Читать книгу Das Gleichnis oder Michas Welt der Smybole - Alexander Kopitkow - Страница 15

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Diesesmal hatte Micha weniger Schwierigkeiten mit dem Einschlafen. Und er hatte einen seltsamen Traum.

Er befand sich inmitten einer größeren Menschenansammlung auf dem Marktplatz eines altertümlichen Städtchens.

Die schmalbrüstigen Fachwerkäuser drängten sich aneinander, als wollten sie sich gegenseitig stützen. Weder schien die Sonne, noch der Mond, dennoch waren alle Details der Szenerie deutlich zu erkennen.

Die Menschen um ihn herum waren mittelalterlich gekleidet und - sie befanden sich in einem allgemeinen Aufruhr. Man rief und rannte durcheinander, aber ohne eine erkennbare Ursache. Niemand nahm von Micha Notiz.

"Die Soldaten müssen her!" rief jemand.

"Soviel Zeit bleibt uns nicht!" antwortete ein anderer.

Jetzt verspürte Micha ein starkes Schwanken des Bodens, so als stünde er auf einer sehr großen Götterspeise.

"Rette sich wer kann!" schrie ein Dritter.

"Wir sind verloren, das ist das Ende!" riefen Andere durcheinander.

Eine hysterische Frauenstimme begann zu kreischen, Kinder weinten. Es war Micha, als sollte die Welt untergehen. Das Geschiebe und Gerenne um ihn herum wurde immer hektischer.

Plötzlich erhob sich jenseits der Stadtmauer ein gewaltiger Feuerschein und fast gleichzeitig drang ein so markerschütterndes Donnergebrüll herüber, dass alle vor Schreck erstarrten, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Danach wurde das Gedränge umso aufgeregter. Micha konnte sich nicht erklären, was da vor sich ging.

"Der Drache! So haltet ihn doch auf! Er wird uns töten!" schrie eine junge Frau mit einem weinenden kleinen Kind auf dem Arm. Sie stand direkt neben Micha.

"Was denn für ein Drache?" fragte Micha. Aber niemand beachtete ihn.

Jetzt kam aus der Richtung des Feuerscheins eine Krähe über die Stadtmauer geflattert und kreiste über dem Marktplatz.

"Ein Zeichen!", rief jemand, "ein Zeichen!"

Die Krähe ließ ein ebenso lautes wie misstönendes Krächzen über der Menschenmenge hören.

„Krah, kraah!“

"Still!" rief die Frau mit dem Kind auf dem Arm und deutete nach oben, "...eine Botschaft!"

Ein Vogel mit einer Botschaft - davon hatte Micha noch nie gehört - oder doch?

"Da schau her! Diese Frau hört Raben sprechen!", rief jetzt jemand hinter Micha. Es war ein wohlbeleibter Mann in einer kostbaren, gelbgoldenen, seidenen Robe. Auf seiner Brust hing an einer schweren Goldkette ein reich verziertes, mit Edelsteinen besetztes massives Goldkreuz.

"Der Großinquisitor!", raunte jemand neben Micha.

"Sie wird eine Hexe sein", fuhr der Großinqisitor fort, indem er sich an die Umstehenden wandte, "wer sonst hört Raben sprechen! Die Folterbank ist dir sicher, mein schönes Kind. Ich werde mich persönlich um dich kümmern."

Die beiden letzten Sätze hatte er etwas leiser und mit einem wirklich teuflischen Grinsen gesprochen. Die junge Frau sah ihn nur mit schreckgeweiteten Augen sprachlos an. Nun wandte der Inquisitor sich wieder an die Menge:

"Dieser Hexe hier haben wir das Unglück zu verdanken! Sie hat den Drachen herbeigehext! Auf den Scheiterhaufen mit ihr!!"

"Nun haltet endlich euer gottverdammtes Schandmaul!" brüllte ein hünenhafter Mann zum Inquisitor hinüber, "wir wollen die Botschaft der Krähe hören! Nun…," wandte er sich dann an die Frau mit dem weinenden Kind, "…was sagt die Krähe?"

Der Inquisitor war angesichts dieser Respektlosigkeit dermaßen sprachlos, dass er nur nach Luft schnappte, wie ein Fisch, den man aus dem Wasser holt. Und auch die Umstehenden waren verstummt, denn sie hätten gern die Antwort des hohen Herrn gehört.

