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9. Kapitel

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Zagreb

»Odlično!« Juchzend jagte Tonja den alten Renault ihres Vaters durch Guguljak. Hühner stoben auseinander, Staub wirbelte hoch. Es war gegen elf und der Tag nicht so heiß wie der gestrige. Hans wusste schon, was odlično bedeutete – toll, prächtig, ausgezeichnet. Auf Höhe der Zwillinge drosselte sie das Tempo. Durch die offene Seitenscheibe hörte Hans das vertraute »Pi me ga, pi me ga« herüberwehen.

Tonja sagte: »Eigentlich sind es brave Burschen, Slavko und Branko. Mit denen habe ich noch einiges vor.«

Grundgütiger, dachte Hans und duckte sich tief in seinen Sitz, als Tonja das Gaspedal wieder durchtrat.

Der Fahrtwind wirbelte ihre schwarze Mähne auf, sie schnalzte mit der Zunge. »Wie aufregend! Ist doch herrlich, mal etwas völlig Neues anzufangen.«

Ergeben nickte Hans. Er wollte nur die Fahrt bis in die Hauptstadt überleben. Der Wagen donnerte bergab, Hans schloss die Augen. Er öffnete sie erst wieder, als er das Auto in der Horizontalen wähnte. Sie waren auf der Autobahn nach Norden, Tonja fuhr gesitteter und reihte sich in den Verkehr ein, der umso dichter wurde, je näher sie Zagreb kamen. Auf einer mehrspurigen Straße durchquerten sie Novi Zagreb, den Südteil der Hauptstadt. Hans sah vielgeschossige graue Wohnmaschinen, dazu moderne Bürohochhäuser, viel Stahl, Beton und Glas. Sie fuhren über die Save, die den Süden und Norden der Stadt trennte, und hinein in das alte Zagreb. Prächtige Fassaden, Ringstraßenarchitektur; unversehens sah sich Hans in das alte Wien seiner angenehmsten Erinnerungen versetzt. Endlich wieder Großstadt, zurück in der Zivilisation.

Tonja stellte das Auto vor dem Hauptbahnhof ab, einem eleganten, klassizistischen Bau.

»Ich will dir was zeigen«, sagte sie, während sie ausstieg. Sie zog ihn durch das Gewimmel der Menschen, und plötzlich standen sie vor einem mächtigen Denkmal, einem mittelalterlichen Reiter mit gezücktem Schwert. »Tomislav, unser erster König. 925. Ist zwar ein Weilchen her, aber wir sind stolz auf ihn.«

Hans war beeindruckt. Vom Denkmal aus öffnete sich eine Blickachse über einen von Baumalleen gesäumten Park bis hin zur Oberstadt mit zwei blendend weißen Kirchtürmen. Am Horizont sah Hans die Silhouette eines gewaltigen Bergmassivs.

»Unsere Kathedrale, und dahinter siehst du das Medvednica-Gebirge mit dem Sljeme, dem Hausberg von Zagreb«, sagte Tonja.

Hans nickte zustimmend, das alles gefiel ihm.

Tonja bemerkte seine Freude. »Kroatien ist klein, aber größer als Guguljak.« Sie lenkte seinen Blick nach links. »Und das ist das Esplanade.«

Ein paar Hundert Meter entfernt ragte das Hotel wie eine Zauberburg vor ihm auf. Sechs zartgraue Geschosse zählte Hans, vorgelagert waren eine große Terrasse und ein Springbrunnen mit mächtiger Wasserfontäne.

»Art déco von 1925, hier machten früher die Reisenden aus dem Orientexpress Station. Inzwischen zum Glück wieder ein Fünf-Sterne-Haus«, sagte Tonja.

