Читать книгу Das Gleichnis oder Michas Welt der Smybole - Alexander Kopitkow - Страница 13

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Ohne Unterbrechung klatschte der Regen gegen die Scheiben des Abteilfensters. Micha hatte es längst aufgegeben, zu versuchen, irgendetwas von der Landschaft da draußen zu erkennen. Er war sich auch ziemlich sicher, dass all die Weiden, Felder und Wiesen noch immer da waren...

Die laute Reisegruppe im Nachbarabteil war inzwischen ruhig geworden.

Michas Blick streifte nur kurz die Zeitung unter der Bank, die den Schuh und die schreckliche Spritze verdeckte.

Ständig musste er an die Frau auf dem Fensterplatz ihm gegenüber denken. Was war da geschehen? Und Mam hatte ihm nahegelegt, mit niemandem über die Sache zu sprechen, jedenfalls solange sie noch in diesem Zug saßen.

"Sie wird ihre Gründe haben", überlegte Micha, „aber trotzdem... normal war das alles nicht. Oder befürchtete Mam vielleicht, dass auch sie beide in Gefahr seien? Aber in welcher Gefahr?“ Micha versuchte sich vorzustellen, wie vielleicht finstere Typen die alte Frau betäubt und dann aus dem Abteil geschleift hatten - aber warum? Und wohin?

Und niemand hatte etwas bemerkt?!

Der Schaffner konnte sich nicht einmal an sie erinnern! Steckte der mit den Dunkelmännern etwa unter einer Decke?

Das war alles ziemlich merkwürdig.

Auf dem Gang vor der Abteiltür kamen Schritte näher. Micha bemerkte, wie seine Mutter genau so nervös wie er selbst die Glastür beobachtete. Aber es ging nur ein älterer Mann in Wanderkleidung - mit einem Rucksack auf dem Rücken und einem Gamsbarthut auf dem Kopf - vorbei, indem er Micha kurz musterte.

"Wenn der in dieser Gegend bergsteigen will", sagte Micha leise, nachdem der Mann fort war, "wird er ziemlich lange suchen müssen."

Seine Mutter nickte gedankenlos; ihr gingen offensichtlich andere Dinge durch den Kopf.


Der Rest der Fahrt verlief ohne weitere Zwischenfälle. Während der letzten 20 Minuten hatte der Regen plötzlich aufgehört - "wie abgedreht", dachte Micha - und gleich darauf kam ein strahlend blauer Himmel zum Vorschein; die Wolken öffneten sich wie ein Bühnenvorhang für die Nachmittagsvorstellung der noch immer hoch stehenden Sonne. Die vielen Pfützen verdampften zusehends und nach weiteren 15 Minuten Fahrt war von der ganzen Wasserflut keine Spur mehr zu sehen.


Als der Zug in den Bahnhof einlief, hatte Micha sich darauf gefasst gemacht, nun vielleicht doch noch eine unangenehme Überaschung zu erleben. Aber es geschah nichts. Auch stieg niemand sonst aus dem Zug. Micha und seine Mutter waren die beiden einzigen.

Sie nahmen ihr Gepäck und gingen zu dem einzigen Taxi hinüber, das vor dem Bahnhofsgebäude wartete.

"Hotelpension Krüger, bitte", sagte Mam zu dem Fahrer, der ausgestiegen war, um den Kofferraum zu öffnen.

Die Fahrt ging kreuz und quer durch ein hübsches Städtchen, in dem es von Touristen wimmelte. Micha erkannte sie an ihren kurzen Hosen und albernen Sonnenhüten sowie den umgeschnallten Kameras. Sie saßen in den Straßencafes, drückten sich vor den Souvenirläden die Nasen an den Auslagen platt und fotografierten sich ständig.

"Ein wunderbares Wetter haben Sie hier", sagte Mam zu dem Fahrer, und der brummte zurück, dass sie für ihre Kurtaxe auch was verlangen könne.


Die Hotelpension Krüger war ein unscheinbares zweistöckiges, weißgestrichenes Haus mit einem kleinen Vorgarten in einer ganzen Straße voller unscheinbarer Häuser mit Vorgärten.

Frau Krüger, die Besitzerin, war eine freundliche, rundliche Frau, die ihre beiden neuen Gäste an der Haustür empfing. Sie rieb sich ihre Hände an Ihrer Schürtze trocken, bevor sie den beiden ein Hand zur Begrüßung reichte und war wohl gerade beim Essen vorbereiten.

