Читать книгу Das Gleichnis oder Michas Welt der Smybole - Alexander Kopitkow - Страница 8

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Obwohl -, genau genommen begann alles mit dieser blöden Wunderlampe, die er beim Großvater gefunden hatte - oder nein, es begann damit, dass sein Vater ihn im letzten Sommer in die Ferien abholte. Genau, so war es. Damit fing es an. Am Vormittag war er noch mit Chris im Schwimmbad gewesen und während sie auf ihren Handtüchern lagen und Sonne tankten, um sich vom kalten Nass zu befreien, hatte ihm Chris diese verrückte Geschichte von dem Ufo erzählt. Micha erinnerte sich noch ganz genau, wie er sich wunderte, dass das große Ufo in Chris' Zimmer passte.

"Wie kann es denn in deinem Zimmer gewesen sein, wenn es so groß war?" hatte Micha gefragt, weniger aus Neugier, als mehr aus Höflichkeit. Denn schließlich kannte er solche Geschichten von Chris. Immerhin war der nicht nur sein Klassenkamerad, sondern auch sein bester Feund. Chris war rothaarig und hatte eine Menge Sommersprossen im Gesicht. Er war zwar etwas kleiner als Micha, aber dafür hatte er für seine 14 Jahre schon ganz schöne Muckis und Micha konnte sich hinter ihm sicherlich zweimal verstecken.

"Das war ungefähr so..., wie bei einer Doppelbelichtung im Film", sagte Chris und seine hellen blauen Augen leuchteten vielsagend, während er mit gespreizten Fingern einen Halbkreis in die Luft malte. "Es waren irgendwie 2 ganz verschiedene Wirklichkeiten, aber gleichzeitig und an der selben Stelle.“

"Und was hast du gemacht?" fragte Micha und schweifte in seine Gedanken ab.

Dafür, dass große Ferien waren an diesem wunderschönen Sommertag, schien Micha das Freibad auffallend leer. Die meisten Kinder, dachte er, waren jetzt wohl mit ihren Eltern sonst wohin verreist.

"Zuerst hab ich gedacht, ich träume", sagte Chris und fuhr sich mit den Fingern mehrmals durch seine kurze Bürstenfrisur, "aber dann war mir klar, dass esWirklichkeit war."

"Und hast du irgendwelche Leute von der Besatzung gesehen?", fragte Micha und wurde neugieriger. "Das war ja das merkwürdige! Von meinem Bett aus war niemand zu sehen!", sagte Chris. "Sobald dieses gleißende Licht verschwand, war auch schon die Rampe heruntergeklappt. Ich brauchte nur aus meinem Bett raus und die 2 Schritte bis zur Rampe zu gehen."

"Und warum bist du nicht gegangen?"fragte Micha mit einem etwas gelangweiltem Unterton.

"Nun warte es doch ab!", sagte Chris, "ich bin ja hingegangen. Aber nicht richtig, nicht mit meinem Körper - irgendwie mehr wie in Gedanken. Mein Körper lag im Bett und ich ging gleichzeitig auf die Rampe zu. Kannst du dir das vorstellen?"

"Also hast du doch geträumt." Micha schweifte abermals mit seinen Gedanken ab und beobachtete zwei Mädchen in seinem Alter, die gerade vom Einser nacheinander, mit einem Kopfsprung, ins Becken sprangen.

"Nein, wenn ich's dir doch sage!“ Chris legte seine Hand auf Michas Schulter. „Ich war vollkommen wach. Die Rampe hatte eine irgendwie glänzende schwarze Oberfläche, die aber so grünlich schimmerte."

"Wie die Mistkäfer", ergänzte Micha ironisch.

"Genau!" Chris ließ sich nicht irritieren. "Und das Tolle war, das Ufo wartete seelenruhig."

"Auf was?"Micha war immer noch misstrauisch.

"Auf mich. Ich kletterte also aus meinem Bett und ging die Rampe hoch..." erzählte Chris weiter.

"Also doch?" Micha schaute noch gelangweilter daher.

"Was doch! Nein, bloß in Gedanken." Chris schaute ihn eindringlich an, Micha möge ihm doch glauben schenken.

"Hattest du Angst?" Micha schaute ihn mit großen Augen an, denn an dieser Antwort war er wirklich interessiert.

"Nee, irgendwie hatte ich das Gefühl, das alles in Ordnung war. Das Ufo war ja nicht feindlich, verstehst du?" Chris drehte sich auf den Bauch, stützte sein Kinn auf seine Faust und schaute ins Leere.

