzt. Selbst im kostengünstigen E-Commerce-Umfeld kann aber eine immer breitere Produktauswahl in der Beschaffung teuer werden. Damit Longtail aufgeht, muss der Bestand kostengünstig gelagert werden können. Hier reicht die Skala von elektronischen Musikarchiven, für die nur Kosten für Speicherplatz anfällt, bis zu Rasenmähern mit Benzinmotor, die mehrere Kubikmeter einnehmen und deren Zustand sich allmählich verschlechtert. Das Prinzip bei allem ist aber: Das Inventar muss entweder mehr oder weniger zum Nulltarif selbst gepflegt werden können – oder kostengünstig ausgelagert werden.

Hier macht es Amazon vor: Im Vergleich zu klassischen Longtail-Händlern wie Itunes oder Rhapsody, die nur Digitales verkaufen, will Amazon bekanntermaßen jedem im Netz wirklich alles anbieten – und braucht dafür in der physischen Welt eben viel Lagerraum. Dieser wird abseits der Großstädte in wirtschaftlich schwächeren Gebieten angesiedelt, wo die Mieten günstig sind, wo sich Bürgermeister über den Neuankömmling freuen und Genehmigungsverfahren wohlwollend begleiten und wo sich Arbeitskräfte finden, die bereit sind, am unteren Ende der Gehaltsskala zu arbeiten.

Allerdings lassen sich auch durch abseitige Standorte und schwache Arbeitsmärkte nur bis zu einer gewissen Grenze Kosten einsparen; vor allem in Deutschland, wo Amazon durch auf breiten gesellschaftlichen Konsens treffende Streiks lernen musste, dass das Wort „sozial“ nicht gänzlich aus dem Begriff „Marktwirtschaft“ verschwunden ist. Amazon kann es sich aber schon leisten, seiner Belegschaft höhere Löhne zu bezahlen und sie weniger zu drangsalieren und gleichzeitig sein Sortiment immer breiter und immer tiefer aufzustellen.

Denn neben den Produkten, mit denen Amazon selbst handelt, werden auch Waren dritter Händler über den Amazon-Marktplatz vermittelt. So zementiert Amazon seine Stellung als Laden, der ohne Ausnahme jedem alles anbietet: Auch Produkte, die man selbst nicht vorfinanziert und auf Lager hat, können im Online-Shop gesucht, gefunden und gekauft werden. Dafür kassiert Amazon eine Provision von bis zu 20 Prozent – und lagert die Probleme der Kapitalbindung und des Lagerns an die Händler aus.

Andere Online-Händler haben ebenfalls diesen Kniff zur kostenfreien Sortimentserweiterung entdeckt. Beim Otto-Versand zum Beispiel liegt nicht jedes Produkt, das auf otto.de zu finden und zu kaufen ist, beim Verkäufer Otto auf Lager. Über das sogenannte Dropshipping wird die abgegebene Bestellung direkt an den Hersteller oder Distributor des gekauften Artikels weitergeleitet. Dieser beliefert den Kunden dann direkt: Otto nimmt seine Marge und spart Lagerkosten. Je nach Vertrag mit dem individuellen Produkthersteller oder Distributor entstehen für den Versand auch keine Kapitalbindungskosten: Hier können nur Anbieter von bewährten Verkaufsschlagern den Online-Händler zur Vorfinanzierung zwingen. Doch die gesteigerte Auswahl auf Marktplätzen wie Amazon und Otto stellt auch hohe Anforderungen an die Filtermöglichkeiten. So ist es mit zunehmender Sortimentstiefe umso wichtiger, Kunden einen effizienten Weg zu den für sie relevanten Produkten zu bieten. Hier stoßen die „althergebrachten“ Filter inzwischen an ihre Grenzen: Das Verhältnis zwischen relevanten und nicht relevanten Ergebnissen gerät in Schieflage.

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