"Haben wir da nicht ein herrliches Wetter für Sie?" fragte sie, und Mam nickte:

"Vor 20 Minuten glaubten wir noch an eine neue Sintflut. Und jetzt - kein Wölkchen mehr am Himmel!"

Frau Krüger nickte verständnisvoll:

"Ja, ja. So ist das nunmal. Auf Regen folgt Sonnenschein.“


Das Zimmer, in das Frau Krüger ihre Gäste führte, war nicht besonders groß, aber es hatte einen kleinen Erker, in dem ein bequemer Polstersessel stand, von dem aus man über die Strandpromenade hinweg direkt das Meer sehen konnte.

"Abendessen zwischen 18 und 19 Uhr unten im Gemeinschaftsraum im Erdgeschoß. Wenn Sie frische Handtücher brauchen, einfach die benutzten auf dem Boden liegen lassen ...und falls Sie irgendwelche Wünsche haben, Sie können jederzeit zu mir oder meinem Mann kommen. Einer von uns ist immer im Haus. Sie können ganz beruhigt sein. Sie brauchen nur in der Rezeption zu läuten." sagte sie und verließ das Zimmer.

"Hä!?" dachte Micha, "ich bin doch ganz ruhig!"


Nachdem Frau Krüger gegangen war, schob Mam die Gardinen beiseite und öffnete die Fenster. Das Rauschen der Brandung war deutlich zu hören, denn trotz des sonnigen Himmels war das Meer noch unruhig, so dass sich kleine Schaumkronen auf den Wellenkämmen bildeten.

"Schau dir das an!" sagte Mam voller Begeisterung, "was für ein Ausblick! Micha, willst du das nicht sehen?!"

Micha hatte sich auf sein Bett fallen lassen. Die Bahnfahrt steckte ihm noch in den Knochen.

"Später", sagte er nur.

"Sowas!" wunderte sich Mam und begann ihren Koffer auszuräumen, "da haben wir nun das Meer direkt vor unserem Fenster und du schaust es nicht einmal an."

"Ich schätze, dazu hab ich noch lange genug Gelegenheit", sagte Micha. Er atmete die salzige Luft ein und fand, sie roch nach Sandburgen und Langeweile.


Mam hielt in ihrem geschäftigen Hin und Her inne; sie hatte ihren Beautycase geöffnet und setzte sich mit Handspiegel und Haarbürste in der einen, Tuben und Töpfchen in der anderen Hand, neben Micha aufs Bett.

Sie schien ihm etwas sagen zu wollen, ohne aber zu wissen wie. Schweigend ordnete sie die Utensilien auf der Bettdecke, als wäre das die Ablage im Badezimmer. Micha war gespannt, was nun kommen würde. Dass es etwas Wichtiges war, erkannte er daran, dass Mam - wie immer in solchen Fällen - alle Gegenstände in ihrer Reichweite sinnlos hin und her schob. Geschah so etwas am Esstisch, so ordnete sie Besteck, Blumenvase und Serviettenringe, vor dem Fernseher ordnete sie Salzstangen, Fernbedienung und Aschenbecher; aber im Augenblick taten es auch der Handspiegel, die Cremetiegel und Tuben.

"Ich muß dir noch was zu der Geschichte im Zug sagen", begann Mam schließlich.

"Aha", dachte Micha und starrte zur Zimmerdecke.

"Folgendes - ", fuhr Mam fort, "du weißt ja, woran dein Vater in dieser Firma arbeitet."

Micha rührte sich nicht, obwohl Mam das wohl erwartet hatte. Nach einer kleinen Pause sagte sie:

"Wenn ich ihn richtig verstanden habe, geht es ja wohl irgendwie um das Anzapfen von geheimen Computerdaten."

"Mir erzählt er sowas nicht", murrte Micha.

"Schatz, dein Vater sagt, je weniger wir beide wissen, desto besser für uns."

"Wieso?!" Micha fuhr auf, saß im Schneidersitz auf seinem Bett und schaute seine Mam fragend an.

Micha konnte diese Ansicht seines Vaters nun wirklich nicht teilen.