"Woher hast du das gewusst", auch Micha drehte nun seinen Rücken der Sonne zu.

"Keine Ahnung. Irgendwie war mir das ganz klar. Als ich oben war, stand da einer direkt vor mir!" Chris bekam auf einmal einen ganz ehrfuchtsvollen Gesichtausdruck.

"Wer?!" fragte Micha und war jetzt doch etwas interessierter.

"Ein Mensch." entgegnete Chris.

"Ein Mensch?! Klein und grün, mit Antennen auf dem Kopf?" Micha schaute ungläubig.

"Ach was", sagte Chris. "Er war so groß wie ich, oder halt wie ein Erwachsener. Ganz normal."

"Und was hatte er an?"Micha richtete sich auf und kramte in seinem Rucksack, ob sich da noch ein Müsliriegel verbirgt, denn schwimmen machte ihn immer hungrig.

"Er hatte eine Kutte an oder sowas ähnliches. Wie ein Mönch aus dem Mittelalter." Chris schaute immer noch andächtig ins Leere, als würde er sich ebenfalls an die Gefühle erinnern, die er während dieses Erlebnisses verspürte.

"Ein Mönch in einem Ufo?" Micha legte den Rucksack wieder auf die Seite. Er musste sich wohl etwas zu essen kaufen, denn er fand nichts Essbares.

"Ich war auch verwundert." Chris setzte sich auf und verschränkte seine Beine zum Schneidersitz.

"Und sein Gesicht? Wie sah das aus?" fragte Micha und schien immer noch interessiert.

"Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Es war durch seine Kapuze völlig abgedunkelt." Chris legte sich sein Handtuch über den Kopf, als wolle er seine Erzählung bebildern, sah aber eher wie ein orientalischer Eunuch aus.

"Und was sagte er?" Micha war amüsiert und schmunzelte.

"Er begrüßte mich, ohne etwas zu sagen. Chris legte beide Hände übereinander auf seine Brust. Schau, so."

Chris war aufgestanden und zeigte Micha, wie die Begrüßung ausgesehen hatte. Es wirkte recht feierlich.

Micha beobachtete 3 Mädchen, die ganz in der Nähe auf einer großen Decke im Schatten einer Birke lagen, sich schubsten und kicherten und immer wieder auf Chris zeigten. Chris war Michas Blick gefolgt und bemerkte das Gekicher.

"So begrüßt man sich intergalaktisch!" rief er zu ihnen hinüber und legte sich etwas frustriert wieder auf sein Handtuch. Etwas leiser sagte er:

"Mann, sind die blöd."


Um von der Bushaltestelle aus nach Hause zu kommen, musste Micha noch ein paar Minuten zu Fuß gehen. Als er in die Eduard-Möricke-Straße einbog, sah er dort zu seiner Verwunderung den alten silbernen Peugeot seines Vaters geparkt.

Entweder ist das Zufall, dachte Micha, oder Paps will mich zu Hause überraschen und rechnet nicht damit, dass ich hier schon sein Auto entdecke - wobei das letztere wohl das Wahrscheinliche war.


Alexander saß im Wohnzimmer, bequem zurückgelehnt im Sessel und las eine Zeitung. "Überraschung!" rief er, als Micha eintrat und grinste, wie über einen gut gelungenen Streich.

"Hallo Paps! So eine Überraschung!" Micha ließ seine Umhängetasche einfach fallen und ging schnurstracks auf seinen Vater zu.

Die Beiden begrüßten sich mit Handschlag und man sah ihnen die Freude an, dass sie sich mal wieder begegneten.

"Na, geht's gut?" wollte Alexander wissen.

"Klar. Ich war grad im Freibad. Woher wußtest du, wann ich nach Hause komme?"

"Tja, Intuition, mein Sohn, Intuition…nee, quatsch, ich hab mit deiner Mutter telefoniert, sie hat’s mir verraten. Sie sagte auch, dass es wegen dieser Urlaubsvertretung nun doch nicht klappt mit euren Ferien."

"Ach, nicht so schlimm. Zuhause bleiben ist auch okay." erwiderte Micha, während er sich aufs Sofa plumpsen ließ. Alexander setzte ganz vorsichtig an:

"Ich komm momentan leider nicht los vom Geschäft, aber...“ sprudelte es dann weiter aus ihm heraus, “…noch eine kleine Überraschung: wie wär's denn mit ein paar Tagen beim Großvater? Hättest du Lust?"

