Читать книгу Das Gleichnis oder Michas Welt der Smybole - Alexander Kopitkow - Страница 9

3

Оглавление

Nachdem Alex schon längst wieder in die Stadt zurück gefahren war, saß Micha allein im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Draußen in der Küche spülte Mimi das Abendbrotgeschirr und bereitete das Frühstück für den kommenden Tag für Großvater und Micha vor, ehe auch sie nach Hause ging.

Harry, der Gärtner, war als erster verschwunden, denn er hatte seiner Frau versprochen, heute keine Überstunden zu machen.

Micha stieg schließlich die schmale, knarrende Treppe zu Großvaters Arbeitszimmer im oberen Stockwerk hinauf. Im Haus war überall Holz verarbeitet. Es gab viele Balken, die die Decken trugen und auch die Böden waren mit Holzdielen ausgestattet und mit schönen Läufern und Teppichen belegt. Das machte das Haus lebendig, denn überall knarrte und ächzte es, wenn man sich bewegte. Micha klopfte an die massive Holztür zu Großvaters Zimmer.

"Hereinspaziert" sagte Großvater. Er saß an seinem alten Schreibtisch aus dunklem Holz, über ein Buch gebeugt und hob nur kurz die Augenlieder, um dann gleich wieder in dem Buch zu blättern und den Finger über die Zeilen gleiten zu lassen, als ob er etwas Bestimmtes suchte.

Micha trat ein und schaute sich im Zimmer um. Da waren so viele geheimnisvolle Utensilien, wie kleine Steinpyramiden auf dem Fenstersims, oder kleine goldene Bhuddas auf einer kleinen dunklen Kommode, die mit ihren vielen Schnörkeln und Schnitzereien ein echtes Schmuckstück war. Das ganze Haus war mit teilweise fremdländischen aber durchweg antiken Möbeln, die Großvater im Laufe seines Lebens gesammelt hatte, ausgestattet. An den Wänden hingen diverse Bilder ‚alter Meister’, wie Großvater sie immer nannte. Da war auch ein Bücherregal in Großvaters Arbeitszimmer, das eine ganze Wand eunnahm und wo tausende Bücher ein Zuhause gefunden haben. Aber trotz allem konnte Micha auch einen Computer ausmachen, denn auf dem Schreibtisch befanden sich eine Tastatur und ein Flachbildschirm.

"Ich habe Linus hinausgelassen. Er saß die ganze Zeit vor der Tür und sah mich an. Ist das in Ordnung?" wollte Micha wissen.

"Klar doch. Und wie war nun 'der Frosch mit der Maske'?", fragte Großvater, ohne von seinem Buch aufzublicken.

"Ach, ziemlich bescheuert. Und uralt.“ winkte Micha ab. „Du wolltest mir noch ein Geheimnis verraten." fragte Micha den Großvater.

"Ja richtig. Mach's dir bequem." Großvater zeigte auf einen Stuhl der so aussah, als hätte er einmal bei Napoleon im Schlafzimmer gestanden. Viele Schnitzereien auf der Rückenlehne und sogar Goldknöpfe auf den dunkelblauen Polstern.

Micha räumte einen Stapel Bücher vom Stuhl und setzte sich. Nach dem aufgeregten Lärm des Fernsehfilms horchte er auf die Stille dieses Raumes, in dem nur das langsame, gleichmäßige Ticken der alten Pendeluhr an der Fensterwand zu vernehmen war.

"Wie du weißt ", sagte der Großvater, indem er seine Brille abnahm und sich in seinen Sessel zurücklehnte, "befindet sich die Menschheit mitten im Übergang vom Fische- zum Wassermannzeitalter - und dieses neue Wassermannzeitalter wird etwas mehr als 2.000 Jahre dauern."

Micha nickte.

"Jedes neue Jahrtausend," fuhr der Großvater fort, "stand bisher symbolisch für einen Schritt in der Entwicklung der Menschheit: vor 5.000 Jahren wurden beispielsweise die Münzen als Zahlungsmittel erfunden, vor 4.000 Jahren entwickelte man die Schrift, vor 3.000 Jahren verehrte man die Götter des Olymp, vor 2.000 entstand das Christentum, vor 1.000 Jahren baute man die ersten Schwebe- und Fluggeräte..."

Micha sah seinen Großvater erwartungsvoll an. Er hatte keine Ahnung, was er hören würde. Der Großvater lächelte.

„...eine symbolische Vorwegnahme gewissermaßen des Wassermannzeitalters.“

„Wie meinst du das?“ warf Micha ein.

„Ich meine, dass für die Menschheit die Zeit reif ist, in eine neue Dimension einzutreten - wie seinerzeit, als man begann, sich in die Lüfte zu erheben." Der Großvater ahmte mit einer Hand ein Flugzeug nach und ließ es über seinen Schreibtisch gleiten.

"In eine neue Dimension? Was denn für eine neue Dimension ?" Micha war ratlos.

"Wart's ab. Und du bist der Erste, der davon erfährt." antwortete der Großvater schmunzelte, als er Michas Staunen sah.

"Hast du eine neue Dimension entdeckt?" Micha saß angespannt auf seinem Stuhl und hielt sich an den Armlehnen fest.

"Sie war schon immer da. Aber sie wurde nur von wenigen verstanden." Großvater zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und fing an seine Brille zu putzen.

"Meinst du mit 'Dimension' etwas ähnliches wie die Luft?“ fragte Micha und beugte sich ein wenig vor.

„Ja, symbolisch betrachtet. Denn das Fliegen hat uns die Bewegung in der Vertikalen erschlossen. Bis dahin bewegten wir uns mehr oder weniger horizontal.“ Der Großvater zeichnete mit seinen Fingern zuerst eine Linie von oben nach unten in die Luft und dann von rechts nach links.