"Es hängt irgendwie mit Spionage, Satelliten, Geheimdiensten und sonstwas zusammen. Ich weiß es wirklich nicht. Paps ist der Überzeugung, dass da mit ziemlich schmutzigen Tricks gearbeitet werden könnte, weil so viel auf dem Spiel steht, nationale Sicherheit und Milliardenbeträge und so. In der Firma geben sich zurzeit die übelsten Dunkelmänner die Klinke in die Hand, meint dein Vater."

"Deswegen!" sagte Micha. "Deswegen sind wir hier! Wir sind in der Verbannung! Und ich dachte, du wolltest mit mir einfach in die Ferien fahren!!" Micha war ziemlich sauer.

"Das tun wir doch auch, Schatz! Wir sind doch beide in den Ferien. Nur du und ich. Was kümmern uns diese blöden Computer. Wir vergessen das Ganze jetzt einfach und machen uns ein paar wundervolle Tage am Meer. Einverstanden?" Mam nahm seine Hand und hielt sie fest.

"Einverstanden." gab Micha nickend zurück.

"Und kein Wort mehr darüber?" Mam schaute ihn prüfend an.

"Kein Wort." entgegnete Micha

Versprochen?"

"Versprochen. Aber was hat das mit der Oma im Zug zu tun? War sie eine Agentin? Wollte sie uns entführen oder sowas?"

"Schatz..."

"Ich weiß, kein Wort mehr. Aber wo ist sie geblieben? Hat sie sich selber entführt?... Ja, ich weiß. - Und wie lange müssen wir hier bleiben?" Micha ließ sich wieder rückwärts aufs Bett fallen.

"Dein Vater sagt, bis ein paar brisante Geschäfte mit dem Nahen Osten abgewickelt sind." sie stand auf, fuhr mit dem Auspacken fort und verstaute ihre Kleider im dafür vorgesehenen Schrank.

"Und was hat das mit uns zu tun?" wollte Micha wissen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blickte wieder an die Decke.

"Das weiß man nie so genau bei Agenten." Mam sperrte den Schrank zu und schob den Koffer in eine Nische neben dem Kleiderschrank.

"Hmm... Und wann sind diese Geschäfte abgewickelt?"

Mam arrangierte ihre Waschutensilien und Cremetöpfchen im Badezimmer auf einer Ablage und rief:

"Das kann morgen sein - oder auch in 3 Wochen. Das ist noch nicht sicher."

"Vielleicht war die alte Frau in Wirklichkeit ein verkleideter Spion?" grübelte Micha laut.

"Schatz, was hast du mir grade versprochen?" rief Mam und steckte ihren Kopf durch den Türrahmen.

"Tschuldige. - Aber hatte sie auch was damit zu tun?" meinte Micha, sprang auf und setzte sich auf die Bettkante. Mam klapperte mit irgendetwas im Bad

"Ich weiß es doch nicht.“ rief sie, „ich weiß nur, dass wir ein bisschen vorsichtig sein sollten, in der nächsten Zeit. Aber deshalb lassen wir uns die Ferien nicht verderben. Und jetzt kein Wort mehr darüber!"

"Hast du übrigens das nette Eiscafé an der Ecke bemerkt?" fragte sie, als sie aus dem Badezimmer kam.

"Das mit den Sonnenschirmen?" Micha schaute aus dem Fenster und beobachtete das Meer, das die Sonnenstrahlen wie ein Glitzerteppich reflektierte.

"Genau das. Ich hätte Lust auf eine große Portion Früchteeis mit Sahne. Kommst du mit?"


Das gemeinsame Abendessen aller Gäste im Hause Krüger, auf das Micha am liebsten verzichtet hätte, wenn es nicht im ganzen Hotel so lecker nach Hähnchen geduftet hätte, verlief dann doch noch spannender, als er anfangs erwartet hatte. Und zwar war seine Mutter mit einer Familie am Nebentisch ins Gespräch gekommen, zu der auch ein Mädchen in Michas Alter gehörte; vielleicht war sie auch schon ein wenig älter. Jedefalls hatte sie langes, zu einem Pferdeschwanz gebundenes, kastanienbraunes Haar und war genauso groß wie Micha. Sie schwieg die ganze Zeit und Micha schien es, als hätte sie ein schlechtes Gewissen: immer wenn er zu ihr hinüber sah, schaute sie weg. Sie hieß Marion, erfuhr Micha, und am Ende schenkte sie ihm sogar ein ganz kleines Lächeln. Dabei bemerkte er ihre wunderschönen, großen, braunen Rehaugen, in die sich ein Junge in Michas Alter sofort verlor, wenn er hineinblickte.


