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7. Kapitel
ОглавлениеGuguljak
Tonja nahm ihn an der Hand. Sie gingen Richtung Ortsausgang, an zwei Kästen mit leeren Fensterhöhlen vorbei. Aus einer streckte ein Baumschössling seine lichtgierigen Zweige.
»Die Post und der Lebensmittelladen. Geschlossen – fünf Jahre nach Ausrufung unseres jungen Staates«, sagte Tonja.
Hans spöttelte: »Schon bemerkenswert, dein Guguljak. Diese Ruhe, diese verhaltene Kraft.«
»Na ja«, erwiderte sie säuerlich. »Früher gab es hier gut 400 Einwohner. Jetzt sind es exakt 244, hat mir der Wirt erzählt, einer ärmer als der andere.«
»Habt ihr denn keine Touristen?«
»Das spielt sich alles an der Küste ab, 150 Kilometer weiter im Süden.«
»Und wovon leben die Leute hier?«
»Eigentlich von nichts, eine hohe Kunst. Einige haben mies bezahlte Jobs in Zagreb oder Karlovac, der nächsten größeren Stadt. Jeder, der sich im Krieg den Fuß verstauchte, hat sich eine kleine Versehrtenrente erschwindelt, andere kriegen ein paar Dollar von den kanadischen Verwandten und was weiß ich. Hier müsste einfach mal mehr Zug rein.«
Hans lächelte. »So wie bei uns?«
Widerwillig kam es durch ihre weißen Zähne: »So in der Art.«
Sie hatten das Dorf verlassen, der Weg wurde schmaler, von hüfthohen Gräsern gesäumt. Der Himmel hatte ein makelloses Blau, in der Ferne jaulte ein Hund. Hinter der nächsten Biegung endete der Weg vor einer eternitgrauen Schachtel.
»Das Haus meines Vaters, nicht gerade Frankfurter Westend, aber ihm genügt es«, sagte Tonja hastig.
Immerhin lag die Schachtel inmitten einer Idylle. Ein würdiger Walnussbaum spendete dem Eingang Schatten, rund um das Häuschen wechselten sich Wiese, Pflaumenbäume und Tannen ab. Von einer kleinen Terrasse mit Blumenkübeln aus öffnete sich ein weiter Blick über Guguljak und die fernen, kirchturmbewehrten Hügel.
»Tihomir lebt alleine, meine Mutter ist vor einigen Jahren an Krebs gestorben. Der Untergang der Firma hat ihn schwer getroffen, er ist ein guter Ingenieur und mit seinen 53 Jahren noch viel zu jung für die Rente.«
Auch über ihre Familie hatte sie bislang nie gesprochen. Tonja schien Hans so vertraut, doch wieder wurde ihm klar, wie wenig er über seine Gefährtin wusste, die ihn hierher an den Rand der zivilisierten Welt geschleppt hatte.
Er wollte etwas sagen, doch Tonja flüsterte: »Zu tun hat er nicht viel, hinter dem Haus baut er Gemüse an und pflegt seine Blumen. Und bitte schau im Haus nicht in jede Ecke, er ist halt alleinstehend.«
Ein hochgewachsener Mann trat aus der Tür, lächelnd kam er auf die beiden zu. Tihomir herzte und drückte Tonja, dann gab er Hans die Hand. »Willkommen!«
Er sprach recht gut deutsch, sah aus wie Mitte 40, hatte dichtes schwarzes Haar, an den Schläfen leicht angegraut. Die gemeißelten Gesichtszüge erinnerten an den jungen Tito. Ein wacher Blick, kaum Fältchen um Mund und Augen, sympathisch. Attraktiv, so wie seine Tochter, dachte Hans.
Er war völlig erledigt, das Seidenjackett durchgeschwitzt, die guten Schuhe überzogen von einer schmierigen Schicht Lehm. Er schälte sich mühsam aus dem Jackett, zog die Schuhe und die feuchten Socken aus. Mit nackten Füßen betrat er das Haus und landete direkt in einer winzigen Wohnküche.
Er quetschte sich auf eine Sitzbank mit rotem Kunstleder, unter der er seine Hebammentasche verstaute, in der die Zeugen seiner 40 Lebensjahre steckten.