„Ach so, du meinst mit Dimension Höhe, Breite und Tiefe?" fragte Micha und dachte bei sich, irgendwie ist doch etwas hängen geblieben.

"Das wären ja die Achsen des Raumes. Das ist klar.“ erklärte Großvater und fuhr fort: „Und auch die Zeit hat ihre drei Achsen, nämlich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft."

"Aber ich denke, die Zeit ist die vierte Dimension?" warf Micha ein und hob die Schultern fragend an.

"Nur, wenn man flach denkt.“ entgegnete der Großvater und deutete dabei wieder eine Ebene an.

„Aber die Wissenschaftler sagen doch auch, die Zeit sei die vierte Dimension, oder?“ fragte Micha und war stolz auf sich, dass er mit einem klugen Mann wie Großvater richtige Erwachsenengespräche führen durfte.

„ Die meisten Wissenschaftler sind wohl noch zu sehr mit vertikaldenken beschäftigt, denke ich. - Der Raum ist untrennbar mit der Zeit verbunden. Ohne Zeit gäbe es keinen Raum ..." gab der Großvater zu bedenken. Er kratze sich seinen Bart und schaute Micha an, als wolle er noch etwas hören

"...und ohne Raum gäbe es keine Zeit.“ ergänzte Micha.

"Eben. Sehr gut. Du denkst mit. Jede dieser beiden Dimensionen hat ihre besonderen Eigenschaften, nämlich Höhe, Breite und Tiefe enthält der Raum und Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft findet man in der Zeit."

"Stimmt", sagte Micha und es wertete ihn auf, dass er mit Großvaters Gedanken mithalten konnte.

„Was die Wissenschaft richtig erkannt hat, ist die Untrennbarkeit von Raum und Zeit.“ berichtete der Großvater weiter, „Nur - sobald sie jene Dimension entdeckt, von der ich dir berichten will, wird sie Raum und Zeit zu einer einzigen Dimension zusammenfassen, zur RAUMZEIT nämlich. Dann werden wir in der materiellen Welt der Raumzeit leben.“ Großvaters Gesicht wirkte ernst und prophetisch und Micha war gespannt, wie bei einem Abenteuerfilm.

„Aber das tun wir doch heute auch schon, oder?“ forschte Micha.

„Richtig. Aber heute geschieht das noch ohne das entsprechende Bewusstsein.“ Gab Großvater zurück und kramte aus einer Schublade im Schreibtisch eine kleine Blechdose heraus. Dort bewahrte er seine Fruchtdrops auf und prompt bot er Micha eins an. „Auch eins?“ „Gern“, Micha nahm sich ein rotes Bonbon und schob es in den Mund.

„Und warum ist das so?“ wollte er dennoch wissen.

„Weil wir einen ganz besonderen Aspekt der Welt noch immer nicht entdeckt haben. Und das ist so, als würden wir in einer zweidimensionalen Wirklichkeit leben müssen, weil wir die dritte Dimension nicht erkennen können.“ orakelte der Großvater, zumindest empfand Micha dies für einen Moment so.

„Und was für eine Dimension ist das?“ fragte Micha wirklich interessiert.

"Wir befinden uns heute, zu Beginn des dritten Jahrtausends, mit dem Verständnis jener Dimension ungefähr dort, wo unsere steinzeitlichen Vorfahren in ihren dumpfen Hirnen bereits die Zeitdimension erahnten, als sie sich noch am Höhlenfeuer wärmten."

"Das mußt du mir erklären." drängte Micha den Großvater.

"Ganz einfach. Den Raum als Dimension hatten sie schnell erkannt, unsere urigen Vorfahren. - Es gab die Kälte draußen vor der Höhle und es gab das wärmende Feuer in der Höhle. Der Unterschied zwischen drinnen und draußen war deutlich als Raum zu erkennen. - Aber was war denn nun eigentlich der Unterschied zwischen dem lustig prasselnden Feuer, an dem sich die ganze Sippe wärmen konnte und diesem kläglich glimmenden Aschehaufen, an dem es zu fortgeschrittener Stunde nur noch der Älteste der Gruppe aushielt? Er kratzte sich sinnierend den Schädel, während er in die letzte Glut starrte, nachdem sich die anderen schon längst für die Nacht in ihre wärmenden Bärenfelle gewickelt hatten.

Irgend etwas hatte schließlich das Feuer verändert, obwohl es noch am gleichen Platz war... dachte der zottelige Alte, ...der Raum konnte also nicht Schuld sein.... es war wohl die gleiche Kraft, sinnierte er weiter, die seine zehn Lieblingsfrauen immer schrumpeliger werden ließ und ihn selbst immer schwächer. Er entschied sich, diese rätselhafte Kraft ZEIT zu nennen.

Fortan lebte unser Urahn in einer Welt aus Raum und Zeit. Denn sein Bewusstsein gestaltete seine Wirklichkeit. Daran hat sich bis heute nichts geändert."

Großvater machte eine Pause in seinen Ausführungen und lutschte auf seinem Bonbon herum, während er in Gedanken verloren schien. Doch dann fuhr er plötzlich fort:

"Die Dimension aber, die es für uns heute, für die modernen Menschen der Gegenwart zu entdecken gilt, führt uns endlich aus der Gefangenschaft unseres flachen Raum-Zeit-Verständnisses hinaus in die Freiheit einer neuen Realität. Bist du neugierig?"

Micha nickte:

„Und was für eine Dimension ist das?“ wollte Miche endlich wissen.

„Ich will es dir erklären. Das zentrale Symbol unserer materiellen Welt ist ...?" Der Großvater schaute Micha fragend an.

"Ich weiß nicht..." Micha blickte zur Decke, als ob dort die Antwort stünde.

"Die Materie“, rief der Großvater und schlug dabei mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. „Materie drückt sich aus durch materielle Körper. Dieser Tisch hier beispielsweise existiert in der Dimension des Raumes. Einverstanden?"