Beim Abendspaziergang auf der Kurpromenade, wo sich - nach Mams Erkenntnis - alles traf, was sich noch irgendwie auf den Beinen halten konnte, mit Ausnahme der Ortsansässigen - hielt Micha ebenso unauffällig wie vergeblich Ausschau nach Marion und ihrer Familie.

"Ich glaube", sagte Michas Mutter unvermittelt, "morgen am Strand werden wir bestimmt die netten Leute vom Nachbartisch treffen."

Das war wieder so ein Moment, wo Micha sich fragte, ob seine Mam vielleicht Gedankenlesen konnte.


Als die ferne Kirchturmuhr Mitternacht schlug, lag Micha immer noch wach. Die Gardine vor dem offenen Fenster blähte sich im sanften Nachtwind. Micha betrachtete den schwachen Lichtschein einer einsamen Laterne drüben auf der Kurpromenade, der den Schatten der Gardine als ein wogendes Meer an die Zimmerdecke warf, untermalt von dem monotonen Rauschen der Brandung.

"Hätte ich nicht vor Sandra wie ein Idiot geprahlt", grübelte Micha, "ich säße jetzt nicht in diesem blöden Kaff und müßte mich vor verkleideten Agenten in acht nehmen. Keiner hätte erfahren, dass mein Vater eine Familie hat, die man vor Kidnappern und Erpressern verstecken muss. Schöner Mist!"

Andererseits, so überlegte Micha weiter, war es vollkommen in Ordnung, wenn sein Vater fest mit der Hilfe und Kooperation seines Sohnes rechnen konnte. Auch wenn diese im Augenblick nur darin bestand, wegzulaufen.


Beim Frühstück war Micha ein wenig enttäuscht, Marions Familie nicht zu sehen. Aber er ließ sich nichts anmerken.

"Ich glaube", sagte Mam, "wir sind die einzigen Langschläfer hier. Die anderen sind bestimmt schon alle am Strand."


Der Wind, der vom Meer wehte, war angenehm frisch und brachte einen aufregenden Duft von Ferne und Abenteuer.. Er hatte Schuhe und Strümpfe in der Hand und platschte durch das flache Wasser.

"Ist wirklich nicht kalt!" rief er zu seiner Mutter hinüber, die, ebenfalls barfuß, durch den Sand stapfte, "komm, versuch's doch mal."

"Schau, wer da oben kommt." rief Mam zurück.

Micha folgte ihrem Blick und hielt die Hand indianermäßig über den Augen, als die Sonne ihn blendete. Dort oben, auf den letzten Metern der Kurpromenade, kam ihnen Marion mit ihren Eltern entgegen. Sie schien Micha bemerkt zu haben, aber sie zeigte es nicht.

"Wir können auch da oben gehen", schlug Micha seiner Mutter vor, "wenn du das lieber möchtest."

Ohne ihre Antwort abzuwarten und wie absichtslos änderte er seinen Kurs in Richtung Promenade.

"In diesem Kaff kann man sich nicht aus dem Weg gehen", stellte Mam fest, während sie ihrem Sohn folgte, "selbst wenn man es wollte."

"So, nutzen Sie auch das schöne Wetter", sagte Marions Mutter mit einem breiten Lächeln, "Recht haben Sie." Sie war nicht gerade schlank und wirkte in ihren geblümten Leggins wie ein Walfisch - in Leggins eben.

Marion hatte heute ein ganz weißes Kleid an, das ihre braune Haut und ihre dunklen Haare und braunen Augen wunderbar betonte; Micha fand, sie sah noch hübscher aus als gestern Abend im Speisesaal. Sie hatte so dichte, lange Wimpern, dass er einen Moment glaubte, sie habe sich geschminkt. Aus irgendeinem Grund schaute Marion heute nicht weg, wenn er sie ansah.

"Hast du gehört?" sagte Mam.

"Ja, was?" fragte Micha.

"Ich sagte, ihr könnt ja ein wenig runter zum Wasser, wenn ihr nicht auf dieser Bank sitzen wollt."

