Читать книгу Brillanter Abgang - Alexander Hoffmann - Страница 8

4. Kapitel

Оглавление

Frankfurt am Main

Wie liquidiert man 40 Jahre an einem Tag, von dem kaum noch zwei Stunden übrig sind? Hans stand vor seiner Jugendstilgarderobe (Mahagoni, hochrechteckiger Spiegel, gebogter Unterbau mit vier Ablagen, auf der Frontseite Blütenstaude in feiner Reliefschnitzerei, deutsch, um 1910) und nahm Abschied. Zwei Stunden, dann wären sie unterwegs. Wohin und für wie lange? Wehmütig glitt sein Blick über das dunkel glänzende Holz. Ein schönes Stück, hätte im Verkauf einen ordentlichen Preis gebracht. Aber eigentlich war für ihn jeder Verkauf ein Verlust gewesen, er hätte am liebsten alles behalten. Nun würde die Garderobe zurückbleiben und die vielen anderen Stücke auch.

Er prüfte sich im Spiegel. Volles blondes Haupthaar, graublaue Augen, feine Gesichtszüge, mittelgroße, schlanke Gestalt. Sah so ein Dieb aus? Ein Dieb, der heute untertauchen würde wie der unselige Durste­witz? Hans wendete sich ab von seinem Spiegelbild, nahm die 20 Schritte entfernte Wohnungstür ins Visier und versuchte, Gefühle und Wahrnehmung auszuschalten. Er stieg die Treppe hinab zur Straße, wo sein bauchiger Jaguar parkte. 40 Jahre und vier Kanister Benzin mussten im Wagen Platz finden. »Alle Spuren verwischen, an keiner Tankstelle halten«, hatte ihm Tonja eingebläut.

Den Inhalt des stationären Rechners hatte er auf sein Notebook übertragen. Immerhin etwas, das ihm blieb. Den Rechner würden sie irgendwo in Kroatien entsorgen, auch das hatte Tonja verfügt, wieder wegen der Spuren. In zwei Koffer hatte sie ihm eine karge Auswahl seiner Kleidung gepackt, während er drei Taschen für die Fotoalben, Briefe und seine Tagebücher aus den Stauräumen der Wohnung zerrte. Nicht zu vergessen das Silberbesteck mit Monogramm (1943, deutsch, kriegsbedingt nur versilbert), das ihm seine Großmutter hinterlassen hatte. Mit einem Bademantelgürtel hatte er die sechsbändige Erstausgabe von »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« fluchtfertig verschnürt. 5.700 Seiten Proust – bislang war er nie über die ersten 100 Seiten hinausgekommen.

Er stopfte die Taschen und die verlorene Zeit in den Fußraum hinter den Vordersitzen. Draußen war es längst dunkel, aber die Laternen der Myliusstraße ließen die weiße Gründerzeitvilla, in der er lebte – gelebt hatte –, leuchten. Die Fassade mit ihren hohen Fenstern und den pausbäckigen Putten war erst kürzlich renoviert worden, ebenso das Belvederchen oben auf dem Dach. Er sah das Licht in seiner Wohnung. 160 Quadratmeter Beletage, fünf Zimmer. Sein Zuhause seit über zehn Jahren. Er bemerkte Tonja, die wie ein dunkler Geist durch die Räume huschte.

Zurück in der Wohnung, ergriff er die Biedermeier-Reisebar (England, um 1830, nussbaumfurnierter Korpus, abgerundeter Klappdeckel, auf der Innenseite mit Halterung für zwei Gläser, sechs original Klarglasflaschen mit Goldstaffage). Die musste unbedingt mit. Im Wohnzimmer mit den hohen Decken und dem echten Stuck, seinem Salon, wie er gerne sagte, fiel sein Blick auf den mächtigen Frankfurter Schrank (um 1730 gefertigt, soll einst bei Goethes im Treppenhaus am Großen Hirschgraben gestanden haben). Der passte in keinen Jaguar, der würde zurückbleiben wie alles andere, was sich in den vier Jahrzehnten angesammelt hatte. Warum zum Teufel war er nicht Diamantenhändler geworden?

In seine füllige Aktentasche stopfte er Ausweise und Zeugnisse. Kurz blieb sein Blick auf dem Abiturzeugnis haften. Auf den Einsern in Deutsch, Geschichte und Kunst, auf den Vierern in Mathematik und Physik. Grässliche Fächer. »Die Dokumente könnten noch nützlich sein«, hatte Tonja betont. Sie selbst hatte nur ihren kleinen Rollkoffer gepackt, so schnell, wie sie ihn vor Wochen ausgepackt hatte. Als sie wie ein fremder, betörender Schmetterling in seinem Leben gelandet war.

Hans ließ sich in der Küche auf einen Stuhl sinken, wollte die letzten Minuten ausdehnen, auskosten wie das Bukett eines alten Weins. Wer auch immer hier einzog, er würde seine Freude haben an der Designer-Küche mit ihrem Spezialkühlschrank für die teuren Italiener. Ob sich die Herren von der Concom an den Super-Toskanern, dem Sassicaia und Tignanello, gütlich tun würden?