Hans blieb stehen und staunte, bis sie ihn am Arm nahm und mahnte: »Wir müssen los, wir sollten pünktlich sein.«

Hans witzelte: »Habt ihr hier nicht eher ein mediterranes Zeitgefühl? Von wegen polako?«

Tonja lachte. »Du lernst schnell. Aber Drago ist überpünktlich. Wie der Prokurist einer deutschen Schraubenfabrik.«

Eine geschwungene Auffahrt, in der gerade ein Bentley entladen wurde, führte sie ins Foyer des Hotels. Alles in Hans atmete auf. Er musterte den schwarz-weißen Marmor der Wände, die edeldünnen Teppiche, die ausladenden Treppenaufgänge, die prachtvollen Lüster und Uhren im Stil von 1925, die die Ortszeiten in New York, Buenos Aires, London und Paris anzeigten. Hans war versucht, die Uhren »Zeitmesser« zu nennen. Vor der Rezeption stand das zum Bentley gehörende Paar: ein gepflegter Herr und eine junge Brünette, die mit Sicherheit nicht seine Tochter war. Hans genoss die luxuriöse Ruhe. Hier liefen keine Ziegen herum, hier wurde auch nicht geschossen.

Tonja lenkte ihn sanft in die angrenzende Bar mit ihren Spiegeln und dem glänzenden Parkett. Nur wenige Tische waren besetzt. Ein Pianist spielte dezent im Hintergrund, Kellnerinnen in weißen Schürzchen und Schnürschuhen schwebten durch den Raum. In einer Ecke erhob sich ein junger Mann. Drago sah ganz anders aus, als Hans ihn sich vorgestellt hatte. Er schätzte ihn auf Anfang 30, Tonjas Alter. Drago neigte schon zur Fülle, er hatte kurz geschnittenes Haar, große, flinke Augen. Seine Pausbäckchen erinnerten Hans an die Putten in der Fassade seiner Westend-Wohnung.

Drago kam ihnen in einer weit ausholenden Kurve entgegen, orderte im Vorübergehen bei einem der Engel in Schwarz-Weiß Champagner und Sandwiches. Er küsste und umarmte Tonja. Hans wurde mit einem kräftigen, weniger langen Händedruck bedacht. Aber beide lud Drago überschwänglich ein, sich zu setzen. Sie waren die Einzigen in dieser hintersten Ecke der Bar.

Hans sank in einen schwarzbraunen Ledersessel. Seine linke Hand liebkoste das erstklassig vernähte Leder, mit der rechten streichelte er den feinen Samt an der Seite. Auf dem runden Clubtisch vor ihm schwamm in einem kugeligen Glas das weiße Köpfchen einer Rose. Sein Blick ging durch eines der hohen, von cremefarbenen Vorhängen flankierten Fenster hinaus auf die Terrasse. Hier könnte er länger bleiben.

Dragos blauer Anzug war so perfekt wie sein Englisch und die Maniküre seiner Fingernägel. Als der Champagner perlte, hob er das schlanke Glas und kam schnörkellos in fast akzentfreiem Deutsch zur Sache. »Fünf Millionen für mich. Fünf weitere für euch, die ich in bar dabei habe. Ich habe mir erlaubt, ein Menü aus Euro, Kuna und US-Dollar zusammenzustellen – war gar nicht so einfach, ich hatte viel Lauferei. Das Geld ist in meinem Wagen, der direkt hinter dem Hotel parkt.«

Tonja nickte stumm.

Drago fuhr, ohne eine Miene zu verziehen, fort: »60 Millionen sind seit gestern Eigentum der Stiftung zur Förderung des Militärmuseums Karlovac. Weitere 60 lagern bei der Unterstützungskasse für die Dombauhütte Sveti Stjepan in Zagreb. Und über fast 70 Millionen freut sich das Waisenhaus Marija Petković in Split. Ich habe die Ehre, diese verdienstvollen Stiftungen als Treuhänder zu führen.«

Tonja grinste. »Gut ausgesucht.«

Drago feixte: »Unser tapferes Militär, unsere hochverehrte Kirche und unsere lieben Waisen – das ist die perfekte Mixtur. An die wagt sich niemand so schnell heran. Aber lange sollte das Geld dort nicht bleiben.«

»Dafür wird Dr. Strozzi in Triest ganz sicher sorgen«, erwiderte Tonja.

Hans verstand immer weniger und nippte ratlos an seinem Champagner.

