Читать книгу Das Gleichnis oder Michas Welt der Smybole - Alexander Kopitkow - Страница 14

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Im Geiste hörte Micha das Ticken der Wanduhr und das Rauschen der alten Linde vorm Fenster. Er hatte den Hauch von Bohnerwachs über den glänzenden Dielenbrettern von Großvaters Arbeitszimmer in der Nase und deutlich sah er vor sich die überquellenden Bücherregale, die bis unter die Zimmerdecke reichten.

"Ich würde wirklich gern wissen, wie es jetzt weitergehen soll", grübelte Micha, "das würde mich echt interessieren."


"Nun gut", sagte der Großvater, "wie wäre es mit einem Orakel? Wir müssen ja nicht gleich auf dem Friedhof einen Toten ausbuddeln...“ Der Großvater schaute ihn spitzbübisch an.

„Häh?!“ fragte Micha ziemlich erschrocken.

„Tja, weißt du“, fuhr der Großvater fort, „es gab Zeiten, da war das nichts Ungewöhnliches, im Gegenteil. Im Altertum war diese Praxis der 'Dämonomantie' weit verbreitet. Dabei nahm sie so merkwürdige Formen an, dass sie schließlich gesetzlich verboten wurde.

Ein bekanntes Beispiel einer Totenbeschwörung ist die Geschichte von König Saul, der solche Verbote erlassen hatte und deshalb heimlich in der Nacht und verkleidet jenes 'Weib von Endor' aufsuchen musste, um sich Rat zu holen, als seinerzeit David das Heer der Philister gegen ihn versammelt hatte.

Die Hexe von Endor fragte ihren nächtlichen Besucher, ob er denn nicht wisse, dass Saul alle Wahrsager und Zeichendeuter habe ausrotten lassen und dass auch sie getötet würde, wenn sie einen Verstorbenen beschwor. Saul versprach ihr, sie nicht zu verraten und bat, ihm den Propheten Samuel aus dem Totenreich zu bringen. - Die Hexe brachte Samuel herauf und merkte erst jetzt, dass sie ihn für König Saul beschworen hatte."

"Und was passierte?" fragte Micha gespannt.

"Samuel prophezeite Saul die Niederlage seines Heeres, den Tod seiner drei Söhne und auch das Ende von König Saul selbst. - Eine ziemlich herbe Prophezeiung." gab der Großvater in einem nüchternen Tonfall zurück.

"Hat sie sich erfüllt?"

"Hat sie."

"Hmm. Wie hat man denn solche Totengeister beschworen?" Micha kratzte sich am Kopf, wie immer, wenn er grübelte.

"Von Homer wissen wir, dass Odysseus die Vermittlung der Zauberin Kirke in Anspruch nahm, als er den verblichenen Teiresias von Theben beschwor. Dazu legte Odysseus einen Graben an, als symbolischen Zugang zur Unterwelt. Als Opfergaben schüttete er Milch, Honig und Wein hinein. Dann schlachtete er noch einen Widder, um auch dessen Blut zu opfern."

"Pfui Teufel. Die hatten ja üble Sitten damals." sagte Micha und zog ein verächtliches Gesicht.

"Ganz deiner Meinung. Aber - auch heutzutage wird noch fleißig geopfert; Menschenblut sogar."

"Tatsächlich? Und wo?" Micha horchte neugierig auf.

"Mitten in der zivilisierten Welt. Vielleicht nicht mehr zum Zwecke der Wahrsagerei, aber noch immer, um die Machtgier politischer oder religiöser Fanatiker zu befriedigen. - Doch Dämonen wurden nicht nur beschworen, um sie physisch in Erscheinung treten zu lassen. Plutarch zufolge vermochten diese Geister durch ihre Gedanken Schwingungen in der Luft zu erzeugen, die von medial begabten Menschen aufgenommen wurden. Auf diese Weise waren für ihn Hellsehen und Telepathie erklärbar.“

„Und diese Dämonen gab es wirklich?“ fragte Micha-

„So wirklich, dass sie sogar mit ihren Namen bekannt waren. Das alte Testament führt als Dämonen die 'zottigen' sche´irim' an, die 'übernatürlichen' schedim, den Wüstendämon Azael und den todbringenden Asmodeus."