"Okay, machen wir", sagte Micha, und mit einem Blick zu Marion: "oder?"

Marion nickte. Und so stapften sie schweigend zum Wasser hinunter, während sich die Erwachsenen auf der weißen Bank niederließen.


"Weißt du, was ich heute nacht geträumt habe?" wollte Marion wissen.

Micha sah sie kurz an, als könnte er ihren Traum an ihrem Gesicht ablesen.

"Keine Ahnung." sagte er und bewunderte insgeheim ihre makellose Schönheit.

"Wir sind hier zusammen über den Strand gegangen." Marion schaute verlegen auf den Boden, als sie ihm das erzählte.

"Wir beide?!" Micha war erstaunt.

Marion nickte freundlich und schaute ihn an.

"Tatsächlich?"

Wieder nickte Marion.

"Und dann? Ich meine, war das alles?" wollte Micha wissen.

"Wir hatten unsere Finger so verhakt."

Marion hakte ihren kleinen Finger an Michas kleinen Finger und lächelte ihn an.

"Wirklich? Und sonst?" Micha wurde rot und zudem etwas verlegen, weil sie ihn so unvermittelt berührte, denn damit hat er nun gar nicht gerechnet.

"Sonst nichts." Sie ließ Micha wieder los. "Der Sand hat unglaublich toll geschimmert, in ganz seltsamen Farben, wie es sie in Wirklichkeit überhaupt nicht gibt. Auch das Meer war ganz klar und blaugrün und man konnte bis auf den Grund sehen, wo kleine leuchtende Fische um uns herum schwammen. Und die Wellen funkelten und blitzten, als wären es lauter Kristalle oder Edelsteine." sagte sie mit einem verträumten Leuchten in den Augen.

"Aber ich denke, wir waren am Strand." fragte Micha argwöhnisch

"Ja, aber dann waren wir plötzlich im Wasser und schwammen."

"Einfach so?" bohrte Micha weiter.

"Ja, und auch beim schwimmen haben wir so unsere Finger verhakt."

"Aber so kann man doch überhaupt nicht schwimmen." argwöhnte Micha immer noch.

"Wir mussten uns ja nicht bewegen. Das Wasser trug uns von allein. Einfach so." wieder schaute Marion sehr verträumt ins Leere und machte eine Handbewegung, die eine Welle andeutete.

"Und wie ging es weiter?" wollte Micha wissen.

"Das war alles", lächelte Marion.

"Wir sind da bloß so rumgeschwommen?" fragte Micha ungläubig.

"Ja, und wir haben uns die ganze Zeit angesehen." antwortete Marion und blickte ihn mit ihren großen Kulleraugen an. Micha bemerkte, wie ihn dieser Blick beinahe hypnotisierte.

"Tatsächlich? Und... ich meine wie sah ich aus?"

"Du warst... Es war ein ganz seltsamer Traum. Viel realistischer als normal."

Die beiden hatten sich in den Sand gesetzt und sahen aufs Meer hinaus. Micha versuchte, sich die Welt in Marions Traum vorzustellen. Schade, dachte er, dass er selber nur irgend so ein belangloses Zeug zusammmengeträumt hatte, an das er sich nicht mal mehr erinnern konnte.

"Seid ihr schon lange hier?" fragte er schließlich.

"Über eine Woche", antwortete Marion.

"Bleibt ihr noch lange?" bohrte Micha weiter

"Bis Sonntag."

"Bis übermorgen?" diesmal schaute Micha mit großen Augen und angehobenen Brauen, beinahe enttäuscht.

Marion nickte:

"Ja, warum?" wollte er weiter wissen.

"Ach, wir haben halt nur bis Sonntag die Zimmer reserviert."

Marion hatte Micha ihr Gesicht zugewandt und betrachtete ihn. Und Micha schaute geradeaus aufs Meer hinaus. Er stellte sich vor, es sei wunderbar klar, so dass man bis auf den Grund sehen konnte, von wo der Sand weiß heraufschimmerte und wo ganze Schwärme leuchtender Fische ein schweigendes Unterwasserballett aufführten.


"Wenn wir uns nicht beeilen, kommen wir wahrscheinlich auch zu spät zum Mittagessen", sagte Mam nervös. Sie stütze sich mit einer Hand auf Michas Schulter ab und leerte mit der anderen den Sand aus ihren Schuhen.