"'Schickt einen Unterhändler', ruft die Krähe", sagte die Frau nun zu dem Hünen, der sie gegen den Inquisitor in Schutz genommen hatte.

Im gleichen Moment kam wieder eine so gewaltiger Feuerwalze direkt gegen die Stadtmauer, dass die geschmiedeten Angeln des schweren Portals sich wie Wachs bogen und die mächtigenen, eisenbeschlagenen Holztore zu Boden stürzten, wobei sie mehrere Menschen unter sich begruben. Es wurden schreckliche Schreie laut, Weinen und Fluchen.

"So schickt doch endlich einen Unterhändler, oder sollen wir hier alle sterben?!" rief eine aufgeregte Frau mit einem sehr dünnen Mund und schriller Stimme, "hat denn niemand Mut von diesen Mannsleuten? Soll ich vielleicht gehen?!"

Im gleichen Moment bebte die Erde und zwei der schmalgiebeligen Häuser stürzten in sich zusammen. Erneutes Geschrei, Rufen und Rennen setzte ein.

"Still, verdammt nochmal", rief der Hüne jetzt, "der Rabe... was will er denn?!"

"Ich kann es nicht verstehen, bei diesem Lärm...", sagte die Frau mit dem Kind auf dem Arm.

"Hexe!", zischelte der Großinquisitor, "dir wird dein Geschwätz noch vergehen."

"...der Rabe sagt: 'der Unterhändler sei Michael "

"Was für ein Michael?" überlegte Micha, "hier gibt es ja hoffentlich auch noch andere."

"Dieser Michael?!" ruft jetzt jemand aus der Menge und deutet auf den erschrockenen Micha.

"Bist du Michael?" fragten die Leute in seiner Nachbarschaft und Micha nickte wortlos.

"Also, dann geh', worauf wartest du noch", drängte und schob man Micha nun in Richtung Stadttor, "frag den Drachen, was er will. Lass dich nicht einschüchtern. Sag ihm, wir werden ihm die Soldaten schicken, wenn er sich nicht trollt. Oder locke ihn nach Oberbergbach, da gibt es mehr zu holen."

Wieder schoss eine Feuerlohe über den Marktplatz hin, so dass eines der Häuser direkt an der Stadtmauer Feuer fing. Zu der allgemeinen Aufregung gesellte sich jetzt auch noch der Brand, der auf die Nachbarhäuser überzugreifen drohte.

"Wasser! Schnell! Holt Wasser! Mein Haus brennt!" rief jemand.

"Hol dir dein Wasser doch selber, elender Wucherer!" rief ein Anderer.

"Wir werden alle sterben!" hörte man nun, "das ist der Untergang!"

Micha fühlte sich von vielen Händen zur Stadtmauer geschoben, er konnte sich nicht widersetzen.

"Hoch, Michael, unser Retter!" rief jemand von denen, die ihn fortschoben.

"Er soll leben!" stimmten andere Rufer ein und schoben ihn weiter. Micha fühlte sich wie betäubt.

Als er durch das zerstörte Stadttor geschoben wurde, strahlten die steinernen Mauern eine glühende Hitze aus. Unter den verkohlten Holzbohlen des Tores hörte er einzelne schwache Rufe von Verletzten, Eingeklemmten. Aber niemand kümmerte sich darum.

Schon stand Micha mutterseelenallein draußen, vor dem Tor; seine Begleiter waren hinter der Stadtmauer geblieben. Der Boden bebte jetzt so stark, dass ein Teil der Mauer zusammenstürzte. Auch hörte man neuerliche Schreckensrufe.

Noch nie hatte sich Micha so verlassen gefühlt wie in diesem Augenblick. Dennoch wusste er, dass ihm keine Wahl blieb und er machte sich auf den Weg zu dem Drachen.

"Vielleicht kann man mit ihm reden und er ist gar nicht so böse."

Micha schaute überrascht auf. Neben ihm gingen ein Junge und ein Mädchen in seinem Alter. Offenbar waren sie Zwillige, denn sie unterschieden sich nur durch ihre Kleidung voneinander.

'Dideldie und Dideldum! Wo kommt ihr denn plötzlich her?' wunderte sich Micha.

"Wir könnten versuchen, mit einem Steinwurf den Drachen zu töten, genau zwischen die Augen. Wie bei David und Goliath."