Micha nickte und lauschte gespannt.

"Also kann man sagen: der Schlüssel zur Welt der Materie ist der Raum, - denn ohne Raum kein Tisch.“ Der Großvater klopfte abermals auf seinen Schreibtisch.

„Verstehe.“ gab Micha räuspernd zurück.

„Wie aber können wir uns den Raum erschließen?" fragte Großvater und Micha wollte nicht länger raten-

"Sag's mir." drängelte er den Großvater

"Mit Hilfe der Zeit: denn wir könnten im Raum nicht existieren, wenn es keine Zeit gäbe; wenn ich diesen Tisch irgendwie benutzen will, brauche ich dazu Zeit. Wenn ich etwas drauflegen will,..." "... brauche ich Zeit." untebrach ihn Micha.

Der Großvater nickte.

"Raum und Zeit sind so eng miteinander verwoben, dass man sie getrost als eine einzige Dimension betrachten kann, die Dimension der Raumzeit. Also ist die Raumzeit der Schlüssel zu unserer materiellen Welt. Einverstanden?"

"Klaro. Soweit habe ich kapiert.“ entgegnete Micha, „Aber wo bleiben dann die anderen Dimensionen, ich meine Höhe und Breite und Tiefe?" fuhr er fort.

"Das sind nach wie vor die Achsen des Raumes - so wie Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft die Achsen der Zeit sind.- Welches aber ist nun der Schlüssel für unsere raum-zeitliche Welt der Materie - der Schlüssel, der uns deren Sinn und damit den Sinn unserer irdischen Existenz aufschließt, was denkst du Micha?"

"Bitte sag es mir." Micha lutschte so ungeduldig auf seinem Bonbon herum, dass man es klappern hörte, wenn es gegen seine Zähne stieß.

"Es ist die Dimension der Symbole - oder des Geistes." schloss der Großvater

"Aha." Micha schloss kurz die Augen und überlegte einen Augenblick, manchmal waren diese naturwissenschaftlichen Gespräche mit Großvater schon sehr anstrengend und Micha musste sich oft wirklich konzentrieren, um den Gedanken des Großvaters zu folgen - dann sagte er:

"Ich glaube, das musst du mir erklären."

"Gut.“ Fuhr der Großvater fort und fragte Micha. „Was ist aus deiner Sicht ein Symbol, wie würdest du das definieren?"

"Ein Symbol? Tja, irgendwas, das nicht real ist, vielleicht?" fragte Micha kleinlaut.

„na ja,“ erklärte der Großvater, „sagen wir mal, ein Symbol ist etwas, das etwas Reales darstellt, symbolisiert. Ein kluger Mann namens Goethe sagte: 'die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, dass die Idee im Bild immer wirksam und unerreichbar bleibt.' "

"Ach herrje." Micha kratzte sich am Kopf, als wolle er sagen: also jetzt wird’s Bahnhof.

"Er hat es auch anders formuliert; er sagte: 'alles Irdische ist nur ein Gleichnis'."ergänzte der Großvater und strich sich durch den Bart, wie er es oft tat, wenn er philosophierte.

"Dann hat Goethe auch schon von dieser Dimension gewusst?" wollte Micha aufs Neue wissen.

"Für ihn war die Symbolik noch keine Dimension. Für ihn blieb sie ein unerreichbares Bild seiner Wirklichkeit. Für uns Heutige dagegen ist die Zeit reif, die Dimensionen unserer Realität als Tore zu einem neuen Bewusstsein zu erkennen, deren Schlüssel wir bereits besitzen." erklärte der Großvater und schaute in die tennisballgroße Rosenquarzkugel, den er vor seinem Computerbildschirm liegen hatte. Er sagte einmal, dass der Rosenquarz Elektrosmog aufnehmen kann. Man müsse ihn nur alle 4 Wochen unter fließendem Wasser „reinigen“.

"Was für ein Schlüssel?" fragte Micha wieder bei der Sache.

"Schau: der Schlüssel zum Verständnis des Prinzips Materie ist die Raumzeit. Der Schlüssel zum Verständnis der Raumzeit - und damit der materiellen Welt - ist die Dimension der Symbole oder Ideen - oder der Geist."

„Und warum ist das so?“ wollte Micha genau wissen.

„Das liegt an der Janusköpfigkeit der Raumzeit-Dimension. Mit ihrem Raumaspekt schielt sie zur physischen Welt der Materie - und mit ihrem Zeitaspekt zur Welt des Geistes - oder der Symbole.“ Der Großvater nahm die Rosenquarzkugel in seine Hand und betrachtete sie, als würde aus einer Kristallkugel lesen. Dabei murmelte er gedankenverloren in seinen Bart: „Ja, ja, alles nur Symbole“.

„Nein, ich meine, was haben denn die Symbole mit dem Geist zu tun?“ hakte Micha jetzt energisch nach.

„Geist kann sich für uns immer nur symbolisch, in der Sprache der Symbole also, ausdrücken. Was immer wir betrachten, es ist ein Symbol für den dahinter verborgenen Geist. Ob das nun die Bibel ist oder der Koran, unser Sonnensystem oder die Welt der Atome - alles ist Symbol.“

Der Großvater machte eine kleine Pause und legte die Quarzkugel an ihren Platz zurück. Für ein paar Momente war nur das Ticktack der Uhr zu hören. Schließlich sagte Micha:

„Aber dass Raum und Zeit nur eine einzige Dimension sind, anstatt vier...“

"Du kannst es auch folgendermaßen betrachten“, antwortete der Großvater, indem er in seiner rechten Jackentasche kramte und schließlich eine Münze auf die Tischplatte legte, "Was ist das?" er richtete seinen Zeigefinger auf die Münze.

"Zwei Euro." antwortete Micha brav.

"Bravo." erwiderte der Großvater und lächelte verschmitzt.