"Gab es denn eigentlich immer nur böse Geister?", fragte Micha weiter.

"Nein, nein - glücklicherweise kannte man auch gute Dämonen. Zum Beispiel wurde Agathodaimon in der Spätantike in Alexandrien verehrt. Er war, ähnlich wie Hermes Trismegistos, eine mythische Persönlichkeit und wurde mit Adams Sohn Seth identifiziert.

Er nahm auf das kulturelle Leben jener Zeit Einfluss. Von ihm soll auch ein Rätsel stammen, das bei richtiger Lösung Auskunft erteilen würde über seinen, Agathodaimons, wahren Charakter. Noch Renaissance- und Barock-Gelehrte haben sich über diesem Buchstabenrätsel den Kopf zerbrochen; Leibniz war einer von ihnen."

"Wie hieß denn das Rätsel, Großvater?" wollte Micha wissen.

"Wir beide werden es auch nicht lösen, fürchte ich." gab Großvater zu bedenken

"Nur, um zu sehen, womit die Leute damals sich so beschäftigt haben, bitte."

"Also gut, hier ist es:

'Buchstaben zähle ich 9; 4-silbig bin ich. Nun erkenn mich / welche von 3-en zuerst, hat 2 der Buchstaben jede/ und was übrig die Anderen fasst; aber 5 sind lautlos / aber die Summe der Zahlen enthält 800 zweimal / 3 x 30 dazu mit 7. Und weißt du, wer ich bin, dann bist du nicht uneingeweiht in die göttliche Weisheit.' "

"Interessant.", sagte Micha.

"Und? Haben sich dir die Schleier zu Agathodaimons Geheimnis gelüftet?" fragte der Großvater mit schelmischem Unterton.

"Noch nicht ganz. Aber das ist bloß noch eine Frage der Zeit." antwortete Micha und winkte ab.

"Dann solltest du vielleicht mal Harry bitten, wenn er einen guten Tag hat."

Der Großvater zwinkerte Micha zu.

"Natürlich" fuhr er fort, "waren seinerzeit nicht alle Menschen von der Existenz der Dämonen überzeugt. Auch damals schon machte man sich über einen solchen Geisterglauben lustig.

Aber so sind wir Menschen nun mal - wenn wir uns im Dunkeln fürchten, machen wir lauthals Witze. Einer dieser Spaßvögel war der satirische Schriftsteller Apuleius, der im Jahre 125 geboren wurde. In seinem Roman 'Metamorphosen' beschreibt er, wie er als mittelloser, junger Reisender in Thessalien hört, dass man einen Leichenwächter suche. Er wundert sich darüber und fragt, ob es in Thessalien üblich sei, dass die Leichen davonlaufen und er erfährt, dass die Hexen in dieser Gegend für ihre magischen Rituale das Fleisch verstorbener Menschen von deren Gesichtern nagen. Auch gingen diese Zauberinnen unglaublich listig vor - sie würden sich vermittels furchtbarer Zaubersprüche als Vögel, Hunde oder sogar Fliegen dem Leichnam nähern und ihn abscheulich verstümmeln, während der Wächter in einen magischen Schlaf versetzt sei."

"Und wie ging die Geschichte weiter?" fragte Micha neugierig.

"Apuleius, der das Geld braucht, nimmt den Job an. Er wird in das Haus geführt, wo der Tote aufgebahrt ist. Die trauernde Witwe nimmt in Gegenwart eines Notars eine Bestandsaufnahme an der Leiche vor: Mund, Nase, Lippen, Augen, Kinn - alles ist vollständig vorhanden und muss von dem Leichenwächter mit Unterschrift bestätigt werden.

Dann beginnt seine Totenwache. Apuleius wird immer müder und müder. Gegen Mitternacht hat sich plötzlich ein Wiesel in den Raum geschlichen und starrt ihn unverwandt an, ohne sich vertreiben zu lassen. Als das Tierchen sich dann schließlich wieder verdrückt hat, fällt Apuleius in einen abgrundtiefen, magischen Schlaf.