Diese Stimme kam von jemandem, der vor Micha ging, etwa zwei Schritt voraus. Das fand Micha nun aber doch äußerst merkwürdig. Wer war denn nun dieser Junge? Und direkt neben ihm ging ein Mädchen, ein sehr hübsches noch dazu. Jetzt erkannte er Sandra. Und der Junge war wohl Martin.

"Das wird ein Spaziergang, Leute, ich sag's euch. Wir haben alles im Griff, glaubt's mir", sagte Ralph zuversichtlich.

"Okay", meinte Micha, "ich glaub', du hast Recht. Aber bitte keine Extratouren. Alles hört auf mein Kommando."

Inzwischen hatte die Gruppe jene kleine Anhöhe fast erreicht, von wo aus man ins Tal nach Oberbergbach hinunterschauen konnte. Als wiederum ein gewaltiges Beben die Erde erzittern ließ, klammerten die Zwillinge sich aneinander, um nicht hinzufallen. Im selben Augenblick schoss direkt vor ihnen - als hätte der Boden sich geöffnet - ein so riesiges Drachenhaupt empor, dass es den Kindern den Atem verschlug. Und es war von so erschreckender Scheußlichkeit und besaß einen so grausam kalten Blick aus starren, grünlichen Glitzeraugen, dass sie alle stumm waren vor Schreck. Nun hob sich auch der Drachenschwanz aus der Talsenke und schlug mit einer zornigen Bewegung dermaßen hart auf den Boden auf, dass Micha die Kiefer gegeneinander klappten.

Der Kopf des Drachen überragte sie wie der Wipfel einer 100-jährigen Eiche, nur eben weniger schön anzusehen - im Gegenteil: aus dem Maul des Ungeheuers troff zu beiden Seiten eimerweise gelber, dampfender Speichel und aus den Nüstern quoll schwefelgelber Rauch, in dem Micha kleine Feuerflammen züngeln sah. Alles in allem war der Anblick so furchtbar, dass Micha dachte, einem solchen Untier möchte er nicht im schlimmsten Albtraum begegnen. Das Ärgste aber waren die kalt glitzernden Augen des Drachen. Sie verbreiteten einen lähmenden Schrecken, der alles zu völliger Bewegungsunfähigkeit erstarren ließ.

Nachdem der Drache die Abordnung der Kinder gemustert hatte, stieß er ein unglaubliches, markerschütterndes Donnergebrüll aus, begleitet von einem nicht minder gewaltigen Feuerstrahl - senkrecht empor in den seltsam bleiernen Himmel, dass Micha Hören und Sehen verging.

"He", zupfte ihn Moni am Ärmel, "hast du nicht gehört, er spricht mit dir!"

Das verwirrte Micha nun vollends.

"Wer?" fragte er.

"Der Drache natürlich!"

"Mit wem!"

"Mit dir!"

"Hähhh?! Ich hab nichts gehört. Was sagt er denn?"

Der Drache schien Micha aber gut verstehen zu können. Er holte noch einmal tief Luft, wobei sein Kopf fast vollständig hinter dem Hügel verschwand - und sodann wieder gewaltig wie beim ersten Mal emporschnellte, um einen Feuerstrahl mit Donnergetöse in den Himmel emporzuspeihen, so dass Micha sekundenlang blind und taub war.

"Tut mir leid", sagte Micha, als er wieder halbwegs bei Sinnen war, "ich habe kein Wort verstanden."

"Drei Bürger aus der Stadt will er zum Fraß haben", sagte Moni, "dann bleiben die anderen verschont."

"Na gut", dachte Micha, "solange er von uns nichts will..."

"Das ist verdammt egoistisch gedacht!", sagte der hagere Klaus.

Micha war einen Moment verblüfft. 'Kann der etwa Gedanken lesen?', dachte er. Klaus schwieg und Micha wendete sich wieder dem Drachen zu.

"Martin und Sandra sollen als Pfand hierbleiben", übersetzte Moni weiter, "wenn du nicht zurück bist, wenn es vom Kirchturm 7 schlägt, will er sie beide fressen."

Das Mädchen deutete auf Martin und Sandra.

"Das hat dieser blöde Drache wirklich gesagt?!" fragte Micha zornig.

