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Spannend wie ein Schwedenkrimi: Als Equipe-Tierärztin zur Weltmeisterschaft
ОглавлениеKurz vor der Abfahrt erwähnt Björgvin ganz nebenbei, dass ich auch noch die Pferde der amerikanischen Equipe und die der Färöer mit betreuen solle. Ich trage also die Verantwortung für mehr als zwanzig Tiere. Anstatt mir darüber Sorgen zu machen, freue ich mich riesig auf die Weltmeisterschaft.
Seit 1987 habe ich keine einzige WM als Zuschauerin verpasst, und jetzt werde ich sogar dafür bezahlt, hinter den Kulissen dabei zu sein. Tatsächlich werde ich Hand an einige zukünftige Weltmeister anlegen dürfen, die ich früher nur von den Zuschauertribünen bestaunen konnte.
Ich packe alles ein, von dem ich denke, dass es vielleicht hilfreich sein könnte. Man weiß ja nie, was bei so einem internationalen Turnier alles passieren kann. Und die Wetterbedingungen in Schweden sind für unsere Islandpferde im Hochsommer sicher sehr ungewohnt. Was da wohl noch alles auf uns zukommen wird?
Nach der Überfahrt mit der Norræna dämmert mir im Auto von Dänemark nach Schweden so langsam, dass ich ja eigentlich keine Ahnung habe, was mich erwartet. Schaue ich vor allem beim Turnier zu und greife nur ein, wenn sich ein Pferd verletzt oder krank wird? Oder bin ich den ganzen Tag im Einsatz und sehe nach jedem einzelnen Tier? Wie werden sich die Trainer, Reiter und Besitzer mir gegenüber verhalten?
Die Frage beantwortet sich dann schon in den ersten Minuten wie von selbst: Alle Reiter, Besitzer, die Betreuer und ich als Equipe-Tierärztin stehen bei den Transportboxen, als die Pferde aus Island ankommen. Wir nehmen die Vierbeiner in Augenschein, lassen sie kurz ein paar Schritte gehen und bringen dann einen nach dem anderen in seinen Quarantänestall.
Als wir eine der Transportboxen öffnen, erstarren wir augenblicklich. Das Pferd, das vor uns steht, ist klapperdürr, nur noch Haut und Knochen. Es ist ein Zuchthengst, der seinem Besitzer hier viel Geld einbringen soll. Wenn ich das Pferd also nicht innerhalb weniger Tage wieder aufpäppeln kann, bleibt der Besitzer auf seiner Investition sitzen, und ich habe unter Umständen schon einen schlechten Ruf, bevor die Weltmeisterschaft überhaupt angefangen hat.
»Bringt das Pferd sofort in den Stall, das darf niemand sehen«, ordnen Equipe-Chef Siggi und Trainer Einar unisono an.
Was wir auch sofort tun. Wir stehen mit einer kleinen Gruppe vor der Box und beratschlagen, was wir mit dem Pferd machen sollen. In diesem Zustand ist es auf jeden Fall zu nichts zu gebrauchen.
»Dann spritz ihm doch einfach irgendwas, sodass er wieder fit wird«, meint der Besitzer.
»Das scheint mir nun keine gute Idee«, antworte ich ihm. »Schließlich gibt es ja Dopingregeln, an die wir uns tunlichst zu halten haben, sonst wird dein Pferd gleich von vornherein disqualifiziert.«
»Woher weißt du denn, was für Dopingregeln hier gelten, Knochenknackerin? Das wird schon nicht so schlimm sein«, meint einer aus der Gruppe aufmüpfig.