Der einfach gezimmerte Esstisch war mit einem rot-weißen Wachstuch bedeckt, gegenüber thronte, hoch über einem Herd mit vergilbten Griffen aus Emaille, eine in Holz gefasste Uhr. Sie tickte zögerlich, es schien Hans, als ob sich der Zeiger besonders langsam, besonders guguljakisch bewegte.
Wo bin ich hier und warum? Er rutschte in ein Loch, tiefer als der Brunnen der Zwillinge, in dem die Ratte wohnte.
Tonjas Blick streifte ihn voller Wärme. »Gleich gibt es turska kava und štruklji.« Sie schob sich zwischen Tisch und Herd, dessen Klappe sie öffnete. »Wunderbar, da ist noch etwas Glut vom Mittagessen.«
Leise fragte Hans: »Was hast du deinem Vater eigentlich erzählt?«
»Dass wir beide in Deutschland ein bisschen Geld gemacht haben und dass wir uns in Südosteuropa engagieren wollen.«
»Glaubt er das?«
»Erst mal ja. Er hat länger in Ingolstadt gearbeitet. Er findet die Deutschen zwar etwas hölzern, achtet sie aber. Und nun habe ich ihm so einen mitgebracht. Hier in der Anrichte neben dem Herd hegt er seinen kleinen Schatz – einen Packen D-Mark-Scheine. Damit kann man in Bosnien ganze Häuser kaufen. Oder ein günstiges Gerichtsurteil in Karlovac.«
»Und er hat nichts dagegen, dass wir hier einfach so hereinschneien?«
»Tihomir hat spontan zugesagt, als ich anrief. Wir sind immer spontan. Er weiß auch, dass wir eine Zeit lang in Guguljak bleiben werden.«
»Sehr lange?«
Sie lachte. »Wir wollen nichts überstürzen, vor allem dürfen wir nicht auffallen.«
Ihr Vater kam in die Küche und legte im Herd ein paar Holzscheite nach.
In einer đezvica aus rötlichem Kupfer begann das Wasser zu kochen, Tonja gab reichlich Zucker hinein. Sie nahm das Gefäß vom Herd und schüttete zwei Löffel »Kaffee Gloria« dazu. Wieder kam die đezvica aufs Feuer. Mit einem Löffelchen rührte sie den Kaffee um, bis er aufschäumte, dann füllte sie ihn in zwei Mokkatassen.
Der türkische Kaffee war stark und süß. Für den Augenblick rettete er Hans, ebenso die štruklji, die Tihomir von einer Nachbarin geholt hatte. Hans vertilgte drei Stück der köstlichen heißen Schnitten aus Frischkäse.
Er aß gerade das letzte Stück, als vor dem Haus jemand pfiff. Tonja ging nach draußen. Hans hörte, wie rege palavert wurde. Wenige Minuten später brachte sie nach und nach ihr gesamtes Gepäck herein.
»Das war Mirko. Er hat unsere Sachen aus dem Jaguar geholt.«
»Kann er ihn reparieren?«
Tonja seufzte. »Er könnte schon, aber der Wagen muss verschwinden.«
»Um Gottes willen! Das ist ein Jaguar MK II, Baujahr 1969 – daran hängen viele Erinnerungen!«
»Und dein Nummernschild.«
Hans sackte in sich zusammen. Sein Jaguar nun auch weg! Ein weiterer Abschied für immer.
»Was macht denn dieser Mirko mit meinem Auto?«
Sie grinste. »Er hat ein ganzes Lager mit Jaguar-Ersatzteilen. Würde mich nicht wundern, wenn er aus deinem Auto gleich zwei neue bastelt. Jaguare sind im Kosovo sehr beliebt.«
Durstewitz kam Hans in den Sinn. Oft hatte der Gute eine Mariage vorgeschlagen – man nehme ein paar abgestandene Originalteile, füge sie kunstvoll zu einer neuen Antiquität zusammen und schon war der echte Biedermeier-Sekretär fertig. »Ich hätte da ein paar tolle Handwerker aus Polen, die kriegen das erstklassig hin«, hatte Durstewitz gesagt. Ja, das hätte man machen sollen.