Doch, das klang ganz gut. Micha antwortete schnell, nicht dass sein Erzeuger es sich nochmals überlegte. "Das ist eine tolle Idee. Und wann?"

Micha hatte den Großvater zum letztenmal vor 1 Jahr gesehen, bei Großmutters Beerdigung. Nun bewohnte er ganz allein sein hübsches kleines Häuschen am äußersten Stadtrand, keine 100 m entfernt von einem romantischen Weiher, voller Entengrütze und raschelnder Schilfstengel am Ufer. Ein klappriger Bootssteg mitsamt einem morschen Kahn gehört ebenfalls dazu.

"Jetzt gleich, wenn du magst. Für 14 Tage. Deine Mutter weiß bescheid, sie will dich am Wochende besuchen kommen und Großvater freut sich auch auf dich. Er erwartet uns in einer Stunde zum Kaffeetrinken. Einverstanden?". Alexander holte sein Handy aus der Hosentasche und hielt es Micha entgegen: „Hier, ruf sie kurz an, sie möchte dir kurz sagen, was du alles einpacken sollst.“

"Wow, super."

Micha freute sich ehrlich und nahm das Handy, um sich von seiner Mam anzuhören, dass er auch jaa nicht die Zahnbürste vergessen soll und auch genügend Unterhosen einpackt.

Er brauchte keine zehn Minuten, um seine sieben Sachen zusammen zu bringen und stand auch schon wieder im Türrahmen mit Rucksack um die Schulter gehängt und Baseballmütze auf dem Kopf.


"Jetzt hab' ich mich aber für morgen mit Chris im Freibad verabredet." fiel Micha noch ein und gab sich dabei einen Klapps auf die Stirn.

"Ruf ihn an und sag ihm, dass du für 14 Tage fort bist. Außerdem kann er dich ja mal besuchen, wenn er mag." erwiderte Alexander und erhob sich aus seinem Sessel.

"Hat Großvater noch seinen Kater?" wollte Micha wissen.

"Ich glaube schon."

"Und der Kahn ist auch noch da?" rief Micha sichtlich aufgeregt.

"Sicher." Alexander kramte in seinen Hosentaschen, offensichtlich nach den Autoschlüsseln.

"Toll, können wir?“ sagte Micha.

„Klar“.


Als der alte Peugeot vorm Haus des Großvaters hielt, dachte Micha: es scheint sich nichts verändert zu haben. Nun ja, ein bisschen mehr Efeu rankte am Haus und das Fachwerk war renoviert und neue weiße Farbe schien auch an den Außenwänden zu sein. Die Hecke, die wohlgestutzt den kleinen Rasen mit den zwei alten Kastanien vor dem Haus umsäumte, ist auch etwas höher geworden. Grovaters Haus war ein altes, freistehendes Fachwerkhaus, hatte zwei Stockwerke und eine kleine Scheune daneben, die als Garage genutzt wurde. Das Haus war bestimmt schon 300 Jahre alt, so hatte es Großvater zumindest erzählt. Der Eingang war etwas erhöht und man musste eine Treppe benutzen, um ins Innere zu gelangen. Micha sah einen Mann im Garten werkeln, mit einer blauen Latzhose an und einem Strohhut auf; er war sicherlich schon so alt wie Grovater und er hatte eine Menge Falten im Gesicht. Seine Haut war braungbrannt und wirkte ledrig und an seinen Händen sah man, dass er in seinem Leben schon viel gearbeitet hat. Er kniete vor der Hausstürtreppe und stutzte gerade einen Strauch, während der Großvater im Türrahmen stand und sich mit ihm unterhielt.

"Da ist Harry, der Gärtner", sagte Alex, während er den Motor abstellte, "erinnerst du dich noch an ihn?"

"Klar doch." Micha nickte und holte seinen Rucksack vom Rücksitz.

"Und er scheint nüchtern zu sein", grinste Alex, "dabei ist es schon fast 3 Uhr."

"Meinst du Großvater, Paps?!" Micha schaute erstaunt auf und hielt in seiner Bewegung inne.

"Quatsch. Ich meine Harry!" lachte Alexander.

"Zu mir hat Harry mal gesagt, dass es kein Mensch merkt, ob er was getrunken hat oder nicht." sagte Micha und stieg aus dem Auto.