»Die Regeln kenne ich sogar ziemlich genau«, sage ich, »denn ich bin nicht nur Tierärztin und Fachärztin für Pferde, sondern auch internationale Sportrichterin. Und da ich seit 15 Jahren Turnierrichterin bin, kenne ich das Reglement in- und auswendig. Also, das Turnier beginnt in einer Woche, und alles, was ich dem Hengst jetzt spritze, ist zu Anfang des Turniers noch nachweisbar.«
Ich ernte betretene Stille. Die Herren um mich herum scheinen sich auf einmal sehr konzentriert für die Beschaffenheit des Fußbodens zu interessieren. Bei einigen von ihnen kann ich aber auch ein kaum sichtbares, anerkennendes Nicken feststellen. Das hatten sie wohl nicht erwartet.
»Du bist zwar noch jung und das erste Mal in dieser Funktion dabei, scheinst aber einiges auf dem Kasten zu haben«, unterbricht ein groß gewachsener Besitzer die Stille.
Ich habe mir Respekt verschafft.
»Ja, ja, gut«, lässt sich schließlich auch der Besitzer des Zuchthengstes vernehmen. »Und was schlägst du dann stattdessen vor?«
»Ich stelle einen Futterplan zusammen, um den Hengst so schnell wie möglich wieder aufzupäppeln. Wir haben ja unsere Sponsoren für Zusatzfutterpräparate hier gleich um die Ecke, da bekomme ich bestimmt alles, was ich brauche. Und da der Hengst im Moment anscheinend nur aus der Hand frisst, aber nicht aus einem Netz oder dem Futtertrog, muss ihm jeder von uns jedes Mal, wenn er an der Box vorbeigeht, eine Spritze mit Öl und eine Spritze mit dem Futterbrei ins Maul geben. Und denkt daran, dass ihr euch vorher und nachher immer die Hände desinfiziert. Vielleicht schaffen wir es so, Numi rechtzeitig vor dem Start wieder fit zu bekommen«, fordere ich sie auf.
Beeindruckt stimmen alle zu.
Dann erinnere ich mich noch an einige Akupunkturtechniken, die ich vor einiger Zeit in einem Fortbildungskurs gelernt habe. Durch Aktivieren bestimmter Punkte lässt sich der Appetit eines Pferdes anregen. Auch Numi reagiert darauf und fängt schon bald wieder an, selbstständig zu fressen.
Einen Tag später gibt es gleich die nächste Krise. Als einer der Reiter am Mittag vom Training zurückkehrt, steuert er direkt auf mich zu und deutet auf die Beine seines Pferdes.
»Schau dir das mal an, Susi. Das Pferd hat lauter Schwellungen an den Beinen. Das ist doch nicht mehr normal.«
Ich schaue mir die Quaddeln genau an.
»Ach herrje, dein Pferd reagiert allergisch auf Mückenstiche«, teile ich ihm die Diagnose mit.
Ein Problem, das wir in Island nicht haben. Dort gibt es nur an wenigen Stellen im Land überhaupt Mücken, und die meisten stechen nicht. Dies war für das frisch aus Island angereiste Pferd also das allererste Mal, dass es mit so einer Plage konfrontiert wurde.
»Und was bedeutet das jetzt?«, fragt der Reiter mit sorgenvoller Miene. »So kann ich jedenfalls nicht starten. Das Tier wird ganz unruhig, es hat deutliche Schmerzen.«
»Ja, weil die Quaddeln nicht nur an den Beinen, sondern praktisch über den ganzen Körper verteilt sind.«
»Und was macht man dagegen?«, bohrt der Reiter besorgt nach.
»Tja, effektiv eincremen können wir wegen der Dopingregeln leider nicht. Aber lass mich mal schauen, ich glaube, ich weiß, wie ich die Schwellungen und die Entzündungen behandeln kann.«
»Mir ist alles recht«, meint er, »wenn ich nur starten darf.«
Jetzt kann ich endlich meine Geheimwaffe einsetzen, freue ich mich. Zum Glück habe ich vor einem halben Jahr meinen medizinischen Laser aus Deutschland mitgebracht. Diesen Apparat gab es in Island bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Tatsächlich schaffe ich es mit den Laserbehandlungen, die Quaddeln und den Juckreiz in den Griff zu bekommen. Das Pferd kann starten.