Als wenn er es verstanden hätte, nickte der Drache mit seinem hässlichen Kopf. Kann denn hier jeder gedankenlesen, nur ich nicht? fragte sich Micha. Und schon wieder nickte der Drache. Das erschien Micha nun wirklich unglaublich. Mutig ging er noch einen Schritt auf den Drachen zu, von dem er bisher nur den Kopf und den Schwanz gesehen hatte. Doch nun überblickte er das ganze Tal, in welchem das Albtraum-Ungeheuer sich ringelte: dieses Scheusal war absolut keine Täuschung; mit seinem glänzenden, schuppigen Leib und seinen vier hässlichen Krallenfüßen reichte es bis hinüber nach Oberbergbach, das übrigens vollkommen zerstört und nur noch als ein Haufen von Ruinen zu erkennen war.

"Der schreckt vor nichts zurück!" dachte Micha.

Wie zur Bestätigung schlug das Ungeheuer sogleich seinen fürchterlichen Drachenschwanz noch einmal mitten hinein in das Trümmerfeld des ehemaligen, schmucken Nachbardörfchens dort unten im Tal, so dass der Boden bebte und sich riesige Staubwolken erhoben, in denen man Dachsparren und Holzbalken hüpfen sah, als hätte jemand mit einer Riesenfaust in ein gigantisches Mikadospiel geschlagen.

Nein, es stand für Micha nun ganz außer Frage, die Lage war hochdramatisch! Und wollte er noch größeren Schaden abwenden, so musste er sich beeilen.

"Wie erfahre ich die Namen der drei Bürger?" fragt Micha.

"Du wirst sie erfahren, wenn du in der Stadt bist", sagte seine Dolmetscherin.

"Vergiss nicht das Wiederkommen", rief Martin, "und beeil dich."

Sandra umarmt Micha und sagte:

"Ich weiß, dass du zurückkommen wirst."

"Wenn nicht, werden wir dich holen!" grinste Martin

"Keine Angst, ich komme zurück." Mit diesen Worten machte sich Micha mit den anderen Kindern eilends auf den Weg zurück in die Stadt.

Dort wurde er schon ungeduldig erwartet: ein paar der Bürger hatten sich sogar bis vor die Stadtmauer hinaus gewagt.

"Nun, was hast du erreicht? Wie sieht der Drache aus? Ist er fort? Erzähle!" riefen alle durcheinander. Micha stellte sich auf den Rand des Brunnens in der Mitte des Marktplatzes, damit ihn alle verstehen konnten und sagte:

"Es gibt nur eine Chance, dass der Drache diese Stadt verschont. Wir müssen ihm drei ihrer Bürger ausliefern, die er mit Haut und Haaren fressen wird."

"Auf keinen Fall", rief der Mann, der vorhin den Inquisitor angefahren hatte, "hier wird niemand ausgeliefert."

"Aber selbstverständlich werden wir drei Menschen opfern, wenn wir damit die anderen retten!" rief der Großinquisitor, "Stadtkommandant, holt Eure Männer zusammen, man soll auch Stricke und Eisen mitbringen."

"Kommt nicht in Frage“, rief der Bürgermeister, den man an seiner schweren Amtskette auf der Brust erkannte, "hier gebe ich die Befehle! So wahr ich hier stehe! Wir werden uns dem Diktat dieses Ungeheuers nicht beugen!"

"Meint er den Inquisitor?" überlegte Micha.

In diesem Moment drängte der Stadtkommandant auf der Suche nach seinen Leuten am Bürgermeister vorbei, so dass dieser mitsamt seinem prunkvollen Ornat im Schlamm des Marktplatzes landete.

"Es bleibt uns nicht mehr viel Zeit", drängte Micha zur Eile, und wie zur Bestätigung seiner Warnung erbebte der Erdboden neuerlich so gewaltig, dass weitere drei der schmalen Giebelhäuser in sich zusammenbrachen.

Der Stadtkommandant tauchte endlich mit seinen Leuten auf. Die Männer hatten ihre Uniformen in allerhöchster Eile angezogen und waren zum Teil äußerst nachlässig dabei verfahren. Der Müller hatte seinen zweirädrigen Karren herbeigeholt, vor den er seinen Esel gespannt hatte. Micha atmete erleichtert auf:

"Und nun die Namen... - als ersten: Bertold Besewichtel!" hörte er sich ausrufenen. "Wie komme ich auf diesen Namen", dachte er bei sich, "und warum ist er mir so vertraut? Wieso ist mir dieser Name nur so merkwürdig vertraut?"