Der Großvater war ihnen auf halbem Weg entgegen gekommen und begrüßte Sohn und Enkel mit einem freundlichen Lächeln. Der Grovater hatte schon 65 Jahre auf dem Buckel, aber man sah es ihm gewiss nicht an. Er schien sich in den letzten zwei Jahren nicht verändert zu haben, außer dass die wenigen kurzen Haare, die seine Glatze umsäumten, noch weißer geworden sind. Er hatte einen sehr aufrechten Gang und man sah ihm an, dass er bis ins hohe Alter sportlich aktiv gwesen ist. Kein Bierbauch und kaum Falten im Gesicht und zudem ein sehr gepflegtes Äußeres. Sein Vollbart war sauber gestutzt und auch hier gab es nur noch einige dunkle Strähnen, ansonsten war der Bart fast weiß. Dass er in seinem Alter Jeans und T- Shirt trug, war Micha schon immer sympatisch gewesen.

"Fein", sagte der Großvater, "dass es geklappt hat. Wie schön, euch beide zu sehen."

Und als er Micha die Hand gab, sagte er:

"Wie kann man in einem Jahr bloß so wachsen?" Er musterte Micha von oben bis unten.

"Ist doch normal, oder?" wollte Micha wissen, der gerade noch ein halben Kopf kleiner als sein Großvater war.

"Ja, wo bleibt ihr denn?" unterbrach Mimi die Begrüßungsrituale, sie war Großvaters Hausgehilfin und erschien im Tührrahmen."Erst mal Grüßgott ihr zwei, der Kaffee wird doch kalt. Kommt durchs Haus nach hinten auf die Terrasse, ich habe dort gedeckt." Während sie das sagte, schüttelte sie jedem der beiden ausgiebig die Hand.

Mimi war so etwa Mitte 50 und äußerst korpulent, aber das musste wohl daran liegen, dass sie so gut kochte. Sie hatte schwarze Haare und die waren immer streng nach hinten zusammengebunden, zumindest immer wenn Micha sie sah. Sie hatte auch immer eine Schürze an und mit ihren kräftigen Armen konnten sie es sicherlich mit einem Gorille aufnehmen. Oh, und sie konnte so viel reden, ohne Unterlass. Und manchmal wurde sie ganz rot in ihrem runden Gesicht, besonders wenn sie sich über jemanden aufregte. „Na ja, irgendwie hatte sie einen guten Kern“, dachte Micha „und außerdem ist Großvater gut versorgt“.

"Oh, was für eine besondere Ehre", meinte Harry, der nun auch herbei gekommen war, "wie geht's denn so?"

"Danke, und selber?" Alex hatte das Antworten übernommen.

"Na, Linus, altes Haus…?" sagte Micha, indem er sich neben den schwarzweiß gefleckten Kater kniete, der eben - wie zufällig - vorbeikam, um den neuen Besuch zu begutachten. "…hast du alles im Griff?" Linus der Kater hatte eine weiße und eine schwarze Gesichtshälfte, was an eine Karnevalsmaske aus Venedig erinnerte. Er müsste schon mindestens so alt sein wie Micha, wenn nicht sogar älter. Aber das sah man ihm nicht an, außer dass er halt sehr groß und nicht gerade schlank war. Micha kennt diesen Kater seit er denken kann, er war schon immer da.

"Kinder, nun kommt doch bitte. Der Kaffee!" rief Mimi noch einmal.

"Wenn du einen Kaffee möchtest", rief Mimi zu Harry dem Gärtner hinüber, "dann musst du jetzt die Heckenschere weglegen."

"Wieso duzt die den!" fragte sich Micha, "sind die verheiratet?"

"Ich überleg' mir's noch", brummelte Harry und nahm seine Schnipselei wieder auf, während die Gesellschaft im Haus verschwand.


Mimis Kuchen war wirklich sehr gut, fand Micha. Sie saßen an einem großen runden Tisch mit grüner Tischdecke unter einer großen alten Linde, die soviel Schatten spendete, dass eine ganze Hochzeitsgesellschaft darunter Platz gefunden hätte.

Micha konnte es zwar überhaupt nicht leiden, allein unter so vielen Erwachsenen zu sein und auch ihr Geschnatter ging ihm tierisch auf den Geist - wie er fand -, aber er musste sich diesmal wohl damit abfinden. Viel lieber hätte er sich, wie Großvaters Kater, in ein ruhigeres Zimmer verdrückt und mit seinem Gameboy gespielt. Aber seinem Vater zuliebe und auch, weil er seinen Großvater nicht kränken wollte, blieb er sitzen.

Inzwischen hatte sich auch Harry, der Gärtner, am Tisch eingefunden. Er erzählte stolz, dass er neuerdings die Bewohner der Goldberg-Villa, oben in der Brahmsallee, zu seinen Kunden zählte.