"Das war einfach… ich meine zu einfach" meinte Micha und kratzte sich am Hinterkopf als wolle er ausdrücken: da ist doch sicherlich ein Trick dabei.

"Schon, aber du hättest ja auch ‘Kopf’ sagen können, oder ‘Zahl’." meinte der Großvater und nahm die Münze wieder in die Hand und drehte sie von einer Seite zur anderen.

"Logisch, aber du hast ja sicher die Münze gemeint und nicht, welche Seite oben liegt?!" Wollte Micha nun wissen.

"Eben. - Was ich meine, ist folgendes: Raum und Zeit sind..." der Großvater hob den Arm wie ein Dirigent, als wolle er Micha zu seinem Einsatz auffordern.

Micha meinte zu verstehen und es kam wie aus der Pistole geschossen"... wie Kopf und Zahl?"

"Ja. So ähnlich. Aber die Münze selber ist ein Symbol für...?" bohrte der Großvater weiter

"Ähh... für Geld?" Micha wurde unsicher

"Und eine Ebene höher?" wieder dirigierte er Michas Einsatz

"Für... Reichtum?" Micha runzelte die Stirn.

"Noch höher."

"Für Macht?" Micha wusste nicht worauf der Großvater hinaus wollte und zuckte mit den Achseln.

"Und noch höher?" der Großvater ließ nicht locker.

"Ähh... für Energie!?" Micha zeigte mit seinem Zeigefinger auf Großvater, der widerum gleichzeitig auf Micha zeigte und ausrief:

"Der Kandidat hat 100 Punkte. Die zwei Euro gehören dir." Der Großvater schnippte die Münze in Michas Richtung und Micha fing die Münze grinsend auf und steckte sie ein.

"Wenn wir Raum und Zeit betrachten, „ setzte der Großvater die Unterhaltung fort, "tun wir das so, als gäbe es nur Kopf und Zahl. Aber die Münze, das Ganze nämlich, übersehen wir."

"Die dritte Dimension?" fragte Micha und kratzte sich wieder am Hinterkopf.

"Exakt." Bestätigte der Großvater zufrieden über die gelernte Lektion seines Enkels.


4


Eine ferne Kirchturmuhr schlug Mitternacht. Micha lag noch wach in seinem Bett.

"Seltsam, wieder in Vaters Kinderzimmer zu sein," dachte er, "vielleicht hat er damals auch diese Uhr gehört, wenn er nicht schlafen konnte. Über was mag er dann wohl nachgedacht haben?"

Damals war Alex ebenso alt wie Micha heute - und der Großvater war so jung wie heute sein Sohn Alex.

"Bestimmt", überlegte Micha und betrachtete die Zimmerdecke, "konnte Paps damals auch nicht schlafen, wenn der Vollmond so hell ins Zimmer schien wie jetzt."

Micha stieg aus dem Bett und ging barfuss über die knarrenden Dielen zum Fenster hinüber.

Der Teil des Gartens, den er von hier aus sehen konnte, war in ein magisches, kaltes Mondlicht getaucht. Aus dem Arbeitszimmer des Großvaters im oberen Stockwerk fiel ein heller Schein auf die geheimnisvoll schattige alte Linde vorm Fenster, deren Zweige sich sanft im Nachtwind wiegten.

Dieser Lichtschein von Großvaters Schreibtischlampe erschien Micha wie ein Symbol für Geborgenheit inmitten einer ansonsten kalten und rätselhaften Welt.

Micha presste seine Nase an der Scheibe platt, so dass er zu seiner Linken einen Teil der alten Platanen sehen konnte, welche die Seestraße säumten, bis diese weiter oben in die Brahmsallee mündete. Und dort, an der Ecke Seestraße und Brahmsalle, stand die Goldbergvilla, von der Harry erzählt hatte, dass es da spuken soll.

"Falls sich jetzt", überlegte Micha, "ein Gespenst von da oben hierher, in diesen Garten verirren sollte, um mich zu erschrecken, dann... dann... könnte ihm das gelingen."

Bei dem Gedanken, dass plötzlich ein Geist da draußen stehen und ihn anstarren könnte, lief Micha ein kalter Schauer nach dem anderen über den Rücken. Er verschwand eilig wieder im Bett und zog sich die Decke über den Kopf.


Nach dem Frühstück, als der Großvater wieder in seinem Arbeitszimmer saß, unternahm Micha eine kleine Kahnpartie auf dem Weiher.

Linus, der Kater, hatte ihn bis zum Bootssteg begleitet und ihm dann vom Ufer aus beim Ablegen zugesehen. Der Kahn war alt und morsch. Micha zog Schuhe und Strümpfe aus und stellte sie auf die Sitzbank neben sich, denn beim Rudern reichte das Wasser im Innern des Kahns fast bis zu seinen Knöcheln. Und Micha war zu bequem, den Blechnapf, der zwischen seinen Füßen herum schwamm, zum Ausschöpfen zu benutzen.

Ein paar Krickenten paddelten eilig davon, als sie Micha näher kommen sahen und ein Eichelhäher verschwand mit einem empörten Krächzer im Wald, auf der anderen Seite des Sees.

Micha wurde es schnell langweilig auf dem Wasser. Er erinnerte sich, dass es ihm bei seinem letzten Besuch hier genau so ergangen war: nichts wünschte er sich anfangs mehr, als mit dem Kahn auf den Weiher hinaus zu rudern - und kaum war er draußen, fand er es absolut langweilig und er wollte zurück ans Ufer.

Micha beschloss, noch vor dem Mittagessen einen kleinen Besuch in der 'Oper' zu machen und ruderte zurück zum Steg.