Er wacht auf, als die Witwe am nächsten Morgen hereinkommt, um nachzusehen, ob der tote Gemahl noch vollständig ist. Das ist glücklicherweise der Fall und Apuleius erhält seinen Lohn.

Später trifft er auf dem Marktplatz die Leichenprozession, wo ein Mann aus der Menge dem Volk erzählt, jener Tote, sein Neffe, den Apuleius in der Nacht bewacht hatte, sei keines natürlichen Todes gestorben - in Wirklichkeit sei er von seiner Frau vergiftet worden. Man holt einen Nekromanten, also einen Totenbeschwörer, um von dem Ermordeten direkt zu erfahren, ob das die Wahrheit sei.

Der Tote wird wiedererweckt und bestätigt, dass seine Frau ihn tatsächlich vergiftet habe. Aber die bestreitet alles und das Volk weiß nicht, wem es glauben soll. Da sagt der Tote, er werde zum Beweis, dass er die Wahrheit sage, etwas berichten, was sonst überhaupt niemand wissen kann.

Dann zeigt er auf Apuleius, der mitten in der Menge steht, und ruft: "Dies ist der Mann, der mich die ganze Nacht lang gewissenhaft bewacht hat. Doch dann kamen die Hexen und versenkten ihn in einen magischen Schlaf. Sie riefen mich bei meinem Namen, bis meine leblosen Glieder widerwillig ihrem Zauber gehorchten. Aber auch mein Wächter, der wie ein Toter schlief und denselben Namen wie ich trägt, begann zu wandeln. Durch ein kleines Loch in der Wand schnitten die Hexen ihm Nase und Ohren ab. Er ist also nicht für seine Totenwache sondern für seine Verstümmelung bezahlt worden."

Apuleius greift sich erschrocken an die Nase und die Ohren; diese lösen sich zu seinem Entsetzen ab und er hält Nachbildungen aus Wachs in der Hand."


"Das ist aber nicht besonders logisch", meinte Micha.

"Muß eine Geschichte logisch sein, damit du darüber lachen kannst?"

"Logisch." raunte Micha.

"Tja", sagte der Großvater; "das bedeutet wohl, die Menschen der Antike lachten noch mehr aus dem Bauch heraus. Wir Heutigen sind dagegen ziemlich kopfgesteuert."

"Wir haben nichts mehr zum lachen, oder?" Micha kratze sich am Kopf und verzog sein Gesicht in Grübelfalten.

"So ähnlich. Und wir merken es nicht einmal. - Kopf und Bauch gehören aber zusammen, so wie rechte und linke Hälfte unseres Gehirns.“

„Verstehe“, ergänzte Micha, „wir denken nur noch...“

Micha suchte nach einem passenden Wort.

„Halbseitig“, ergänzte der Großvater.

„Heißt das, wir verstehen auch nur noch die Hälfte?" fragte Micha.

"Gewissermaßen. Und wir glauben deshalb auch, alles zu verstehen. Ist das nicht paradox? Solange zum Beispiel mein flach denkender Freund Erich, der Astronom, versucht, sein Universum kreiselnder Gasbälle und frei schwebender Materieklöße mit Hilfe seines Rechenschiebers und des Fernrohrs zu ergründen, versteht er gar nichts. Er träumt nur. Solange er sich fragt, wie alt das Universum wohl sein mag, solange träumt er.“

„Hmm, verstehe. - Und wie alt ist das Universum?“ wollte Micha wissen.

„Erich glaubt, es habe ungefähr 12 Milliarden Jahre auf dem Buckel; jedenfalls sei es jünger als manche Galaxien.“

„Häh?!“

„Eben. Das ist tatsächlich etwas seltsam. Aber streng wissenschaftlich. Und Erich glaubt an die Wissenchaft. Denn er erkennt nicht, dass Raum und Zeit nur innerhalb unseres Universums existieren, dass die Schöpfung ein Symbol für den Schöpfer ist und dass es keine Trennung gibt zwischen Schöpfer, Schöpfung und Geschöpfen."

"Hmm... Was gibt es denn außerhalb unseres Universums, Großpapa?"