Micha kannte dieses Haus; er war oft genug mit seinem Skateboard durch die Brahmsallee gefegt. An der Goldberg-Villa musste er links abbiegen, um das Haus des Großvaters zu erreichen. Diese Villa machte immer einen irgendwie verschlossenen, abweisenden Eindruck auf ihn; er konnte sich nicht erinnern, je einen Menschen dort gesehen zu haben. Auch den Garten mit den alten Bäumen hinter dem Haus hatte er als menschenleer in Erinnerung.

"Im ersten Stock ist noch immer diese Anwaltskanzlei", erzählte Harry während er eifrig Kuchen aß, "aber seit das Erdgeschoss von einer Ballettschule gemietet wurde, soll es angeblich schon mal richtig in dem Haus gespukt haben", die letzten Worte sprach Harry sehr leise aus, beinahe flüsternd.

"Häh?" dachte Micha, "was ist denn das für ein dummes Zeug."

Aber er schwieg höflich und trank brav seinen Kakao, den Mimi immer schon obligatorisch für ihn machte, wenn die Erwachsenen Kaffee tranken.

Als hätte Harry Michas Gedanken erraten, fügte er erklärend hinzu:

"Das hat mir jedenfalls Dr. Schulze erzählt." Harry ließ sich von Mimi noch ein Stück Kuchen auf den Teller befördern.

"Tatsächlich?" fragte Alex interessiert und nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Kaffeetasse, und Micha spürte, dass sein Vater das Gleiche dachte wie er.

"Ja, allen Ernstes. Sein Bruder, der andere Dr. Schulze, war einmal ziemlich spät noch in der Kanzlei. Er war ganz allein im Haus. Da hörte er aus dem Erdgeschoß, aus den Räumen der Ballettschule, Geräusche wie von einer lustigen Party mit vielen Menschen. Es ließen sich sogar einzelne Stimmen unterscheiden, und auch Gläserklirren.

Aber es konnte, wie gesagt, eigentlich niemand dort unten sein, denn zu dieser Zeit machte die Ballettschule Sommerferien. Und wenn sie eine Party gegeben hätten, dann hätten sie das vorher bestimmt gesagt.

Na jedenfalls, der Anwalt war so verblüfft, dass er hinunterging, um nach dem Rechten zu sehen. Aber als er die Treppe halb heruntergestiegen war, verstummte der Lärm. Er klingelte und klopfte bei der Ballettschule - die haben das Erdgeschoss gemietet -, aber niemand öffnete. Auch war die Tür sorgfältig verschlossen. Er holte die Reserveschlüssel und ging durch alle Räume. Aber es war niemand zu sehen, nichts zu hören. Kein Licht brannte. Es war alles ganz ruhig. Ist das nicht seltsam?" Harry nahm einen Schluck aus seiner Tasse und wischte sich dann mit seinem Handrücken über den Mund. „Lecker der Kaffee“, sagte er zu Mimi „ und der Kuchen ist auch wie immer…“ „…köstlich…“ ergänzte der Großvater.

"Und wie ging es weiter?" wollte Micha von Harry wissen und zog ihn am Ärmel.

"Nichts weiter", sagte Harry, "das war alles. Der Lärm ist seitdem nicht mehr aufgetaucht, und es gibt auch überhaupt keine Erklärung dafür, sagen die Anwälte."


"In dieser Villa", erzählte der Großvater, "hatten sich in den letzten Kriegsjahren die Nazis einquartiert. Da wurden viele Feste gefeiert."

"Da ging es zu wie... das war bekannt", ergänzte Harry, "und es sollen dort sogar Menschen spurlos verschwunden sein, in dieser Villa", sagte er orakelhaft und mit hochgezogenen Augenbrauen, "und sie haben damals auch diesen Schießplatz angelegt, unten beim See. Ich kann mich noch genau erinnern. Als kleiner Junge habe ich dort zugesehen. Haben eine Menge Erde bewegt damals. Hab mich immer ziemlich gewundert, woher all diese viele Erde kam."

Micha fiel es schwer, sich den alten Gärtner als einen neugierigen kleinen Jungen vorzustellen.

"Aber mittlerweile ist von dem alten Schießplatz nichts mehr zu erkennen. Alles wieder zugewachsen", sagte der Großvater, "heute stehen dort wieder Bäume, die inzwischen auch schon über 50 Jahre alt sind."