Die 'Oper' war ein versteckter, romantischer Ort inmitten des Wäldchens, das sich zwischen Fußballplatz und Vereinsheim einerseits und dem westlichen Ufer des Weihers andererseits erstreckte. Als Naturtheater war sie so eine Mischung aus natürlichen Gesteinsformationen und zusätzlicher Gestaltung durch Menschenhand und stammte noch aus der Zeit, als hier König Ludwig seinen Wildpark unterhielt, zur Pflege des Rot- und Damwildbestandes - und zur Bereicherung seines königlichen Speisezettels. Denn ganz in der Nähe befand sich zu jener Zeit sein Lustschlösschen Bellevue, das noch vor 80 Jahren zu besichtigen war, ehe es dann während des 1. Weltkriegs zerstört wurde. Nur das Fundament blieb erhalten und wurde in das später an diesem Platz errichtete Städtische Krankenhaus integriert, bis auch dieses, in den letzten Monaten des 2. Weltkrieges, zusammenfiel.

Die 'Oper', in der Form eines kleinen, natürlichen Amphitheaters, hatte auch den vielen Generationen nach König Ludwig immer wieder zum romantischen Stelldichein gedient. 'Oper' wurde es erst genannt, seit dort vor ein paar Jahren eine Schülergruppe des Uhland-Gymnasiums die 'carmina burana' von Carl Orff aufgeführt hatte.


Trotz der langen Zeit, die seit seinem letzten Besuch hier vergangen war, fand Micha den Weg quer durch Gebüsch und Unterholz ohne Schwierigkeiten. Er hatte gerade die kleine Tannenschonung erreicht, von der aus man sich nach halbrechts wenden musste, den Hügel hinab, um dann direkt bei der 'Oper' herauszukommen, als er horchend stehen blieb.

Die Stimme eines Mädchens war zu hören. Es klang, als sagte sie ein Gedicht auf:


die Sonne schien so hell aufs Meer,

sie schien mit aller Macht

und glättete in sanfter Glut

die Wogen still und sacht.

zum Staunen wohl, denn das geschah

genau um Mitternacht.


'Alice im Wunderland', dachte Micha, der sich sogleich an seinen Lieblings-Zeichentrickfilm erinnerte. Die Stimme wurde nun durch eine andere unterbrochen, in die sich noch weitere mischten.

Wurde da unten etwa wieder Theater gespielt? fragte Micha sich neugierig und beeilte sich, den steilen Hügel hinabzuklettern.

Sofort verstummte alles. Und Micha blieb überrascht stehen, denn nach dem Geräusch seiner Schritte im raschelnden Laub herrschte plötzlich Grabesruhe im Wald. Sogar die Vögel schwiegen für einen Moment.

Einen Augenblick lang fragte Micha sich, ob er sich die Stimmen nur eingebildet habe, kam dann aber zu der Überzeugung, für so viel Realität fehle es ihm dann doch an der nötigen Phantasie.

Also setzte er seinen Abstieg fort. Als das Theater in sein Blickfeld kam, blieb er wieder stehen:

Eine Gruppe von 7 Kindern, alle etwa in Michas Alter, stand dort unten und starrte wortlos zu ihm empor. Offensichtlich hatten sie Micha kommen hören und wollten nun sehen, ob da vielleicht ein Wildschwein durchs Gehölz bricht.

Auch Micha schwieg.

"Was glotzt du so, hast du noch nie Menschen gesehen?" rief jetzt einer der Jungen aus der Gruppe zu ihm hoch. Er war wohl so etwas wie ein Anführer, hatte kohlschwarze, kurze Bürstenhaare und stemmte seine kräftigen Arme in die Hüften.

"Spinnst du?!" wurde er daraufhin von dem hübschen Mädchen, mit langen blonden Haaren neben ihm angefahren und ihn vorwurfsvoll an der Schulter schubste.

"Bist du da oben festgewachsen?" rief jetzt ein anderes Mädchen zu Micha hinauf, ein kurzer Rotschopf mit vielen Sommersprossen im Gesicht. „Das könnte Pippi Langstrumpf sein, wenn sie jetzt noch Zöpfe hätt…“ überlegte Micha. Es gab insgesamt 3 Mädchen in der Gruppe und 4 Jungen, stellte Micha fest; manche von ihnen waren irgendwie kostümiert.

Er machte sich an den letzten Teil des Abstiegs, wobei er schweigend beobachtet wurde.

Unten angekommen, fischte Micha ein paar trockene Blätter aus seinen Schuhen und sagte so nebenbei:

"Wer seid ihr denn!"

"Wer bist du denn!" sagte der Junge, der ihn schon mal angefahren hatte und schaute Micha mit seinen grünen Augen fragend an.

"Es ist unhöflich, mit einer Gegenfrage zu antworten", wurde er von einem der Mädchen zurechtgewiesen, die mit dem Rotschopf. Und zu Micha gewandt, fuhr sie fort:

"Wir proben für das Sommerfest eine Aufführung von Alice hinter dem Spiegel. Und was machst du hier?"

"Ich gehe spazieren." meinte Micha achselzuckend.

"Das sehen wir", sagte der Unhöfliche und musterte Micha mit einem prüfenden Blick von oben bis unten.

Wieder traf ihn ein strafender Seitenhieb von dem blonden Mädchen. Das freute Micha und er sagte zu ihr:

"Ich wohne für ein paar Tage in dem Haus drüben am See, bei meinem Großvater."

"Ach du bist das?" sagte jetzt ein anderer Junge, der eine lange Narbe auf seiner rechten Wange hatte, „wird wohl mal in eine Glasscherbe gefallen sein,“ dachte Micha bei sich. "Harry hat uns das erzählt." fügte er unaufgefordert hinzu, als würde er Michas nächste Frage bereits erraten haben.

Micha nickte und dachte:

"Dieser Harry scheint hier in der Gegend bekannt zu sein wie ein bunter Hund."

Laut sagte er:

"Genau. Ich bin der Micha."

"Und ich bin..."

" ...Dideldie." fiel ihr einer der Jungen, ein Blonder mit schulterlangen Haaren, den man fast für ein Mädchen halten könnte, ins Wort.