Der rundliche Ralf schien seine Gedanken lesen zu können:

"Dies ist kein gewöhlicher Marktplatz, auf dem wir uns befinden", sagte er leise zu Micha; "dieser Marktplatz ist ein Symbol. Die Menschen, die du hier siehst, sind nicht räumlich von dir getrennt, sondern zeitlich."

"Sieh da, der Herr Inquisitor Besewichtel!" rief die Frau mit dem Kind auf dem Arm, die vorhin als Hexe beschimpft worden war.

Die Stadtwache hatte den Inquisitor sofort ergriffen, als Micha dessen Namen verkündete.

"Loslassen!" kreischte der Inquisitor und versuchte vergeblich, sich zu befreien, "loslassen! Das wird euch teuer zu stehen kommen! Bürgermeister, ich bringe euch alle auf den Scheiterhaufen. In drei Teufels Namen!"

Die Stadtsoldaten taten ausnahmsweise ihre Pflicht schnell und präzise. Ehe man ihm einen Knebel aus einem Streifen seiner seidenen Robe in den Mund stopfte, konnte er nur noch fragen:

"Aber warummmh..."

"Wegen hundertfachen Folterns und Mordens unschuldiger Mädchen und Frauen, die Ihr der Hexerei beschuldigt habt, wider besseres Wissen!" hörte Micha sich zu seinem eigenen Erstaunen laut verkünden. Und leise zu Ralf fuhr er fort: "das verstehe ich nicht: ein Raum ist ein Raum und Zeit ist Zeit."

"Raum ist nur ein Symbol für die Zeit." antwortete Ralf.

Die Gegenwehr des Inquisitors erlahmte rasch. Der körperlichen Übermacht der Stadtsoldaten war er nicht gewachsen. Fast augenblicklich war er in eine schwere, klirrende Eisenkette gewickelt und als verschnürtes Paket auf den Eselkarren geworfen worden.

"Der nächste ist Willi Wemir." rief Micha.

Auch dieser Name erschien ihm wiederum seltsam vertraut. Richtig! Nun war er sich sicher - das war er ja selbst. Oder etwa nicht? Nein, wohl doch nicht.

"Der Ochsenwirt!" rief der Stadtkommandant, "ergreift ihn!"

"Hier gebe ich die Befehle!" schrie der wütende Bürgermeister, der sich den Schlamm von den Kleidern wischte, "ergreift den Ochsenwirt!"

"Seltsam", dachte Micha, "er ist Willi Wemir - aber wer bin dann ich?" und laut sagte er:

"Habgier hat ihn dazu getrieben, einen Reisenden, der bei ihm übernachtete, zu erschlagen und im Keller seiner Schenke zu vergraben."

Und leise zu Ralf gewandt, fuhr Micha fort: "Raum ist ein Symbol für die Zeit?"

Der nickte:

"So, wie Zeit nur ein Symbol ist für den Raum." ergänzte Ralf wissend.

Micha versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, aber es gelang ihm irgendwie nicht so recht:

"Aber Zeit vergeht - und Raum besteht."

"Du vergisst, dass sich die Erde dreht...", sagte Ralf, während man den Ochsenwirt in Ketten legte, "...bewege dich durch die Zeit - dann verschwindet der Raum. Oder bewege dich durch den Raum - dann verschwindet die Zeit."

"Wenn alle diese Leute nicht räumlich von mir getrennt sind, sondern zeitlich... das bedeutet... das bedeutet..."

Aber Micha konnte sich beim besten Willen nicht konzentrieren, so sehr er sich auch bemühte. Der Ochsenwirt, trotz seiner verzweifelten Gegenwehr, war schnell geknebelt und verschnürt und zum Inquisitor auf den Karren gelegt worden.

"Der dritte Name lautet Lisa Lieblos", verkündete Micha.

Ihm wurden die Knie weich, als er diesen Namen aussprach.

"Treibt da jemand mit mir einen schlimmen Scherz?" grübelte er.

Doch weshalb er das dachte... er wusste es nicht.

Man hatte die Frau mit den schmalen Lippen sofort ergriffen, und noch ehe sie protestieren konnte, hatte sie einen Knebel im Mund. Auch sie wurde verschnürt und zu den beiden anderen auf den Karren gelegt.

Während schon der Müller seinen alten, geduldigen Esel antrieb, verkündete Micha:

"Wer sein Kind tötet, auch wenn es noch ungeboren ist, macht sich des Totschlags schuldig!"