»Hast du dir das so vorgestellt, als du gebeten wurdest, diesen Job hier zu übernehmen?«, fragt mich Siggi, der Equipe-Chef, nach ein paar Tagen, als ich gerade die Pferde in den Boxen inspiziere.
»Ehrlich gesagt, habe ich mir gar nichts konkret vorgestellt«, antworte ich. »Ich wusste wirklich nicht, was auf mich zukommt.«
»Und, was meinst du«, fragt er weiter, »ist das okay so für dich? Schaffst du es?«
»Bis jetzt geht es, danke«, antworte ich.
»Den Eindruck habe ich eigentlich auch«, meint er. »Irgendwie schaffst du es ja, einen kühlen Kopf zu bewahren, auch wenn manche Situation im ersten Augenblick recht aussichtslos erscheint. Und vor allem«, ergänzt Siggi, »scheinst du nie aufzugeben. Das schätze ich sehr!«
Ich freue mich sehr über das Lob des erfahrenen Equipe-Chefs und bin ziemlich erleichtert, dass bisher alles so gut ging und mich die Equipe akzeptiert und meine Vorschläge und Behandlungsmethoden ernst nimmt.
»Weiter so«, sagt er dann noch und zwinkert mir zu.
Ist das jetzt wirklich wahr? Ich juble innerlich, kann es kaum fassen. Mich erfüllen seine Worte mit Freude, aber auch mit Demut und einem unwahrscheinlichen Ehrgeiz, mich während dieser Weltmeisterschaft noch mehr für jedes einzelne Pferd einzusetzen. Ich denke an meine Zeit als Tierärztin in Deutschland, an den ständigen Stress dort. Und dann dieser Gegensatz zu hier. Auf einer Weltmeisterschaft lastet zwar per se ein großer Druck auf allen, jeder ist bis in die Haarspitzen angespannt, keiner kann es mehr erwarten, bis es endlich losgeht. Und doch bleiben alle so positiv, machen Scherze, genießen diese besondere Zeit auch – und dann steht plötzlich auch noch der Equipe-Chef vor mir und lobt mich über den grünen Klee. Ja, meine Entscheidung, im Herbst endgültig nach Island zu ziehen, ist goldrichtig. Auf dieser Insel und mit diesem Schlag von Menschen kann ich mein Leben führen. Eine bessere Motivation, alles während dieses Turniers zu geben, gibt es einfach nicht.
Eine typische Eigenschaft der Isländer ist eine gewisse Schludrigkeit. Beim Reiten kann man dieses Verhalten oft beobachten, wenn Reiter absteigen und dann die Gerte, die Reitpeitsche, einfach irgendwo in die Ecke stellen. Steigen sie das nächste Mal auf ein Pferd, nehmen sie einfach die Gerte, die ihnen gerade am nächsten ist. Sehr praktisch, weil man sich nicht weiter damit beschäftigen muss, wo die eigene abgeblieben ist, und man sich ganz aufs Reiten konzentrieren kann. Nicht so jedoch bei einer Weltmeisterschaft, bei der es strenge Regeln gibt.
»Leute«, warne ich zwei Tage, bevor das Turnier endlich startet, »ich habe gesehen, dass ihr mit allen möglichen Gerten unterwegs seid und dass die auch überall herumliegen. Ist euch klar, dass ihr disqualifiziert werdet, wenn eure Gerte auch nur einen Zentimeter länger ist als die zugelassenen 1,20 Meter?«
Ungläubiges Staunen. »Ach, das wird schon nicht so streng gehandhabt werden«, sagt jemand. »Das macht doch keinen großen Unterschied, ob die Gerte jetzt ein paar Zentimeter länger ist oder nicht«, meint ein anderer, und ein Dritter wirft ein: »Du mit deiner deutschen Perfektion, lass gut sein.«
Isländer an sich haben es nicht so mit Regeln. Es ist sogar eher so, dass sie, wenn man ihnen Regeln auferlegt und Grenzen zieht, diese mit großer Lust einfach ignorieren und sich darüber hinwegsetzen. Ein Wesenszug, der für die gesamte Insel gilt, bei einem internationalen Turnier aber hochriskante Folgen zeitigen kann. Als Equipe-Tierärztin ist es zwar nicht meine Aufgabe, mich um die Länge der Gerten zu kümmern, als internationale Sportrichterin weiß ich aber, worauf meine Kolleginnen und Kollegen achten werden. Darauf weise ich auch hin, und so langsam dämmert es den Reitern, dass sie das Risiko einer Disqualifikation doch lieber vermeiden sollten.