Tonja öffnete eine Tür, die noch tiefer ins Innere des Häuschens führte. Viel Inneres gab es nicht, ein kurzer dunkler Flur führte zu drei weiteren Türen. »Links ist das Gästezimmer, rechts schläft mein Vater und am Ende des Flurs ist das Bad. Dort kannst du dich, wenn du magst, etwas frisch machen.«
Im Gästezimmer stand ein Bett, über dem ein eingerahmtes Foto in Sepia hing. Eine Musikkapelle – einige ältere Herren und ihre Instrumente. Wie die Herren und ihre Hunde. Komplettiert wurde die Einrichtung durch eine wurmstichige Truhe, einen Ohrensessel mit fleckigem Bezug und eine gusseiserne Stehlampe mit trauernden Kordeln. So hatte man um 1947 herum gewohnt, meldete sich der Kenner in Hans. Sie luden ihre Koffer und Säcke ab, dazu die treue Hebammentasche.
»Ich weiß, ist ein bisschen eng hier. Aber das ganze Häuschen hat nur 70 Quadratmeter. Vater hat es selbst gebaut«, meinte Tonja.
Hans ließ sich auf dem Bett nieder. Er sackte durch, die Federn ächzten, der Rahmen schwankte wie eine Jolle in schwerer Dünung. Hier hatte sich wohl schon Marschall Tito in der heroischen Zeit ausgeruht, als es gegen die Besatzer, die deutschen Teufel, ging.
Tonja strich ihm übers Haar. »Ruh dich aus, ich muss noch kurz nach Karlovac, wegen der Bankvollmacht.«
Hans fiel schnell in einen leichten, unruhigen Schlaf. Und in einen scheußlichen Traum. Er stand auf Bahnsteig 18 im Frankfurter Hauptbahnhof und wollte den TGV nach Paris besteigen. Doch die zwei Rucksäcke voller Geldscheine, die er trug, ließen ihn einfach nicht vom Fleck kommen, er stand wie festgefroren. Und schon erschienen die Häscher auf dem Querbahnsteig.
Hans wachte auf, sein Hemd klebte feucht und kalt auf der Haut. Dann geh ich mal ins Badezimmer, sagte er sich und holte ein paar frische Sachen aus einem der Koffer.
Das Badezimmer war kleiner als sein Gäste-WC im Frankfurter Westend, die Ausstattung antiquarisch: ein Klo nebst lockerem Plastikdeckel, ein rissiges Waschbecken und eine Duschkabine, deren Vorhänge an den Rändern schwarze Flecken zierten. Der guguljakische Schimmelpilz. Ein Boiler, den wohl die deutschen Teufel 1945 zurückgelassen hatten. Irgendwie war das alles charmant in seiner Kargheit, machte sich Hans Mut. Er zog sich aus, fischte aus seinem Kulturbeutel ein Fläschchen Duschgel und stieg in die Duschkabine. Misstrauisch musterte er den Duschkopf hoch über sich und drehte vorsichtig an den zwei Hähnen. Im Boiler fing es an zu gurgeln, und ein stechend heißer Wasserstrahl streifte seine Schulter. Hans sprang aus der Kabine, machte ganz lange Arme und drehte erneut an den Hähnen. Nun war die Temperatur angenehm. Er stieg wieder hinein, seifte sich gründlich ein und begann, das Duschen zu genießen. Plötzlich krächzte der Boiler, ein Schwall eiskalten Wassers trieb ihn erneut aus der Kabine. Der Boiler wechselte in eine Art Keuchhusten. Das Wasser versiegte. Da stand er, komplett eingeseift. Neben dem Waschbecken hing ein gelb geflecktes, feucht-fettiges Handtuch. Zitternd versuchte Hans, sich damit trocken zu rubbeln. Dabei schaute er durch ein winziges Fenster in den Garten hinter dem Haus. Auf der Wiese stand eine Gras kauende eitergelbe Ziege. Sie nahm Hans wahr, trottete näher und glotzte ihn mit fahlen Augen an. Hans war sich sicher, dass exakt diese Ziege am Morgen dieses Tages mit genau diesem Handtuch abgetrocknet worden war.
Er seufzte. Sein erster Tag als Multimillionär.