"Ist doch noch nicht mal 12, Mam", wiegelte Micha ab.

"Ich will mir auch noch dieses Salz von den Füßen abwaschen. Wenn es auf der Haut trocknet, entstehen feine Risse, und das kann sehr schmerzhaft sein. Weißt du übrigens, was dieser Neureuther von Beruf ist?" Mam zog ihre Schuhe wieder an.

"Welcher Neureuther?" wollte Micha wissen.

"Na, diese Familie von vorhin."

"Ach die", sagte Micha und dachte: 'Marion Neureuther'.

"Er ist so ein hohes Tier beim Geheimdienst!" raunte Mam mit Nachdruck.

"Ja und?" fragte Micha, während sie die Promenade verließen und den schmalen Weg zu ihrem Hotel hinüber gingen.

"Klingelt da nichts bei dir?"

"Nein, was denn?" Micha hob fragend die Schultern.

"Beim G e h e i m d i e n s t !"

"Ach so! Ich denk' wir wollen nicht mehr darüber reden." bemerkte Micha und zuckte abermals mit den Schultern.

"Aber das hier ist vielleicht ein Notfall!" meinte Mam energisch.

"Meinst du, die sind uns nachgereist? Mam, die Leute sind schon über eine Woche hier!"

"Ja und? Wir haben diesen Urlaub seit einer Woche geplant!" sagte Mam.

Mam hatte mit Betreten des Hotels ihre Stimme zu einem Flüstern reduziert. Micha flüsterte ebenso zurück:

"Also wirklich, ich finde, du übertreibst jetzt. Und wenn - die sind vielleicht zu unserem Schutz da. Das wäre ja auch möglich. Außerdem sind das doch Deutsche, oder!" Micha schaute sich um, ob auch ihnen niemand zuhörte.

"Mein Kind, hast du noch nie was von Gegenspionage und Doppelagenten gehört?!"

Für Mam bedeutete es offenbar eine große Erleichterung, nach dem Zwischenfall im Zug ihren Sohn endlich eingeweiht zu haben und all ihre Ängste mit ihm teilen zu können - selbst unter der Bedingung, niemals darüber zu sprechen.

"Wirklich, Mam. Man kann sich auch was einreden."

Aus dem Speisesaal war Tellerklappern zu hören.

Micha schnupperte:

"Was ist denn das für ein Geruch?" fragte Micha.

"Welcher Geruch?" entgenete Mam.

"Aus der Küche."

Mam schnupperte kurz, während sie nach dem Zimmerschlüssel in ihrer Handtasche kramte.

"Das? Labskaus. Heute gibt es hier Labskaus mit Rotebeete und Spiegelei."

"Igitt, was ist denn das?" rümpfte Micha die Nase.

"Du kennst kein Labskaus? Das ist hier so eine Art National... "

Mitten im Satz war Mam verstummt und zur Bewegungslosigkeit erstarrt.

" ...gericht.", ergänzte Micha, der im ersten Moment glaubte, seine Mutter sei bei dem Gedanken an dieses Labskaus erstarrt.

Aber dann merkte er, dass etwas mit ihrem Zimmer nicht stimmen konnte. Mam hatte die Tür halb geöffnet und war völlig sprachlos. Micha schaute ihr über die Schulter, um zu sehen, was los war. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Die Zimmereinrichtung war ein einziges Chaos. Der Schrank stand offen, alle Fächer und Schubladen waren durchwühlt, der Inhalt auf dem Boden verstreut, die Stehlampe umgeworfen, das Bild von der Wand genommen, sogar die Betten waren durchwühlt, das Bettzeug und die Matratzen aufgeschlitzt, nichts befand sich an seinem Platz.

"Lass uns die Polizei holen." sagte Micha leise

"Warte einen Moment hier, ich schau mal ins Badezimmer", flüsterte Mam und schon hatte sie das Zimmer durchquert. Auch die Badezimmertür war nur angelehnt. Mam öffnete sie vorsichtig und sah sich kurz um.

Im selben Moment kamen Schritte die Treppe herauf. Micha spürte so etwas wie Panik in sich aufsteigen. Wenn das irgendwelche Agenten waren, konnte es gleich ziemlich unangenehm werden.

