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6. Kapitel

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Guguljak

»Wo sind wir?«

»Gleich da.«

Hans richtete sich in seinem Sitz auf. Er hatte fest geschlafen und fühlte sich frisch. 10 Uhr. Vor rund zehn Stunden waren sie in Frankfurt losgefahren. Er sah aus dem Seitenfenster, konnte aber kaum etwas erkennen. Es regnete aus tief hängenden Wolken. Willkommen in Kroatien, dem Land der Sonne und Strände. Wasserwirbel und karstige Felder verschmolzen zu einem glänzenden, braun in braunem Postkartenbild, das keiner kaufen würde. Sie waren auf einer Autobahn, ein Schild mit dem Hinweis »Rijeka 150 km« huschte vorbei. Da ging Tonja vom Gas und steuerte eine Ausfahrt an.

»Noch zehn Kilometer.«

Wie durch ein Wunder wurde die Landschaft lieblicher und der Regen ließ nach. Die Landstraße, der sie folgten, schlängelte sich an einem kleinen Fluss entlang.

»Die Kupa, in der habe ich als Kind oft gebadet«, sagte Tonja.

Sanfte grüne Hügel tauchten auf, Weinberge. Hans fühlte sich an Franken und Südbaden erinnert. Auf der Straße waren kaum Fahrzeuge unterwegs.

»Hier ist es aber ruhig«, bemerkte Hans.

»Zu ruhig«, sagte Tonja.

Die Sonne brach durch, das Wasser der Kupa glitzerte. In einer langen Kurve sah Hans hoch auf einem Bergrücken einen schlanken Kirchturm, umkränzt von einem geduckten Häuflein rot gedeckter Häuser.

»Guguljak«, sagte Tonja.

Drei Kilometer weiter schrie sie plötzlich auf: »Oh je, die Warnleuchte!« Sie deutete auf die Anzeige, die im Armaturenbrett glühte.

Hans seufzte. Wahrscheinlich war die Pumpe für das Kühlwasser ausgefallen. Nichts Neues, aber ausgerechnet jetzt! »Fahr sofort rechts ran.«

Tonja brachte das Auto an einer Abzweigung, die bergauf führte, zum Stehen. Praktischerweise war der Jaguar exakt an der richtigen Stelle kollabiert, von hier aus ging es hoch nach Guguljak. Der Wagen köchelte, weißgraue Schwaden drangen durch die Ritzen der Motorhaube.

»So ein Scheiß«, schimpfte Hans beim Aussteigen.

Tonja nahm es leichter. »Ich rufe Vater an, der kann uns abschleppen oder abholen.« Sie zückte ihr Handy.

Hans musterte sein Exil in der Ferne. Ein steiler Schotterweg lag vor ihnen, durchzogen von tiefen Furchen, durch die jetzt das Regenwasser vom Berg herunterschoss.

Tonja packte ihn am Arm. »Tihomir meldet sich nicht. Er spaziert wahrscheinlich durch den Wald, das macht er vormittags gerne. Ich hab es noch bei unserem Nachbarn Mirko versucht, der eine kleine Autowerkstatt in Guguljak hat. Er geht auch nicht ans Telefon, aber ich habe ihm auf die Mailbox gesprochen.«

»Und nun?«, fragte Hans gereizt.

»Wir gehen zu Fuß. Zwei Stündchen und wir sind da.«

Das ließ sich ja gut an, dachte Hans, als er das Hebammenköfferchen mit der Gallé-Vase aus dem Wagen nahm. Sie schoben das röchelnde Auto unter einen Baum am Straßenrand.

Tonja schritt vorneweg, hüpfte locker über die Pfützen und legte ein hohes Tempo vor. Hans kam kaum nach, der handgenähte Rahmen seiner Schuhe sog sich voll mit Nässe. Die Sonne entfaltete ihre Kraft, die Hitze wurde brutal. Der Weg gewann in vielen Spitzkehren an Höhe, unten im Tal glänzte das Band der Kupa wie Metall. Dann wurde es endlich flacher. Zu beiden Seiten erstreckten sich Felder. Dunkle, saftige Erde, aber nur wenige bestellte Flecken. Ein einsamer Trecker hing wie gestrandet in einem Graben.