"Na schön, dann bist du Dideldum." meinte Micha und deutete mit einem leichten Kopfnicken auf das blonde Mädchen.

Die beiden sahen sich -fast wie Zwillinge - ähnlich, nur dass Dideldum ein Mädchen war und Dideldie ein Junge.

"Das da", fuhr Dideldie fort und deutete auf das andere Mädchen mit brauenen Haaren und einer runden Brille und ebenfalls hübschem Gesicht "ist Sandra, sie hier ist Moni, er da drüben ist Klaus, neben ihm ist Ralf, Dideldum kennst du schon. Und er hier ist Martin."

"Als ich bis vor einem Jahr hier war", sagte Micha, "da habe ich aber keinen von euch gesehen."

"Wir proben ja auch erst seit 3 Wochen", sagte Dideldum.

"Ha ha", sagte Moni, ohne das Gesicht zu verziehen. Sie hatte kurz gechnittene, braune Haare, die frech nach allen Seiten standen.

"Hast du Ahnung vom Theaterspielen?" fragte Ralf, der recht dick war und fast wie Olliver Hardy von „Dick und Doof“ aussah.

"Klar", sagte Micha einfach mal so und überlegte im Stillen, was Ralf wohl mit dem selbstgebauten Bogen und der Bindfadensehne sowie den krummen Pfeilen aus angespitzten Zweigen anfangen wollte.

"Dann soll er uns doch sagen, was er davon hält", sagte Dideldie.

"Wovon?" fragte Ralf.

"Von dieser verstellten Stimme." entgegnete Dideldum.

"Was für eine verstellte Stimme?" fragte Micha.

"Klaus meint", sagte Dideldum und deutete auf den hageren Jungen, der bisher noch kein Wort gesprochen hatte, "man soll die Zwillinge nicht mit verstellter Stimme reden lassen, weil das albern klingt."

"Hast du schon mal eine Ansagerin im Fernsehen mit verstellter Stimme reden hören?" wandte sich Klaus an Dideldum. Klaus hatte einen kleinen Spalt zwischen den Schneidezähnen und so kam sein S immer gelispelt, was sich recht komisch anhörte.

"Das kann man überhaupt nicht vergleichen!" sagte Dideldie.

"Dann lasst das doch Micha entscheiden", meinte Sandra.

"Tja, also... , es kommt darauf an, wie der Löwe und das Einhorn sprechen", sagte Micha schließlich; denn glücklicherweise war ihm gerade noch eingefallen, dass in der Geschichte auch ein Löwe und ein Einhorn vorkommen.

"Du meinst, wie Alice und der König sprechen", verbesserte ihn Dideldie.

"Hast du nicht gehört", mischte sich jetzt Ralf ein, "er sagte 'der Löwe und das Einhorn' und nicht 'Alice und der König'!"

"Dideldie hat gehört, was er gesagt hat!" verteidigte Dideldum ihren Bruder, "sonst hätte er ihn ja nicht verbessert!"

"Warum müsst ihr eigentlich immer alle Leute verbessern!", schaltete sich jetzt Martin ein, indem er Dideldum anfuhr, was Micha wiederum verblüffte, denn er hatte bisher gedacht, dass Martin ihn als seinen persönlichen Feind betrachtete. Jetzt wurde Micha aber klar, dass Martin einfach nur jemanden brauchte, mit dem er streiten konnte, egal wen.

"Also wenn ihr zanken wollt", sagte Moni, "dann kann ich ja gehen. Ich muss sowieso noch was erledigen."

"Haben wir jetzt eine Probe oder haben wir jetzt keine?" wollte Martin wissen.

"Nun lass doch Moni zufrieden!" sagte Sandra, "warum regst du dich immer gleich so auf?! Können wir nicht einfach ganz in Ruhe probieren? Ohne Streit? Ich jedenfalls komme auch ohne aus. Frieden?"

Sie hielt Martin ihre geöffnete flache Hand hin.

"Von mir aus immer!" sagte Martin und klatschte mit seiner flachen Hand auf die von Sandra.

"Frieden", sagten nun auch die zweieiigen Zwillinge gleichzeitig und klatschen in Sandras Hand.

"Und du?" wendete sich Martin an Ralf, "willst du nicht einschlagen?"

"Mann, ist das ein Kindergarten hier!" sagte der und klatscht nun ebenfalls in Sandras Hand. Und Moni tat es ihm gleich.

"Klaus, was ist?" wendete sich Dideldie an den hageren Jungen.

"Ich hab mit niemandem gestritten. Aber wenn ihr lieber in die Hände klatscht statt zu proben, können wir die Aufführung vergessen. Sooo viel Zeit haben wir auch nicht mehr."

"Er ist immer so schrecklich vernünftig", wendet Sandra sich nun an Micha, "aber meistens hat er recht. Und er hat immer das letzte Wort."


"Eine seltsame Gesellschaft", grübelt Micha währenddessen, "in die ich hier geraten bin. Diese komischen Zwillinge, Moni mit dem Mondgesicht, die schöne Sandra, der streitsüchtige Martin, Ralf mit seinem Flitzbogen über der Schulter und dieser etwas düstere Klaus - woran erinnern mich die bloß? Großvater würde wahrscheinlich sagen 'alles Symbole' - klar. Aber welche, und wofür?"


Nach dem Mittagessen, um das Mimi sich gekümmert hatte - es gab Bratkartoffeln mit Spiegelei, auf beiden Seiten gebacken und Rote Beete- musste der Großvater mit dem Wagen fort und Micha saß mit einem Buch im Schatten einer Tanne vor dem Haus in einem Gartenstuhl, als der Gärtner auf seinem Fahrrad vorbei kam.

Harry hatte schon ein bisschen 'Schlagseite, rotweinmäßig', wie Großvater Harrys streng gehütetes Geheimrezept für eine umfassendere Weltsicht gnadenlos zu bezeichnen pflegte.