"Mam!" versuchte Micha seine Mutter noch zu warnen. Aber es war schon zu spät.

Mam bemerkte Michas erschrockenes Gesicht erst, als sie auch schon die Schritte auf dem Treppenabsatz und gleich darauf auf dem Korridor hörte. Sie eilte zur Zimmertür um Micha und sich einzuschließen, falls die Zeit dazu noch reichen sollte. Doch im letzten, schmalen Spalt, bevor sie dieTür schloss, bemerkte Mam, dass es Frau Krüger war, die sich ebenso eilig wie aufgeregt näherte.

Mam öffnete die Tür wieder und sah Frau Krüger ratlos an.

"Schnell, schnell! Sie müssen fort hier!" sagte Frau Krüger leise aber mit äußerstem Nachdruck, "lassen Sie alles stehen und liegen! Ich habe meinen Schwager benachrichtigt, er leitet den Autoverleih gegenüber vom Rathaus. Er müsste jede Sekunde hier sein!"

"Was ist denn hier bloß passiert?!" wollte Mam wissen, aber Frau Krüger antwortete nur:

"Fragen Sie nicht! Beeilen Sie sich lieber, damit Sie weg sind, wenn die zurückkommen!"

"Wer?", fragte Micha, erhielt aber keine Antwort.

Frau Krüger war ans Fenster getreten. Ein roter Pkw fuhr in diesem Moment vor. Ein Mann mit ein paar Papieren in der Hand stieg aus und sah zu Frau Krüger hinauf. Die deutete ihm mit einem Handzeichen, dass er unten warten solle.

Mam und Micha hatten hastig ein paar Sachen zusammengeräumt, und wollten nun auch die auf dem Boden verteilten Kleider einpacken, aber Frau Krüger schob sie energisch zum Zimmer hinaus.

"Kaufen Sie sich unterwegs, was Ihnen fehlt! Sie müssen jetzt fort!"

"Aber... " wollte Micha protestieren.

"Seid froh, dass ihr gesund und heil seid!" sagte Frau Krüger, "und nicht vorn raus gehen, sondern zur Hintertür. Dort steht der Wagen für Sie!"

"Was bin ich Ihnen schuldig?" stotterte Mam verwirrt.

"Das rechnen wir über die Firma Ihres Mannes ab. Diese Tür, bitte."

Die drei waren im Erdgeschoss angelangt. Frau Krüger sah sich vorsichtig um, ehe sie zu dem wartenden Mann hinüberging, der direkt vor der Tür an dem Wagen lehnte. Der Motor lief. Sie wechselte ein paar Worte mit ihm, nahm das Gepäck von Mam und Micha und warf sie auf die Rücksitze. Der Mann übergab Mam die Papiere und sagte:

"Sie können den Wagen in jeder größeren Stadt zurückgeben. Gute Fahrt!"

Er hielt Mam höflich die Tür beim Einsteigen, während Micha schon auf der Beifahrerseite saß und sich anschnallte. Mam drehte die Scheibe herunter, um sich noch zu bedanken, aber Frau Krüger ließ sie gar nicht zu Wort kommen:

"Fahren sie, um Himmels Willen! Alles Gute!"

Mit diesen Worten verschwand sie in ihrer Hotelpension, gefolgt von ihrem Schwager.

Mam gab Gas.

Nach etwa vier Minuten hatte ihr roter Mietwagen die Ortsmitte erreicht. Ein Streifenwagen mit Blaulicht und Martinshorn kam auf sie zu - und rauschte an ihnen vorbei. Und nach weiteren fünf Minuten war - ohne Zwischenfälle - der Ortsausgang erreicht.


"Was hatte denn das zu bedeuten?!" fragte Micha, als sie sich in gemütlicherem Tempo auf der Landstraße in Richtung Autobahn bewegten.

"Woher soll ich das wissen?" antwortete Mam, die immer wieder mal einen Blick in den Rückspiegel warf, "das solltest du besser deinen Vater fragen. Ich kann dir nur eins sagen: komm mir ja nicht eines Tages und sage, du willst in die Computerbranche! Ich hätte schon damals misstrauisch werden sollen - als dein Vater sagte, er arbeite in einer Softwareschmiede" - das Wort 'Softwareschmiede' sprach sie aus, als müsse sie sie gleich übergeben - "wieso bin ich nicht auf einen Konditor oder Staubsaugervertreter reingefallen, wieso ausgerechnet auf deinen Vater!"