Mit einer kreisenden Handbewegung sagte Tonja: »Das ist bester Boden, wirklich schade drum. Es gibt in Guguljak kaum noch Landwirte, es lohnt einfach nicht. Vom Weinbau ganz zu schweigen.« Sie wies nach Süden auf die löchrigen Rebhänge. »Keiner hat Lust auf die Plackerei.«

Sie passierten ein Wäldchen. Linker Hand tauchte ein verfallenes Pförtnerhäuschen auf. Dahinter ein zweigeschossiges Gebäude mit vernagelten Fenstern und eine ausgebrannte Halle, die das kaum zu entziffernde Emblem »TK« trug. Das Dach war eingestürzt, ein paar verrußte Betonpfeiler ragten in die Höhe.

In die Totenstille hinein murmelte Tonja: »Das war mal der Stolz von Guguljak – die Tvornica Kotlova, kurz TK. Die Firma baute Heizkessel, hatte Kunden in ganz Jugoslawien. Hier haben die meisten aus Guguljak gearbeitet, auch mein Vater. Was du siehst, sind die traurigen Überreste des Verwaltungsbaus und der Fabrikationshalle.«

»Erzähl!«

»Vor zehn Jahren wurde das Unternehmen privatisiert. Einer aus der alten Nomenklatura in Zagreb griff sich die Firma, verscherbelte ihre Schätze und plünderte die Kasse. Übrigens kräftig unterstützt von der Zagorska Banka. Erst Entlassungen, danach schleichende Pleite. Irgendwer hat dann die Halle angezündet. Aus Wut oder als warmer Abbruch für einen Versicherungsbetrug, keine Ahnung. Auf jeden Fall lebt der Plünderer jetzt fröhlich in Österreich, und Guguljak ist jedna selendra – ein Unort, klein und tot.«

»Woher weißt du das alles?«

»Weil ich damals bei der Zagorska Banka angestellt war.« Tonja schüttelte den Kopf, wie um die Erinnerung loszuwerden, und beschleunigte ihr Tempo.

Sie erreichten das erste Haus am Ortsrand von Guguljak. Der unverputzte Bau sah aus wie eine vor Urzeiten verlassene Zollstation. Die Eingangstür hing schräg in ihren Angeln und gab den Blick frei auf einen dunklen Flur, in dem sich Bierkästen stapelten. Zwei der Fenster waren mit Pappe vernagelt. Auf dem versengten Gras vor dem Haus lag kopfüber eine verrostete Zinkwanne, umrahmt von zwei geplatzten Müllsäcken. Daneben ein gemauerter Brunnen, vor dem sich traurig ein Pumpenschwengel verneigte.

Sie blieben stehen.

Eine monströse Ratte kam unter der Wanne hervor, im Gras neben der Tür lauerte ein verfilzter Kater, der seine Chancen bezüglich der Ratte abschätzte. Diese würdigte ihn keines Blicks, sprang auf den Brunnenrand und verschwand mit einem eleganten Satz in der Tiefe. Kein Mensch weit und breit. Nur gespenstische Ruhe.

In diesem Moment knallte es zweimal ohrenbetäubend laut.

Hans duckte sich. »Da schießt jemand!« Halb im Scherz fügte er hinzu: »Sind die aus Frankfurt so schnell?«

Tonja tätschelte seine Wangen. »Ach was. Das sind Slavko und Branko, die Marković-Zwillinge. Die sitzen im Garten hinterm Haus und feiern ein bisschen mit ihrem Selbstgebrannten.«

»Morgens um elf?«

»Was sollen sie sonst groß tun? Die Zwillinge sind Helden, waren 1992 ganz vorneweg in ihrem T-55 bei der Verteidigung von Karlovac gegen die Serben.« Ihre Miene verdüsterte sich. »War eine böse Zeit. Die Zwillinge kamen mit Orden behängt zurück. Aber seit der Krieg vorbei ist, sind sie zu nichts mehr zu gebrauchen. Sie leben von einer kleinen Invalidenrente hier auf ihrem Hof, zusammen mit ein paar Kühen und Hühnern – und dem selbst gebrannten Sliwowitz, dem schnellsten Weg in die Hölle.«

Wieder krachten zwei Schüsse, wieder duckte sich Hans.