"Und die Leute, die früher in der Villa gewohnt haben, vor dem Krieg, was ist aus denen geworden?" fragte Alex.

"Die wurden fast alle ermordet. Der alte Goldberg noch ganz kurz vor Kriegsende", sagte Mimi, die unaufgefordert Kaffee nachschenkte "heute gehört das Haus einer Erbengemeinschaft in Amerika, glaube ich."

"Woher weiß die das denn", dachte Micha.

"Hat sich noch nie einer von denen hier sehen lassen", ergänzte Harry, der sich inzischen satt zurückgelehnt hat und die Hände zufrieden über seinem stattlichen Bauch verschränkte. "aber verdenken kann man's ihnen nicht."

"Warum hat mir das Großpapa nicht früher erzählt?" überlegte Micha. Als er vor etwas über einem 1 Jahr hier war, stand das Haus gerade leer, jedenfalls das Erdgeschoss, und Micha war irgendwann einmal durch den verwilderten Garten geschlichen, hatte die beiden riesigen Linden bewundert, die so gut versteckt hinter der dichten Zypressenhecke standen, und er hatte neugierig durch die Fenster ins Parterre der düsteren Villa gespäht.

Was er dort suchte, wusste er eigentlich selbst nicht so recht, aber er empfand das Grundstück als einen wunderbaren Abenteuerspielplatz.

"Vielleicht, wenn ich mich rein getraut hätte", dachte er, "hätte ich dort noch irgendwas gefunden... ein paar alte Patronenhülsen oder eine vergrabene Pistole, oder auch einen Schatz, so einen Nazischatz aus lauter Goldbarren und alten Banknoten und wichtigen Dokumenten."

"Ob du noch ein Stück Kuchen willst, fragt dich Mimi", sagte Alex.

"Nein danke." winkte Micha ab.


Gern hätte Micha noch etwas mehr über diese Geistervilla erfahren, aber niemand verlor mehr ein Wort darüber. Und fragen wollte er auch nicht. Schließlich sollte der Großvater ihn nicht für neugierig halten.

Interessant wurde die Unterhaltung der Erwachsenen erst wieder, als Harry aus seiner Jackentasche ein abgenutztes Schreibheft hervorzog und daraus mit wichtiger Miene vorlas, denn Alex hatte ihn soeben nach seinem Hobby, den alchimstischen Studien, gefragt.

Geheimnisvoll orakelnd las Harry, wobei er seine Lesebrille auf der Nasenspitze balancierte:

"Durch stete ordentliche Abwartung und Regierung des Feuers, wird die einzige Universalmateria, in einem einzigen Gefäß und Ofen, durch eine einzige Regierung des Feuers, putrificieret, regenerieret und perficiret. Darf also der Laborant anders und weiters nichts thun, als dass er, neben Abwartung des Feuers, Gott um seinen Segen und Benedeyen bitte."

Harry klappte sein Heft zu und sah mit bedeutungsvoller Miene in die Runde. Der Großvater schwieg.

"Also, um ehrlich zu sein, es klingt etwas seltsam", sagte Alex.

"Die Alchemisten haben nur so seltsam gesprochen", sagte der Großvater, wie um Harry zu entschuldigen; der schien sich ein bisschen unverstanden.


Micha wusste, dass der Großvater sich mit seltsamen Dingen beschäftigte, wie Mystik und Kabbala; und er hatte keine Ahnung, worum es dabei eigentlich ging. Auch waren ihm seit einem früheren Aufenthalt Großvaters Astrologiestudien bekannt; aber Harrys Alchemie - das war ihm ganz neu.

Und außerdem, wenn Micha sich recht erinnerte, bezeichnete Harry sich als so eine Art Lehrling oder Schüler vom Großvater - obwohl sich Micha so einen alten Schüler wie den Gärtner eigentlich gar nicht denken konnte: 'Harry, wieviel ist 3 plus 4 ?' '8 ?' 'Falsch! Setzen! Das gibt einen Eintrag ins Klassenbuch wegen fortgesetzter Trunkenheit!'

"Aber warum haben sie das denn gemacht, so seltsam zu reden, wenn sie dann keiner versteht?" fragte Micha neugierig.

"Eben deshalb.“ antwortete Harry und fuhr fort: „Um ihre Erfahrungen miteinander auszutauschen, ohne dass sich jemand Unberufener einmischen konnte."

"Wer sollte sich denn da einmischen?", wollte Micha weiter wissen.

"Tja", sagte Harry, "die Alchemisten haben den Stein der Weisen entdeckt. Und mit dem muss man natürlich ziemlich vorsichtig umgehen, denn er besitzt Wunderkräfte."