"Du kannst dir das Universum als einen Tropfen inmitten eines Ozeans denken, Sohn. Und alles, was wir Menschen momentan von der physischen Schöpfung zu erkennen vermögen, befindet sich innerhalb von diesem Tropfen."

"Aber wie unterscheidet sich denn dieser Tropfen von dem Ozean?"

"Durch nichts."antwortete der Großvater knapp.

"Aber ich denke... hmm. Aber dieser Tropfen muß doch auch irgendwann entstanden sein, oder?" grübelte Micha.

"Sohn, dieser Tropfen, genannt ‘Realität’, existiert lediglich in unseren Köpfen. In Wirklichkeit gibt es nur den Ozean."

"Ja, gut. Aber woher kommt der Ozean? Und wo ist er?"

"So zu fragen, führt zu keiner Antwort. Vergiss nicht, Raum und Zeit existieren ebenfalls nur in unseren Köpfen. Außerhalb, also in Wirklichkeit, gibt es nur einen unendlichen Ozean ewiger Gegenwart." Großvater strich sich wieder mit Daumen und Zeigefinger durch den Bart, wie er es oft tat.

"Aber ewige Gegenwart ist doch auch eine Zeit." warf Micha ein.

"Die Gegenwart, die ich hier meine, heißt Bewusstsein. Und Bewusstsein hat nichts mit Zeit zu tun.

Um aber wieder auf die Astrologie zurückzukommen: für die Priesterkaste der Chaldäer im alten Babylonien waren die Bewegungen der Himmelslichter auf eine sehr direkte Weise mit dem Geschehen hier auf der Erde verbunden. Ihre Erkenntnisse, über lange Zeiträume hinweg auf Tontäfelchen gesammelt und archiviert, bilden bis heute die Grundlagen der Astrologen.

Erst die Entdeckungen der sogenannten 'Transsaturner', nämlich Uranus, Neptun und Pluto, brachten frischen Wind in ihre Studierstuben.

Seltsamerweise fiel die Entdeckung eines jeden dieser 3 Planeten jeweils mit dem Beginn einer Zeitströmung zusammen, deren Besonderheiten durch eben diese Planeten symbolisiert wurden."

"Wie meinst du das?" wollte Micha wissen.

"Uranus z.B., der 1781 von Wilhelm Herschel entdeckt wurde, symbolisiert u.a. technischen Fortschritt durch neue Erfindungen. Und tatsächlich, seine Entdeckung läutete die industrielle Revolution und das Industriezeitalter mit all seinen Veränderungen ein.

Oder Neptun, 1846 von Gottfried Galle gesichtet, symbolisiert neben vielem anderen auch Drogen, Medikamente, Rausch, Rauschgifte. Neptun kam in unser Blickfeld, als Ärzte und Chemiker das Desinfizieren und Pasteurisieren lernten und neue Narkoseformen im Operationssaal gefunden wurden – eben alles Neptun-Entsprechungen.

Pluto wurde 1930 von Clyde Tombaugh entdeckt. Pluto symbolisiert u.a. Macht, Zwang und Gewalt, auch die Masse Mensch sowie gewaltige Umwälzungen und die gleichnamige Plutokratie. Und er wurde entdeckt, als sich Hitler-Deutschland auf den 2. Weltkrieg vorbereitete. Sind das nicht merkwürdige Zufälle?"

"Es gibt keine Zufälle." erwiderte Micha wissend.

"Richtig. Fast hätte ich es vergessen, denn auch der Zufall fällt einem zu und das muss nicht zufällig sein", sagte Großvater lächelnd, "dann müssen wir es wohl 'Gleichzeitigkeit' nennen, oder 'Koinzidenz', oder, wie Carl Gustav Jung, 'Synchronizität'."

"Wie hat er das gemeint?" fragte Micha.

"C.G. Jung? Er meinte damit seine Beobachtungen, denen zufolge bestimmte Ereignisse oder Ereignisarten, während bestimmter Zeiten gehäuft, mehr oder weniger gleichzeitig in Erscheinung treten, wodurch so etwas wie Symbolik sichtbar wird.