Harry war unterwegs zur Goldbergvilla. Die Hecke musste geschnitten werden. Als er Micha sah, stieg er vom Rad und lehnte es an den Lattenzaun. „Hallo Micha“, rief er, während er über den Rasen näherkam.

"Ich hoffe, ich störe dich nicht, junger Mann", sagte Harry mit freundlichem Grinsen, nahm auf der Gartenbank, am Haus, Platz, Micha gegenüber, wobei sein Blick - aber nur ganz leicht - an Michas Augen vorbei zielte.

Micha tat, als würde er von Harrys Schlagseite nichts bemerken und schüttelte den Kopf. „nee Sie stören nicht.“

"Was liest du denn da schönes?" erkundigte Harry sich, und der Satz, so wie er ihn aussprach, klang, als bestünde er aus einem einzigen, sehr langen und schwierigen Wort.

"Der Quanten-Mensch", sagte Micha und hielt einen dicken Schmöker hoch.

"Äußerst interessant", fand Harry, "das wird deinen Großvater freuen. - Übrigens... feiner Mann, dein Großvater, wirklich ein feiner Mann. Das kannst du mir glauben. Nicht so ein ober... so ein oberflächlicher Mensch, wie die meisten. Ganz im Gegenteil... er ist ein richtiger Mephis... Metaphysiker... und wenn ich das sage, du kannst mir glauben... das sage ich nicht einfach so... der weiß, wovon er redet. Liegt voll und ganz auf meiner Linie. Glaub mir... die Welt ist ein Rätsel... ohne den Geist... "

"Meint er den Weingeist?" überlegte Micha kurz.

"Die Welt ist Geist, sagt dein Großvater immer ...und Recht hat er! Aber sag heute mal zu so einem armen Teufel, der grade sein neues Auto gegen einen Baum gefahren hat, das wäre nicht so schlimm, weil es ja nur ein Geisterauto war und der Baum ein Geisterbaum."

"Er würde mir einen Geisterfußtritt geben." sagte Micha.

"Ganz sicher. Und weshalb? Dieser Mann hat nicht gelernt, vertikal zu denken, wie dein Großvater immer sagt. Wir alle sind ein Volk von Horizontal- oder Flachdenkern geworden! Von Horizontal- oder Flachdenkern! Ich sag’s dir. Flachdenker! Alle wie wir da sind. Und warum? Weil wir schon in der Schule das Flachdenken lernen!"

Die Grundsätzlichkeit seiner Erkenntnis unterstrich Harry mit einer weit ausholenden, waagerechten Armbewegung, die er, der Bedeutung seine Aussage angemessen, noch einmal kurz wiederholte.

"Flachdenker! Wir halten bestimmte Schwingsfrequenzen... Schwingungsfrequenzen für Anzeichen einer materiellen Welt - ...manche Schwngungn fühlen wir... - " jetzt kniff sich Harry zu Anschauungszwecken in den Unterarm.

"Du liebe Zeit," überlegte Micha, "ob er auch so denkt, wenn er nüchtern ist?"

"...Und andere Schwingungen kann man sehen, hören, schmecken und riechen."

Harry untermalte pantomimisch, schmatzend und schnüffelnd, was er meinte, - so dass Micha kaum ernst bleiben konnte. Und doch gelang ihm dieses Kunststück, denn er wollte ja auf keinen Fall Harry beleidigen.

"Infrarot- und Ultraschall gibt es noch, aber dann ist es auch schon aus für uns. Ratzekahl aus", fuhr Harry fort und kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. "ist das nun nicht gnadenlos kleinkariert, wenn die Wssnschft...äh, die Wissenschaft denkt, außerhalb des wenigen, was wir wahrnehmen, existiere nichts? Bloß weil wir nichts davon merken? Dabei hat schon Platon gesagt, unsere Wahrnehmung nimmt nicht die Wahrheit wahr, oder so ähnlich... schon Platon... vor zweieinhalbtsnd... tausend Jahren hat er das gesagt. Aber die Wisssenschsch... die Wisschenschaftler glauben das nicht. Die wissen es besser. Ist das nicht wirklich absolut bescheuert? Ganz und gar totaaal bescheuert? Als wenn eine Kaulquappe im Teich behaupten würde, es gibt keine Walfische, nur weil sie noch nie einen gesehen hat."

Micha nickte höflich.

"Du hast mich verstanden, junger Mann. Nicht wahr, das ist doch wirklich bescheuert..." - einen Moment grübelt Harry in sich hinein - "...so bescheuert wie die Annahme, dass die Erde der Nabel des Universums ist."

"Verstehe", sagte Micha.

"Aber Galilei ist seit 5 Jahren reha... bili..bili... seit 1992 hat er Recht. Immerhin. - Materie ist nur eine einzige Erscheinungsform von Geist, sagt dein Großvater. Nur eine einzige...!", fuhr Harry engagiert fort, "...und der Geist... ist nun mal, wie der Kosmos, grenzenlos."

Diese Grenzenlosigkeit des Kosmos unterstrich er wiederum mit einer weit ausholenden Armbewegung, um Micha ein möglichst präzises Bild von den wahren Dimensionen des Universums zu vermitteln. Auch diese Geste wiederholte er noch ein zweites mal, um ganz sicher zu gehen, dass Micha ihn verstanden hatte.

Micha nickte. Er hatte verstanden.

"Unendlich viele andere - Frequenzen", fuhr Harry nun fort, "sind ebenso möglich wie wahrscheinlich, jede für sich als Basis für eine komplette Wirklichkeit. Das heißt, die Erde als ein winziges Energiezentrum unseres phsschen Universms..."

Harrys Artikulierungsprobleme waren wirklich unüberhörbar. Aber er meisterte sie wiederum beim 2. Anlauf, indem er sich nur um die wirklich wichtigen Silben bemühte - und die anderen verschluckte.