"Wunderkräfte?“ echote Micha und seine Augen waren weit geöffnet.

Es erstaunte ihn gar nicht, dass er so urplötzlich in eine Art Unterrichtsstunde hineingerutscht war, beim Kaffeetrinken - und mitten in den Ferien noch dazu. Das war auch schon früher so gewesen, aber merkwürdigerweise hatte Micha sich nie daran gestört, denn der Großvater sprach mit ihm meistens über Sachen, die in der Schule nicht unterrichtet wurden.

'Die wirklich wichtigen Dinge', pflegte er mit einem Augenzwinkern zu sagen, 'lernt man nicht in der Schule'.

Nur, dass Harry jetzt auch schon anfing, wie der Großvater zu reden, das störte Micha allerdings.

"Immerhin hat einer von denen, welche diese alchymistischen Symbole wörtlich genommen haben, das Porzellan erfunden, ein gewisser Herr Böttger", sagte Harry zu Micha gewandt und mit erhobenem Zeigefinger, der die Wichtigkeit dieser Aussage untermalen sollte, wie ein Oberlehrer.

"Weiß ich. Hatten wir schon in der Schule. Aber hat er denn das Porzellan aus lauter Symbolen gemacht?" fragte Micha.

"Aus symbolischer prima materia.“ fiel nun der Grovater ein. Und er fuhr fort: „ Böttger hat lange herumgerätselt, was die materia prima nun wirklich ist. Denn man hatte alles Mögliche vermutet - dass es vielleicht Quecksilber oder Blei oder Gold sei. Sogar Blut, Essig und Schwefel hatten die ‘Sudelköche’ in Verdacht".

„Was denn für Sudelköche?“ wollte Micha jetzt wissen.

„Als ‘Sudelköche’ verspottete man jene Materialisten, welche die alchemistischen Anweisungen wörtlich nahmen und in Laboratorien damit experimentierten.“ erwiderte der Großvater.

"Und was war diese prima materia nun wirklich?" wollte Micha weiter wissen.

"Möchte noch jemand Kaffee?" fragte Mimi mit der Kanne in der Hand, denn ihr war die Alchemie völlig egal.

"Ich, bitte", sagte Alex und hielt ihr seine Tasse entgegen.

Der Großvater lehnte sich in seinem Gartenstuhl bequem zurück, faltete die Hände im Schoß und fuhr fort:

"Du weißt, woraus Materie besteht?"

"Welche Materie?" Micha fragte sich worauf sein Großvater hinaus wollte.

"Ganz allgemein Materie." erwiderte der Großvater und schien mit seinen Händen eine Kugel anzudeuten.

"Aus äähhh... Elementarteilchen?" erzählte Micha.

"Genau. Das Merkwürdige daran ist ja, dass diese Elementarteilchen aus der Sicht der Physiker mal als Teilchen und mal als Strahlung wahrgenommen werden. Als Teilchen erscheinen sie ihnen als Materie, ansonsten als reine Energie.“

„Und was ist in diesem Fall mit ‚Energie’ gemeint?“ wollte Micha wissen.

„Tja, für einen Wissenschaftler ist Energie etwas, das sich messen und verarbeiten lässt. Für einen Mystiker ist Energie dagegen eine Erscheinungsform des Geistes. Um aber auf deine Frage zurückzukommen nach der materia prima, kannst du dir jetzt denken, was es sein könnte?"Großvater sah Micha fragend an und hob dabei die linke Augenbraue.

"Keine Ahnung. Eine Art Energie? Ich weiß - meinst du vielleicht 'Geist'?" Micha schaute unsicher.

"Volltreffer." Der Großvater klatschte in die Hände.

"Aber woher haben denn die Alchemisten gewusst, also die Schlauen, meine ich, nicht die Sudelköche..." Michas Neugierde war ehrlich.

"Auch die Sudelköche haben mit 'Geist' experimentiert, allerdings... ohne es zu wissen." Unterbrach ihn der Großvater.

"Also gut. Aber woher hat man das damals schon gewusst, das mit dem Geist?" fragte Micha immer noch sehr interessiert.

"Nun, die Weisen jener Zeit sind nicht den Weg der Rationalisten gegangen, so wie wir heutigen Menschen, sondern sie gingen den Weg der Philosophen und Mystiker. Und sie sind schon 1000 Jahre vor Newton ans Ziel gekommen - und der hielt das Universum immer noch für eine gewaltige Maschine". Großvaters Stimme war immer sehr ergreifend wenn er über solche Dinge sprach und seine Gesten hatten etwas Theatralisches.