Alle Anwendungen der Astrologie beruhen auf den Mechanismen der 'Koinzidenz', wie wir bereits wissen: wenn am Himmel Jupiter und Pluto eine Konjunktion bilden, dann geschieht auf der Erde gleichzeitig etwas, das dieser Konjunktion entspricht.

Aber auch die alten Chinesen orientierten ihre Medizin und die Philosophie an diesem Phänomen der Koinzidenz - sie fragten nicht nach der jeweiligen Ursache und Wirkung, sondern nach dem zeitlichen Zusammentreffen zwischen Geist und Materie, um daraus ihre Schlüsse zu ziehen."

"Was für Schlüsse... ach, ich verstehe, symbolische?" Micha gab sich bei dieser Erkenntnis einen Klpas auf die Stirn,

"Du weißt ja schon alles", lächelte der Großvater.

"Und wie ging das?" wollte Micha wieder wissen.

„Wie man seine Schlüsse zog?“ der Großvater zog seine Stirn in Falten.

Micha nickte eifrig.

"Stell dir vor, du träumst eines Nachts, dass der See da draußen nur noch ein ganz schmales Rinnsal ist, und der Kahn liegt auf Grund, umgeben von Schlick und Wasserpflanzen. Als du am anderen Morgen aufwachst und aus dem Fenster siehst, ist das Wasser tatsächlich verschwunden, vielleicht weil jemand das Wehr geöffnet hat."

"Ich verstehe. Das nennt man Gleichzeitigkeit."

"Richtig. Zwei unterschiedliche Ebenen berühren sich und du bist darüber erstaunt. Vielleicht fällt dir nun wieder das Wort 'Koinzidenz' ein. Du gehst an das Bücherregal, um im Wörterbuch nachzuschlagen. Dabei fällt es dir aus der Hand und bleibt aufgeklappt auf dem Teppich liegen. Als du es aufhebst, fällt dir der Begriff 'Philosophie' ins Auge." Großvater machte eine kurze Sprechpause und man konnte bei Micha den Groschen fallen hören:

"Ich weiß. Der Traum, die Wirklichkeit und das Buch hängen alle irgendwie zusammen."

Großvater nickte:

"Wenn dein Bewusstsein diesen Zusammenhang erkennt, wird es auch die Symbolik verstehen, oder verstehen wollen. Schon der seltsame Traum vom leeren Weiher, der mit der Wirklichkeit so unerwartet übereinstimmt, wäre eine solche Gleichzeitigkeit, die man interpretieren kann wie einen Orakelspruch. Wenn sich nun auch noch das Wörterbuch aufschlägt, bietet sich dir damit glücklicherweise auch gleich eine Ebene der Interpretation dieser merkwürdigen Geschichte an - willst du sie mal versuchen?"

"Das mit dem See und dem Wörterbuch?" Micha schaute fragend drein.

"Yep." antwortete Großvater kurz und trocken.

"Also...", überlegte Micha einen Augenblick, "mein Traum von dem leeren Weiher heißt..."

"...zunächst einmal noch nichts besonderes. Er könnte eine Bedeutung haben, oder auch nicht." unterbrach ihn der Großvater.

"Aber weil am anderen Morgen das Wasser wirklich weg ist, hat er eine besondere Bedeutung." fuhr Micha fort.

"Jedenfalls könnte er eine haben, weil du in dieser Gleichzeitigkeit keinen Zufall siehst." meinte der Großvater weiter.

"Ich hole das Wörterbuch..." Micha erhob sich von seinem Stuhl.

"Weil dir der Name Koinzidenz in den Sinn kommt?" fragte der Großvater.

"Ach ja. Ich will nachgucken was das Wort bedeutet, aber das Buch schlägt sich bei 'Philosophie' auf. Das bedeutet, dass mein Traum und die Gleichzeitigkeit etwas mit Philosophie zu tun haben." meinte Micha während er zum Bücherregal ging.

"...können.“ ergänzte der Großvater und fuhr fort: „Es kommt darauf an, was du bereit bist, zu verstehen. Es kann zum Beispiel sein, dass du jetzt das Fahrrad des Briefträgers klingeln hörst und hinausläufst, weil du einen Brief erwartest. Es ist wirklich ein Brief gekommen und während du ihn liest, vergisst du deinen Traum. Dann hätten diese drei Zufälle für dich keine weitere Bedeutung.