An Ralf gewandt, flüsterte Micha:

"Wie können denn Leute, die früher gelebt haben, gleichzeitig mit mir hier sein?"

"Ich sagte es dir schon", antwortete Ralf geduldig, "die Zeit ist ein Symbol für den Raum."

"Wenn die Zeit ein Symbol ist für den Raum... das heißt doch... das bedeutet..."

"Was bedeutet es?" grinste Ralf, als er Michas vergebliches Bemühen um einen klaren Gedanken sah.

"Das bedeutet... also, das heißt..."

"Siehst du?" hörte Micha die hässliche Frau neben sich zu ihrem Mann sagen, "ich habe es doch gewusst, sie ist auch noch eine Kindsmör..."

Aber dieser Satz wurde nicht zu Ende gesprochen, weil in eben diesem Moment ein erneutes Beben den Marktplatz erschütterte, so dass die Brunnenfigur auf ihrem Sockel zu wanken begann - es war eine steinerne Darstellung des Gottes der Meere - , herabstürzte und mit seinem eisernen Dreizack die häßliche Frau aufspießte, so dass sie nur bis 'Kindsmör...' kam. Die Umstehenden wandten sich schaudernd ab und die weiter Entfernten reckten die Hälse.

"Der Drache wird ungeduldig", dachte Micha. Die Erde bebte nun schon fast ohne Unterbrechung. Man zog und schob den widerstrebenden Esel, sein Name war Ludwig, mitsamt dem Karren hinaus vor die Stadtmauer.

Micha musste all seine Überredungskünste aufwenden, um Ludwig zu einer schnelleren Gangart zu bewegen. Der Weg war recht holprig und die drei menschlichen Pakete in ihren klirrenden Ketten wären schon bald von dem Karren gefallen, wenn die Soldaten sie nicht so gut festgebunden hätten.

"Das ist seltsam", sagte Micha zu Ralf, "wenn die Zeit... wie war das?"

Ralf hatte einen Stein aufgelesen und mitten auf den staubigen Weg einen senkrechten Strich gemalt. Micha wollte deshalb den Esel zum Anhalten bewegen, aber jetzt wollte Ludwig lieber weiterlaufen. Schließlich kam der Karren doch noch zum Stehen und Micha rannte zu Ralf zurück, der inzwischen auch noch eine Querlinie hinzugefügt hatte, so dass ein Kreuz entstanden war.

"Dieser Strich hier", sagte Ralf und deutete auf die senkrechte Linie, "bezeichnet die Zeit - und dieser waagerechte Strich bezeichnet den Raum."

"Hehhh..." rief der Inquisitor heiser von dem Karren herüber. Es war ihm nämlich geglückt, den Knebel auszuspucken, doch die Stimme versagte ihm. Micha sah nur kurz hinüber. Der Inquisitor wackelte mit seinem Kopf, um auf sich aufmerksam zu machen, denn das war der einzige Körperteil, den er bewegen konnte. Ludwig, der Esel, blieb von dem heiseren Gekrächz unbeeindruckt. Er rupfte ein paar Blätter von den Büschen am Wegesrand.

"Hier in der Mitte", sagte Ralf, "wo sich die beiden Linien kreuzen, treffen sich Raum, und Zeit zum 'hier und jetzt' dieses Augenblicks. Verstehst du?"

Micha nickte.

"Wenn du mir diese Ketten abnimmst", rief der Inquisitor heiser, "könnte ich eine Menge für dich tun, mein Sohn! Weißt du, dass ich ein mächtiger Mann bin?"

Micha fand diese Behauptung ziemlich übertrieben und hörte nicht weiter hin.

"Auf diesen Kreuzungpunkt", fuhr Ralf fort, "starren wir wie das Kaninchen auf die Schlange und denken, hier sei die Wahrheit und das Leben - so wie wir ja auch lange glaubten, die Erde sei eine Scheibe."

"Ich könnte beim Papst ein Wort für dich einlegen. Er ist ein guter Freund von mir. Wir kennen uns noch vom Schulhof. Er kann dich zum Erzbischof ernennen!" rief der Inquisitor herüber, "du wärest einer der mächtigsten Männer in der Gegend, bräuchtest nie mehr Sonntags in die Kirche gehen. Aber du musst mich jetzt losbinden. Hast du mich verstanden? He, Michael!"

"Und weißt du", fuhr Ralf fort, "woher dieser Trugschluss kommt?"