"Mir geht's auch nicht besser", murrte Micha, "immerhin hab' ich einen Vater, der sich die Hälfte meines Lebens vor mir versteckt gehalten hat!"

"Er hat sich nicht vor dir versteckt sondern vor mir", korrigierte Mam.

"Das ist dasselbe", sagte Micha und dachte: wenn ich mich nicht ein bisschen gekümmert hätte, wäre er noch immer über alle Berge....

Obwohl - andererseits hatte sich gar nicht so viel verändert, seit jener unsichtbare Lampengeist ihm seinen Paps zurück gebracht hatte... nur, früher war sein Vater auf der Flucht vor der eigenen Familie - und jetzt floh die Familie vor... ja vor was eigentlich? Jedenfalls - das Ergebnis war des gleiche.

"Was haben die denn unserem Zimmer gewollt?" fragte Micha.

"Was weiß ich. Das müssen Verrückte gewesen sein." antwortete Mam und blickte immer wieder nervös in den Rückspiegel.

"Aber irgendwas haben sie doch gesucht, oder?" wollte Micha erneut wissen.

"Schatz, tu mir den Gefallen und frag nicht so viel. Je weniger wir wissen, desto besser für uns. - frag' deinen Vater."

"Der ist nicht da. Du kannst mir doch sagen, was sie gesucht haben. Ich erzähl's niemandem weiter, Mam. bitte!"

"Du bist ein Quälgeist. Kannst du dich nicht damit zufrieden geben, nicht alles ganz genau zu wissen?"

"Nein."

"Also - dein Vater war der Ansicht, falls seine merkwürdigen Geschäftspartner ähh... auf ein paar miese Tricks verfallen würden, so..."

"Was denn für miese Tricks?" unterbrach Micha.

"Woher soll ich das wissen. Jedenfalls hätten wir beide vielleicht eine Chance, wenn wir ihnen diese dämliche Software überließen, die sie alle wollen. Also hat uns dein Vater eine Miniversion davon mitgegeben."

"Du hast dieses Programm bei dir?!"

"Ja, in meiner Handtasche." Mam deutet mit dem Daumen nach hinten.

"In der Handtasche?! Sind die hinter deiner Handtasche her?! Lass mal sehen." Micha wollte auf den Rücksitz nach der Handtasch greifen, doch Mam hielt seinen Arm fest.

"Schatz, da gibt es nichts zu sehen - es ist eine CD-Rom in einem Beatlescover. Das ist alles. - Und dabei war diese Pension eine Adresse, die wir von der Firma deines Vaters bekommen hatten."

"Dann hat uns jemand in der Firma an die Konkurrenz verraten?" spekulierte Micha nachdenklich.

"Sieht ganz so aus. Dein Vater sagt, in diesem Laden traut er niemandem mehr."

"Und wir? Was machen wir?" wollte Micha wissen.

"Was meinst du?" Mam schaute stur auf die Straße.

"Ich meine, wo sollen wir jetzt hin?" fragte Micha energisch.

"Keine Ahnung. Ich denke, wir fahren erst mal nach Hamburg, kaufen uns ein paar Sachen und rufen heute Abend deinen Vater an; vielleicht kann er uns sagen, wie es weiter gehen soll." „Wieso rufen wir ihn nicht gleich an?“ erwiderte Micha und deutete auf Mams Handy, das in der Mittelkonsole des Wagens lag. „Probiers, aber ich glaube nicht, dass du ihn jetzt erreichst“, sagte Mam und schaute immer noch fortwährend in den Rückspiegel, doch anscheinend folgte ihnen keiner. Und sie hatte recht, es meldete sich nur seine Mobilbox- Ansage.


Micha drehte seine Sitzlehne ein wenig zurück und streckte die Beine aus. Seltsame Geschichte, dachte er, in die er da hineingeraten war. Dennoch - ihm gefiel diese außerplanmäßige Autofahrt. Schließlich war es ein wunderschöner Sonnentag. Nirgendwo zeigten sich irgendwelche finsteren Verfolger - und der Motor ihres Leihwagens schnurrte wie Großvaters Katze, wenn Micha ihr den Nacken kraulte.


Das Gleichnis oder Michas Welt der Smybole

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