Tonja kam in die Küche und bemerkte seinen Blick. »Schatz, das alles und noch viel mehr können wir uns neu kaufen. Jetzt musst du loslassen.«

»Ich bin ein Behalter, kein Loslasser«, murmelte Hans.

Er litt. Den alten Globus aus der Schulzeit durfte er nicht mitnehmen, auch nicht den signierten Fußball von der Meisterschaft und schon gar nicht die Märklin-Eisenbahn mit den Weichen, die man noch von Hand stellte. Gab es vielleicht in seinem Geschäft etwas Jaguar-Taugliches? Kurz dachte er an den kleinen Laden in der Altstadt, im Schatten des Kaiserdoms. Eine seit 15 Jahren gut eingeführte Adresse. Nein, das alles dort war zu groß zum Mitnehmen. Sollte sich doch die Concom seine letzten Schätze greifen.

Tonja kochte Kaffee, den sie in eine Thermoskanne abfüllte. Die kam in eine Einkaufstasche, ebenso ein paar Flaschen Mineralwasser und belegte Brötchen. Sie fasste ihn an den Schultern. »Und bitte, bitte, keinen Kontakt zu niemandem – niemand darf wissen, dass wir verschwinden und wohin. Auch deine engsten Freunde nicht. Gut, dass du mir die noch gar nicht vorgestellt hast, so gibt es wenigstens keine Verbindung.«

Hans nickte. Woher sollte sie auch wissen, dass er zwar etliche Bekannte hatte, aber keine Freunde, echte Freunde? »Und wie machst du hier Schluss?« Sie hatte ihm nur erzählt, dass sie in einer Anwaltskanzlei im Nordend arbeitete und dies weit unterhalb ihrer Qualifikation.

Sie schnippte mit den Fingern. »Ich mache es wie dein Durstewitz – ich bin einfach mal weg. Ohne Lebewohl und Auf Wiedersehen. Erst recht nicht dem Chef gegenüber. Der ist sowieso weniger an meiner Buchhaltung als am Inhalt meiner Bluse interessiert.«

»Werden die dich vermissen?«

»Will ich doch hoffen, aber so wichtig bin ich da nicht. Nach ein paar Wochen haben sie mich wahrscheinlich vergessen.«

Wieder einmal fiel Hans auf, wie wenig er über Tonja wusste. Er hatte keine Ahnung, wann und warum sie nach Deutschland gekommen war und was sie zuvor in ihrer Heimat getrieben hatte. Sie hatte immer abgeblockt, wenn er darauf zu sprechen kam.

Er stand auf, bereit zu einem letzten Rundgang. Er klapperte ein Zimmer nach dem anderen ab, hielt eine letzte Zwiesprache mit dem modernen Ensemble von Memphis, dann mit dem eleganten Treca-Bett im Schlafzimmer mitsamt diverser Erinnerungen, auch aus der Vor-Tonja-Zeit. Im Designerbad nahm er sich die Manschettenknöpfe aus Platin, an denen sein Herz hing. Er schnüffelte dem kalten Rauch im Kamin des Wohnzimmers nach, ein finaler Blick streichelte das handgewachste Parkett. Wer würde hier einziehen, was würde derjenige mit seinen Möbeln machen? Müßige Fragen. In einer letzten, heftigen Geste schnappte er sich die Gallé-Vase (»Teichrosen«, Nancy um 1904, signiert), wickelte sie in ein T-Shirt und quetschte sie zu den Dokumenten in der Aktentasche, die sich mittlerweile aufblähte wie ein Hebammenköfferchen.

»Fertig?« Tonja stand bereits in der Eingangstür, sie trug über Jeans und T-Shirt einen roten Leinenblazer.

Hans hatte für den Abgang eine feine Hose, ein graues Seidenjackett im Knitterlook und handgefertigte Schuhe gewählt. Wenn er sich schon ins Unbekannte stürzte, dann mit einem Minimum an Stil.

Es war dunkel geworden, aber immer noch drückend heiß.

Hans warf den Bund mit den Hausschlüsseln in den Briefkasten des Hausmeisters.

Tonja grinste. »Vorbildlich! Hast du dich auch brav vom Finanzamt verabschiedet?«

»Lach du nur. Was wird aus meiner Rente? Ich hab jahrelang freiwillig eingezahlt beim Staat, bringt später sicher einige Hundert Euro.«

»Pah! Fang endlich an, groß zu denken!«

»Im Moment denke ich kleiner als klein, zum Beispiel an die Miete.« Ein letztes Mal sah Hans die nachtstille Myliusstraße hinauf und hinunter, dann startete er den Jaguar. Er sagte zu Tonja: »Nur damit du es weißt – meine Vermieterin ist eine alte Dame, die von den Mieten lebt. Sie war immer fair zu mir. Die kriegt als Erste ihr Geld überwiesen, von Zagreb aus oder von wo auch immer.«

Tonja legte ihm besänftigend eine Hand aufs Knie. »Keine Sorge, es wird alles gut.«

Brillanter Abgang

Подняться наверх