Micha sah Ralf neugierig an. 'An wen erinnert er mich nur?' dachte er für einen Moment.

"Wir halten Raum und Zeit für Realität", fuhr Ralf grinsend fort, "das ist so, als hielten wir die Erde für eine Scheibe. Aber das Zeitalter des Wassermanns bringt uns eine neue Dimension der Wirklichkeit: die Dimension der Symbole, die Welt der Ideen, die sich in Raum und Zeit manifestieren."

Wo hatte Micha das schon gehört?

Inzwischen war es auch dem gefesselten Wirt gelungen, sich von seinem Knebel zu befreien.

"Wenn du mich laufen lässt", rief er zu Micha hinüber, "mache ich dich zu einem wohlhabenden Mann. Ich habe eine Menge Goldmünzen in meinem Keller vergraben. Sie gehören alle dir, wenn du mich losbindest!"

"Er hat seine Gäste nachts in ihren Betten erschlagen und sie im Keller seines Gasthauses verscharrt!" kreischte der Inquisitor, "an seinen Händen klebt Blut!!!"

"Nicht soviel wie an deinen!" gab der Gastwirt zurück, worauf der Inquisitor vor Empörung verstummte.

Ralf hatte einen Stecken aufgelesen und ihn senkrecht auf den Kreuzungspunkt seiner beiden Striche gestellt.

"Schau", sagte er zu Micha, "wo dieser Stock das Kreuz berührt, ist unser Bewusstsein zentriert, am Kreuzungspunkt von Raum und Zeit. Hier oben, wo der Stock zu Ende ist, können wir unser Bewusstsein aber auch zentrieren. Es erfordert nur, zum Vertikaldenker zu werden.

Am oberen Ende dieses Stabes verbinden sich Tiefe und Höhe, Vergangenheit und Zukunft, zum ewigen Hier und Jetzt."


Das Klirren vom Karren her ließ Micha aufblicken. Jetzt hatte sich auch die Frau ein wenig befreien können. Aber nur ihre Beine hatte sie aus den Ketten gelöst. Der Knebel in ihrem Mund hinderte sie noch immer am Sprechen. Also bewegte sie ihre Beine, um Micha etwas mitzuteilen, aber der wusste nicht, was sie meinte.

"Hör nicht auf sie", sagte Ralf, obwohl gar nichts zu hören war, außer dem Klirren der Ketten.

"Das Ganze sieht ja aus wie eine Pyramide", sagte Micha.

"Es ist eine Pyramide, ein Symbol für die drei Dimensionen der Schöpfung."


Micha erwachte auf einem nassgeschwitzten Kopfkissen. Er brauchte einen Moment, um sich zu orientieren - ach ja... er war im Haus des Großvaters.

Draußen, vorm Fenster, wurde es langsam hell.

'Was für ein dummes Zeug ich da wieder zusammengeträumt habe', überlegte er. 'Und dieser abscheuliche Drache, entsetzlich - ein wirkliches Albtraummonster. Und was hatte dieser Ralf im Traum zu ihm gesagt...?' grübelte Micha, aber was es auch war... er konnte sich nicht erinnern... hing es nicht irgendwie mit der Zeit zusammen?

Ihm fiel ein Experiment ein, über das im Physikunterricht gesprochen worden war. Es ging um zwei supergenaue Atomuhren. die eine davon war auf der Erde installiert und die andere in einem Flieger, der die Erde umkreiste. Als der Flieger wieder landete, und man die beiden Uhren miteinander verglich, war es auf der Uhr am Boden später, als auf der im Flieger. Also war die Zeit während des Fluges langsamer verlaufen.

Wenn man also einen Flieger bauen könnte - überlegte Micha, da jetzt an Schlaf nicht mehr zu denken war - der nur schnell genug wäre, könnte für die Passagiere die Zeit stillstehen. Oder, wenn er noch schneller wäre, könnte man sogar in die Vergangenheit oder Zukunft reisen. Oder war das Unsinn?

Ein wirklich seltsamer Gedanke, grübelte Micha. Theoretisch konnte man vielleicht sich selbst in einem anderen Jahrhundert besuchen - man musste nur mit seinem Flieger sehr viel Raum in sehr wenig Zeit bewältigen; man müsste wohl viel schneller sein als das Licht, oder - noch schneller als die Zeit.

Das Gleichnis oder Michas Welt der Smybole

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