"... ist vielleicht gleichzeitig die Zentralsonne in einem Paralleluniversum. Und die unendliche Tiefe des Weltraums", hier setzte Harry wieder zu seiner ausladenden Geste an, hielt dann aber überraschend inne, so als wollte er sich nicht unnötig wiederholen, "ist auf einer anderen Bandbreite vielleicht das hektische Treiben in einem Ameisenhaufen aus Gedankenmaterie! Man muss, wenn dein Großvater Recht hat, eine unüberschaubare Anzahl unterschiedlich schwingender Paralleluniversen annehmen. Alle ineinander und durcheinander... So wie all die Fernsehprogramme durcheinander schwirren, die wir ohne unseren Flimmerkasten gar nicht bemerken würden. Kannst du mir folgen, junger Mann?"

Ein neuerlich prüfender Blick, auch diesmal wieder nicht ganz zielsicher, traf Micha. Denn Harry war es wichtig, verstanden zu werden. Micha hielt ernst und konzentriert diesem schrägen Blick stand und Harry fuhr fort:

"...und selbst dann: möchte vielleicht irgendjemand behaupten, der große Manitu bestehe aus nichts anderem als aus lauter Paralleluniversen? Mit anderen Worten: er ist alles was ist, aber das ist alles... so... unvorstellbar... und gewaltig..., dass wir... verstehst du was ich meine...? Verstehst du das wirklich?"


Am Abend, als die Sonne schon langsam unterging, saß Micha auf dem Holzsteg am Weiher und ließ die Beine baumeln.

Neben ihm hockte Linus, Großvaters Kater, und sah regungslos auf das Wasser hinaus. Als er plötzlich seinen Kopf drehte, folgte Micha seinem Blick - und war überrascht.

Martin und Sandra kamen auf ihn zu. Martin trug so eine Art Rucksack über der Schulter.

"Hallo", sagte Martin.

"Hi", erwiderte Micha.

Sandra begrüßte Micha mit einem freundlichen Lächeln und Linus mit einem kurzen Streichler, was dieser sich ausnahmsweise gefallen ließ.

"Wie kommt ihr hierher?" fragte Micha.

"Martin hat mich vom Unterricht abgeholt und wir wollten noch einen kurzen Spaziergang machen."

"Von welchem Unterricht?" wollte Micha wissen.

"Ballett", antwortete Martin.

"In der Brahms-Allee ist eine Ballettschule", erklärte Sandra, "da hab ich Unterricht."

"Etwa in der Goldbergvilla?" fragte Micha interessiert.

"Klar", sagte Martin.

"Kennst du sie?" wollte Sandra wissen.

"Ich hab gehört, dass es da spuken soll", sagte Micha mit einem Grinsen.

"Ach Quatsch!" erklärte Martin und winkte ab.

"Kein Quatsch!" widersprach Sandra und setzte einen entrüsteten Gesichtsausdruck auf.

"Doch Quatsch." entgegnete Martin etwas energischer.

An Michas Adresse fügte er erklärend hinzu:

"Es gibt ein Video, das von den Leuten, die da wohnen, aufgenommen wurde. Da sieht man den Flur im Erdgeschoß. Sonst nichts. Dann fällt eine Tür zu. Das ist alles. Und das soll der Beweis sein, dass es spukt. - Diese Tür kann irgendjemand zugeschlagen haben. Das muss doch kein Gespenst gewesen sein."

"Es war aber niemand da", widersprach Sandra.

" ...sagen die Schulzes." Wollte Martin besser wissen.

"Es war nachts um 3 Uhr", sagte Sandra.

"Wenn einer nachts um 3 eine Kamera einschaltet, kann er auch eine Tür zuschubsen, oder?" gab Martin spöttisch zurück.

Martin wollte sich nicht von solchen Geschichten beeindrucken lassen.

"Und das mit den Stimmen?" fragte Micha, "ich denke, man hat da auch schon mal so komische Stimmen gehört?"

"Die haben auch nur die Schulzes gehört", sagte Martin.

"Was sollen die denn für ein Interesse dran haben, solche Geschichten zu erfinden?" wollte Micha nun wissen.

"Vielleicht wollen sie das Haus kaufen, zum halben Preis, weil es darin spukt." bemerkte Martin mit einem süffisanten Lächeln.

"Wieso musst du bei allen Leuten immer nur das Schlechteste vermuten?", sagte Sandra und schubste Martin an der Schulter.

"Wem gehört das Haus denn?" fragte Micha.

"So einer Erbengemeinschaft, glaub ich. Entfernte Verwandtschaft von den ehemaligen Besitzern." sagte Sandra nun wieder zu Micha gewandt.

"In dem Haus sollen damals mehrere Leute ermordet worden sein, heißt es", ergänzte Martin.

"Vielleicht sind sie im Garten vergraben. Oder im Keller?", spekulierte Micha.

"Ach was", meinte Martin und winkte ab, "dann hätte man längst mal was ausgebuddelt."

"Jedenfalls... " beendete Sandra das Gerede, "ich hab' das Video mit eigenen Augen gesehen. Und das ist echt. Jede Wette."

"Ob ich es auch mal sehen könnte?" fragte Micha, "es würde mich sehr interessieren."

"Klar", meinte Sandra, "ich frag mal. Die Anwälte sind sehr nett, jedenfalls der eine. Und er hat es auch schon in unserer Ballettschule gezeigt. Ich sag' dir Bescheid, wenn es klappt. Wie lange bist du noch da?"

"Noch fast 2 Wochen."

"Ist das nicht ziemlich langweilig?" fragte Martin, "so ganz allein hier rumhängen?"

"Nö, eigentlich nicht", sagte Micha, "vielleicht komm ich mal bei euren Proben vorbei, wenn ich's nicht mehr aushalte."


Das Gleichnis oder Michas Welt der Smybole

Подняться наверх