Tonja bemerkte es und tätschelte ihm eine Hand. »Erkläre ich dir alles später.«

Drago erhob erneut sein Glas und sagte würdevoll: »Heute ist ein besonderer Tag. Nach langen Jahren vertrauensvoller Zusammenarbeit trennen sich die Wege der Zagorska Banka und der meinige. Ein bisschen wehmütig bin ich schon.«

Tonja lachte heiser. »Was wirst du vermissen?«

»Vor allem den Blick aus meinem Büro auf den Jelačić-Platz, auf das Denkmal unseres tapferen Ban Jelačić.«

Tonja erklärte Hans: »Der Jelačić-Platz ist das Herz des alten Zagreb. Jelačić war ein Feldherr und Ban, k. k. Feldzeugmeister und Kommandeur des Maria-Theresia-Ordens. Hat den Aufstand der ungebärdigen Ungarn 1848 niedergeschlagen. Ein treuer Vasall des Hauses Habsburg, einer unserer Nationalhelden.«

Hans nickte, es war beruhigend, von Helden umgeben zu sein.

Tonja wandte sich wieder Drago zu. »Und wann geht es nach Triest?«

»Sobald wir hier fertig sind. Ich hab euch noch etwas Besonderes mitgebracht – eine Schreibmaschine.«

»Wozu denn das?«, entfuhr es Hans, der auch einen Redebeitrag leisten wollte.

»Wir werden ab sofort«, sagte Tonja, »mit Drago nur noch wie in der guten alten Zeit kommunizieren. Schriftliches gibt es nur in Ausnahmefällen und dann auf der Schreibmaschine verfasst. Das meiste werde ich sowieso ausschließlich in meinem Kopf aufbewahren. Den kann keiner belauschen.«

»Das ist ein absolutes Muss. Im Netz oder sonst wo dürfen wir nicht vorkommen, mit keinem Bit.« Drago schüttelte den Kopf. »Heute wird alles elektronisch überwacht, eigentlich ein Skandal. Man kann seinen Geschäften kaum noch richtig nachgehen.« In seiner Stimme schwang aufrichtige Empörung mit.

Sie schwiegen, griffen nach den Sandwiches und ließen die intime Atmosphäre der Bar auf sich wirken.

»200 Millionen, das ist unfassbar viel Geld!«, sagte Hans unvermittelt.

Dragos flinke Augen fixierten ihn kühl. »Finden Sie? Dafür kriegt man keine zwei Weltklasse-Fußballer.«

Hans musste ihm recht geben. Für den Moment wurde er von einer gewissen Leichtigkeit erfasst. Er erwiderte: »Oder drei anständige van Goghs.«

Drago ging nicht weiter auf Hans ein, sondern wechselte das Thema. »Wie geht es in Guguljak voran?«

»Gar nicht«, sagte Tonja mit einem Anflug von Verdrossenheit.

Drago fuhr sich durch seine kurzen Haare. »Tja, nur im ›Fässchen‹ sitzen bringt einen nicht viel weiter.«

Die drei lauschten dem Klavier, ab und an schritt ein Bisnissmän vorbei, wahrscheinlich ein echter, wie Hans befand.

Drago schaute auf seine elegante Uhr. »Wir sollten dann mal.« Er zahlte bar, und gemeinsam verließen sie das Hotel. Während die beiden sich untergehakt hatten und angeregt auf Kroatisch miteinander schwatzten, trottete Hans hinterher. Militärmuseum, Dombauhütte, irgendwelche Waisen und jetzt auch noch ein Herr Dr. Strozzi. Hoffentlich würde sich das irgendwann entwirren.

Der armanigraue BMW Dragos parkte in einer Seitenstraße. Drago öffnete den Kofferraum und holte schwungvoll eine schwere Reisetasche und eine prall gefüllte Einkaufstüte von Lidl heraus. Die Reisetasche sah billig aus mit ihrem abgeschabten Kunstleder, in der Einkaufstüte hätten auch geschnittenes Brot, Äpfel und Käse sein können. Drago reichte beide Hans und meinte: »Die fünf Millionen wiegen über 40 Kilo.« Die Reiseschreibmaschine aus rotem Kunststoff übergab er Tonja.

Hans erkannte sie sofort, sein Vater hatte sie so geliebt, die Olivetti Valentine, das Kultgerät von 1969, das Meisterstück von Ettore Sottsass. Auf einem solchen Typ hatte Hans als Kind in der elektroniklosen Vorzeit noch getippt.

Drago herzte und küsste Tonja und gab nun auch Hans Wangenküsse rechts und links. »Das wird schon, mein Freund«, ermunterte er ihn strahlend.