Tonja beruhigte ihn. »Wenn ihnen mulmig ist von den eigenen Träumen, schießen sie ein bisschen in die Luft, ist völlig harmlos.«

In die folgende Stille hinein erhob sich hinter dem Haus ein machtvoller Gesang aus zwei Kehlen: »Pi me ga, pi me ga – se do dana belega.«

Tonja grinste. »Bei euch würde man ›Einer geht noch rein‹ sagen.«

Ein schratiger Endfünfziger mit eisgrauen Haaren war unbemerkt zu ihnen getreten. Er umarmte Tonja herzlich, küsste sie auf beide Wangen und blickte fragend zu Hans, der eine Verbeugung andeutete.

Tonja wandte sich an Hans. »Der Wirt vom Bačvica, dem ›Fässchen‹, der einzigen Kneipe in Guguljak.«

Der Wirt musterte Hans und sein Seidenjackett, dann die Eingangstür. Er sprach kurz mit Tonja und schüttelte den Kopf. Als er sich zum Gehen bereit machte, sagte er voller Abscheu: »Vidi ovo, sve je otvoreno ko kurvina guzica.«

»Was heißt das?«, fragte Hans.

Tonja lachte. »Er sagt, hier sei alles offen wie ein Hurenarsch.«

»Ihr habt interessante Redewendungen!«

»Du musst erst mal eine Marktfrau in Split fluchen hören!«

Die Häuser von Guguljak hingen aufgereiht wie unsortierte Perlen an der Dorfstraße. In einigen hausten offenbar ebenfalls Kriegsgestörte, andere waren durchaus gepflegt, ihre Vorgärten bewirtschaftet.

Tonja war sichtlich froh, sie Hans zu zeigen. »Die haben sich Leute gebaut, die lange in Deutschland gearbeitet haben oder in Kanada. Wer hiergeblieben ist, muss sich irgendwie durchwursteln.«

Es ging gegen Mittag, die Hitze wurde unerträglich. Hans spürte das Gewicht seiner Hebammentasche. Er fragte: »Wo ist hier die Dorfmitte, so was wie das Zentrum?«

Sie antwortete grinsend: »Wir stehen mittendrin.«

Hans blickte sich um. Die Straße hatte sich unmerklich zu einem runden, sandigen Plätzchen erweitert. Vor ihm erhob sich der weiß gekalkte Turm der Kirche, daneben lag ein winziger Friedhof mit mächtigen Grabsteinen. Die Toten waren mit ihrem Foto im Stein verewigt und blickten ernst herüber zu Hans.

Tonja erklärte: »Die Kirche ist auch für die Dörfer im Umkreis da. Beim Gottesdienst am Sonntag ist sie so voll, dass die Leute bis auf die Straße stehen.«

Gegenüber der Kirche behauptete sich ein roh gemauerter Kubus, dessen Eingang die kroatische Nationalflagge zierte. Das rot-weiße Schachbrett hing schlaff in der Mittagsglut, die Rollläden im ersten Stock waren heruntergelassen. Vor dem Haus ein paar Tische und Plastikstühle unter einem Sonnenschirm. Zwei alte Männer hockten vor einem Krug Wein und fächelten sich mit ihren Strohhüten Luft zu, unter dem Tisch zankten sich zwei Hühner um ein paar Brotkrumen. Gleichgültig musterten die Männer die Neuankömmlinge.

»Das ›Fässchen‹, der Mittelpunkt von Guguljak«, sagte Tonja. »Dort essen wir heute Abend eine Kleinigkeit. Dort wirst du auch unser Business Center kennenlernen.«

Hans runzelte die Stirn.

Sie lachte und fügte mit einem spöttischen Unterton hinzu: »Wirst schon sehen – im ›Fässchen‹ treffen sich unsere Bisnissmän.« Ihr Deutsch war eigentlich fließend, aber stets mit jener Färbung, die er so liebte. Nun übertrieb sie bewusst.

Ein rostiger Pritschenwagen quälte sich über den Platz, auf seiner Ladefläche schwankten mit Pflaumen gefüllte Körbe. Er verschwand um die Ecke, wieder war es still. Eine schwache Windböe raffte sich auf und ließ eine leere Bierdose Karlovačko Pivo zwei Meter weit über den Sand kullern. Damit erschöpfte sich ihre Kraft.

Hitze und Stille.

Hans hielt andächtig inne, er war angekommen. Das also war Guguljak, seine neue Heimat.

Brillanter Abgang

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