Es könnte aber auch sein, dass du nicht abgelenkt wirst und über diese Geschichte nachdenkst. Dann könntest du zu dem Schluss kommen, dass unsere Gespräche über die okkulte Philosophie den Effekt haben, dir - symbolisch gesprochen - den Grund des Sees zu zeigen, den man normalerweise nicht sieht, weil er unter der spiegelnden Wasseroberfläche verborgen ist."

"Klar. Dieser Grund ist ein Symbol für das Okkulte. - Aber wie funktioniert das? Wie kommt es, dass der Traum, die Wirklichkeit und das Buch gleichzeitig auftauchen?" Micha ließ von seinem Vorhaben, das Wörterbuch zu holen ab und setzte sich wieder.

"Tja, ich fürchte, darauf gibt es keine definitive Antwort. Aber da wir beide jetzt schon wissen, dass die Wirklichkeit unseres täglichen Lebens von unserem Überbewusstsein für uns gestaltet wird, und dass andererseits unsere Träume aus dem Unterbewusstsein in unser Bewusstsein hinaufsteigen, so kann man davon ausgehen, dass alle drei Bewusstseinsstufen zusammengearbeitet haben, um dir so ein Erlebnis von 'Koinzidenz' zu bescheren.

Anders ausgedrückt: wann immer du eine solche Synchronizität erlebst, erfährst du einen Moment der Harmonisierung oder der Einheit - und du bist in deiner Mitte. Denn solange Oben und Unten, Innen und Außen, miteinander im Gleichklang sind, so sind es auch Raum und Zeit, Geist und Materie, Vergangenheit und Zukunft. Und dann sind Yin und Yang vereint zu einem Augenblick vollkommenen Bewusstseins, in dem Körper zu Geist wird und Gegenwart zu Schöpfung."

"Hmm... Und wozu ist das gut?" fragte Micha ungläubig.

"Um zu vestehen, dass du deinem Ziel wieder ein bisschen näher gekommen bist, jenem Ziel, nach dem du schon ungezählte Leben hindurch auf diesem Planeten suchst, ohne davon zu wissen, ohne dich zu erinnern, ohne es zu verstehen." gab der Großvater zurück.

"Hmm, verstehe." Micha kratzte sich wieder nachdenklich am Kopf. „Alles gar nicht so einfach zu verstehen“, dachte er bei sich.

"Gut. Wenn wir nun unser Verständnis von der Koinzidenz auf die Orakel anwenden, die wir vorhin mal kurz gestreift hatten, oder auf alle Formen von 'Divination' oder Wahrsagerei, bedeutet das also: die Menschen gehen zum Hellseher oder Chiromanten oder Astrologen, nicht nur, um - wie sie glauben - etwas über die Zukunft zu erfahren, sondern deshalb, weil sie bereits so unruhig träumen, dass sie ganz allmählich beginnen, aufzuwachen."

"Was ist denn ein Chiromant, Großpapa?" fragte Micha.

"Ein Chiromant kann aus den Handlinien eines Menschen Rückschlüsse ziehen auf dessen Persönlichkeit und den Verlauf seines Lebens."

"Wie ein Astrologe?" Micha schaute seine Handinnenflächen an, als ob er etwas darin erkennen könnte.

"Ja. Oder zumindest so ähnlich." meinte der Großvater.

"Obwohl er doch was ganz anderes macht als ein Astrologe?" wollte Micha wissen.

Der Großvater nickte.

"Der Astrologe betrachtet die Turmuhr von Norden. Der Chiromant dagegen von Süden, der Wahrsager betrachtet sie von Westen und der Kartenleger von Osten. Aber sie alle schauen zur Turmuhr.

Wenn du möchtest, können wir uns das nächste Mal noch ein bisschen über die Wahrsagerei im Altertum unterhalten." Der Großvater nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen.

"O Klasse." rief Micha und gähnte.

"Für heute machen wir Schluss, wenn du einverstanden bist. Ich wünsche dir eine gute Nacht." meinte der Großvater und gähnte ebenfalls.


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