»Ich komme übermorgen gegen Mittag nach Triest«, sagte Tonja.

Drago nickte. Er schwang sich in seinen Wagen, startete und röhrte um die nächste Ecke.

Tonja und Hans gingen Richtung Bahnhof. Er schleppte Reisetasche und Tüte, sie trug die Olivetti. Hans fühlte sich wie in einem Minenfeld. Er rechnete damit, dass sich jeden Moment ein Vermummter aus der Menschenmenge lösen und ihm die Taschen entreißen würde.

Tonja erriet seine Gedanken. »Keine Sorge, Hans. Wir laufen durch die Gegend wie zwei Flüchtlinge mitsamt ihrer letzten Habe.«

Niemand nahm von ihnen Notiz, brav stand der Renault da, wo sie ihn abgestellt hatten. Die Reisetasche, die Tüte und die Olivetti kamen hinter die Vordersitze. Hans beäugte Tasche und Tüte, als ob sie jeden Moment explodieren könnten. Da drin also waren fünf Millionen, kaum zu glauben.

Tonja wollte sofort losfahren, doch Hans legte eine Hand auf ihre Schulter. »Tonja, wollen wir nicht noch ein bisschen bleiben? Wir könnten eine Suite im Esplanade buchen für ein paar entspannte Tage. Das da in der Tasche müsste wohl reichen. Im Esplanade gefällt es mir irgendwie besser als im ›Fässchen‹.« Er sehnte sich nach einem geschützten Ambiente, er wollte in Ruhe einordnen, was ihm alles widerfahren war und was ihm noch bevorstand. Und er wollte endlich ein richtiges Badezimmer.

Sie fasste spielerisch an seine Nase. »Und wie willst du dich im Hotel anmelden? Mit deinem Pass, als Hans Bäumler aus Frankfurt am Main? Bitte, Hans, das Esplanade läuft uns nicht weg, wir werden dort bald öfter sein. Aber erst, wenn du eine neue Identität hast.«

Wie vom Schlag gerührt, nahm Hans auf dem Beifahrersitz Platz. Bäumler war zwar kein toller Name, aber so hieß er seit 40 Jahren, seit der Ausstellung der Geburtsurkunde in Frankfurt am Main-Seckbach. Während Tonja den Wagen wieder nach Süden lenkte, hing Hans schlaff im Sitz. Stück um Stück wurde ihm alles genommen, als Nächstes also die Identität. Er griff nach hinten und betastete die Reisetasche. Es fühlte sich gut an, seine Stimmung hellte sich auf.

Auf der Autobahn hatte er sich gefasst. »Wenn ich das richtig mitgekriegt habe, ruht unser Geld bei diesen komischen Stiftungen. Wer hat darauf Zugriff?«

»Drago natürlich.«

»Und warum?«

»Weil er schon vor längerer Zeit ein paar Konten für die Stiftungen bei verschiedenen anderen Banken eröffnet hat. Genau dorthin hat er unser Geld transferiert, damit weder die Concom noch die Zagorska Banka drankommen.«

Hans wunderte sich. »Wie hat er denn ahnen können, dass …«

»Nein, mit uns hat das nichts zu tun. Die Stiftungen dienten ein paar Nebengeschäften. Und die Konten hat Drago sozusagen auf Vorrat angelegt, für den Tag X, für die große Chance.«

»Ich nehme an, die Freunde des kroatischen Militärs und die Dombaumeister, ganz zu schweigen von den lieben Waisen, haben keine Ahnung?«

»Das ist ja der Sinn der Sache.«

40 Minuten später war Tonja an der Abzweigung nach Guguljak angelangt und trieb den Wagen die Serpentinen hoch.

»Dieser Drago ist ein waschechter Gauner«, murmelte Hans.

»Aber ein sehr tüchtiger.«

Sie passierten das totenstille Haus der Zwillinge, dann kam das »Fässchen« in Sicht, vor dem die zwei Alten saßen, schon wieder oder immer noch.

Tonja parkte den Wagen unter dem Walnussbaum vor der Schachtel. Während der Motor austuckerte, sagte Hans: »Fünf Millionen hat Drago bereits von uns bekommen. Was, wenn er zu der Meinung gelangt, 190 Millionen wären besser?«

Brillanter Abgang

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