»Wir machen das so«, nehme ich das Heft die Hand. »Ich habe ein Maßband hier und zeichne auf der Tür neben der Equipe-Box, wo ihr eure Sättel und persönlichen Dinge aufbewahrt, Striche auf. Wenn eure Gerte innerhalb der Markierungen bleibt, ist ihr Maß in Ordnung. Wenn nicht, könnt ihr sie ein paar Zentimeter kürzer schneiden. Eine Schere binde ich euch hier auch gleich an den Pfosten.«
Einar, der Equipe-Trainer, sagt anerkennend: »Da können wir ja froh sein, dass auch wir eine deutsche Tierärztin in unseren Reihen haben und nicht nur die deutsche Equipe.« Auch in Island werden die Deutschen eben gern als ordentlich und pünktlich charakterisiert …
»Ich habe mir vorgenommen, eine Liste zu schreiben, was ihr das nächste Mal unbedingt mitnehmen solltet, wenn es auf ein internationales Turnier geht«, verrate ich Einar, als wir ein paar Augenblicke später zusammensitzen. »Dann braucht der nächste Equipe-Tierarzt nicht mehr darüber nachzudenken.«
»Und was kommt so alles auf deine Liste?«, fragt Einar neugierig nach.
»Zum Beispiel magenschonendes Zusatzfuttermittel, Mückenschutz, Fliegendecken, Hüte mit Fliegennetzen für die Reiter, Kühlgels, Sonnenschutzcremes, solche Dinge«, liste ich auf.
»Haha«, lacht er, »ja, vor allem das mit den Sonnencremes ist keine schlechte Idee. Das hat uns sehr geholfen.«
»Weißt du, mein Vater ist Hautarzt und meine Mutter Kosmetikerin. Bei uns zu Hause bin ich schon von Kindesbeinen an damit groß geworden, dass man im Sommer Sonnencreme benutzen muss. Und für die Hellhäutigen oder gar Rothaarigen unter euch, was ja häufig vorkommt, ist die Sonneneinstrahlung auch hier in Schweden nicht zu unterschätzen.
»Gut, dass du daran gedacht hast, Susi«, stimmt mir der – richtig – rothaarige Einar zu. »Es war vom Rand aus schon lustig zu sehen, wie du die Reiter, die schon in voller Montur mit Schlips und Handschuhen auf dem Pferd saßen, noch kurz vor dem Training eingeschmiert hast«, lacht er. »Weißt du, wir sind das wohl bisher nicht so richtig professionell angegangen. Deine deutsche Gründlichkeit, dein Wissen um die Regeln, das alles hilft uns doch sehr. Das mit der Liste ist ja nun auch wahrlich nichts, auf was ein Isländer jemals gekommen wäre!«
Dann macht er eine kurze Pause und ergänzt schließlich mit vielsagendem Blick: »Ich möchte den Dingen ja nicht vorgreifen, aber ich kann mir sehr gut vorstellen, dass du nächstes Mal die Sachen auf deiner Liste selbst einpacken darfst …«
Die Weltmeisterschaft wird für meine isländische Equipe ein großer Erfolg. Und ich bin stolz, dass auch ich meinen Teil dazu beitragen kann: Mein Mückenstichpatient schafft es bis in die Endausscheidung, und der zunächst so klapperdürre Hengst wird doch tatsächlich Weltmeister in seiner Altersklasse!