"Darf der Kater ein bisschen von der Schlagsahne haben?" fragte Mimi, und als sie Großvaters Blick bemerkte: "keine Angst, ich will ihm nicht die ganze Schüssel geben. Ich weiß, dass er zu fett ist."

Micha erkannte sofort, dass die Unterhaltung eine Richtung nahm, die Mimi nicht gefiel.

"Was war denn das für ein Weg der Philosophen?" fragte er deshalb sehr interessiert.

"Man muß sich die Denker jener Zeit nicht so vorstellen wie unsere Philosophen heutzutage, für die eine Philosophie 'wissenschaftlich', rational und beweisbar sein muss, damit sie akzeptiert werden kann. Damals war die philo-sophie, die Liebe zur Weisheit, okkult; man musste seine rechte Gehirnhälfte einschalten, um zu verstehen."

„Häh, was für eine Hälfte?“ erkundigte sich Micha.

"Die Mystiker", ergänzte Alex, "benutzen eher ihre rechte Gehirnhälfte, die Verstandesmenschen dagegen benutzten die linke."

"Oh", dachte Micha, "jetzt kommt auch noch Biologie."

"Und wer benutzt beide, ich meine, wenn wir schon zwei Hälften haben?" fragte Mimi höflich interessiert.

"Gute Frage. Ich würde sagen... kaum einer." raunte Großvater aus seinem Bart heraus und nahm noch einen Schluck Kaffee.

"Aber wozu gibt es dann eine rechte und eine linke Hälfte?" fragte Micha, seinem Großvater zuliebe. Denn auf Biologieunterricht hatte er eigentlich keinen Bock, schließlich waren ja Ferien.

"Unsere Welt ist überall polarisiert, wohin man sieht. Sogar der Mensch ist es", sagte Harry bedeutungsvoll und hielt wieder seinen Zeigefinger in die Luft, "warum also nicht auch sein Gehirn?"

"Wenn Harry mein Lehrer wäre", überlegte Micha, "würde ich ihm bestimmt nicht zuhören. Schon weil er mich so an diesen beknackten Mathelehrer erinnert, der hält auch immer den Zeigefinger in die Luft..." und laut fragte er:

"Wo zum Beispiel ist die Welt polarisiert?"

"Überall. In positiv-negativ zum Beispiel, oder aktiv-passiv, Tag und Nacht...", sagte Harry und verschränkte wichtig die Arme vor der Brust.

"Heiss und kalt?", sagte Micha.

"Genau", meinte der Großvater, "für jedes Bewusste ein Unbewusstes, für jedes Rationale ein Irrationales."

"Das verstehe ich." Micha schaute in seine leere Kakaotasse, aber mehr zum Nachdenken, als würden die skurilen Überbleibsel des Kakaos in der Tasse irgendwelche Zeichen darstellen.

"Jetzt stell dir einmal vor, die Erkenntnisse so eines altertümlichen Philosophen ließen sich nur in Symbolen darstellen, die er als Vertikaldenker aus dem Bereich des Horizontaldenkens entnehmen muß..." Der Großvater schwang seine Hand in einem Halbkreis über dem Tisch, als würde er eine weite Ebene andeuten.

"Was meinst du denn mit Horizontaldenken, Großpapa?"

"Ein Mensch, der nur für wahr hält, was er begreifen kann, also im Sinne von ‚Anfassen’, meine ich, den nenne ich einen Flach- oder Horizontaldenker. Für den ist nur wirklich, was seine fünf Sinne ihm vermitteln, weil er nämlich nicht in Symbolen denken kann.

"Kannst du mir ein praktisches Beispiel sagen?" Micha war nun doch neugierig geworden.

"Denk nur an Homer. Seine Abenteuer des Odysseus waren und sind die weisesten philosophischen Erkenntnisse und Anleitungen zum Thema 'Evolution des menschlichen Bewusstseins', die man sich denken kann - symbolisch verpackt in eine Sage, dessen Symbolgehalt heute keinen Menschen mehr interessiert, weil ihn keiner mehr versteht. Oder denk an unsere Kartenspiele, Skat und Rommé usw. Einst wurde in ihnen das Wissen um den göttlichen Bauplan der Welt niedergelegt. Heute, in ihrer Sparversion, sind sie nur noch zum Zocken gut."

Das Gleichnis oder Michas Welt der Smybole

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