Читать книгу Die Insel der wilden Träume - Alexander Schwarz - Страница 9
Ritt auf neuen Wegen
ОглавлениеMehr Kunden bedeuten mehr Arbeit und auch mehr Geld, denn von Björgvins Seite bekomme ich kein Gehalt, sondern darf einen Teil der in Rechnung gestellten Behandlungskosten behalten. Von Anfang an fühle ich mich daher selbstständig und selbstverantwortlich, viel freier als noch zu der Zeit in Deutschland, als ich tatsächlich angestellt war.
Die Miete bei Una und Leifur ist nicht hoch, ich brauche weiter nicht viel zum Leben, also kann ich für die Sommermonate etwas Geld ansparen und mit ein paar Freunden eine mehrtägige Reittour planen.
Wir sind zu zwölft, alles erfahrene Reiter, die die Natur Islands auf dem Rücken der besonders trittsicheren Islandpferde genießen möchten. Mehr als drei Tage sind leider nicht drin, aber immerhin. In dieser Zeit werden wir fast niemanden sehen.
Die Route ausgeklügelt hat Þorri, den ich noch aus Deutschland kenne. Er war der beste Freund meines Freundes. So wurde er auch einer meiner besten Freunde, und das blieb er selbst, nachdem ich mit meinem Freund Schluss gemacht hatte. Seit ich hier in Island bin, betreue ich auch seine Pferde. Þorri wohnt zwischenzeitlich im Norden, in Akureyri, der größten Stadt Islands, abgesehen von den Agglomerationen in der Hauptstadtregion.
Wir reiten durch das Fnjóskadalur, ein Tal nur ein paar Kilometer nordöstlich von Akureyri, und doch hat man dort den Eindruck, als ob man ganz allein auf der Welt wäre. Zu Fuß kämen wir hier nicht durch, zu unwegsam ist das Gelände. Für unsere Pferde hingegen ist das kein Problem.
»Wusstest du, dass wir Isländer ohne das Pferd auf dieser unwirtlichen Insel mit Sicherheit nicht hätten überleben können?«, fragt Þorri, als wir gerade über ein schneebedecktes Feld bergauf reiten. »Im Winter war das Reisen zu Fuß noch möglich. Da musste man sich zwar verdammt warm anziehen, aber immerhin waren die Flüsse zugefroren, sodass man von einem Ort zum anderen kam. Im Sommer ging das aber nicht. Nur auf den Pferden konnte man dann von A nach B reisen, nur so konnten Essen und Material transportiert werden. Die Pferde waren für uns also wirklich überlebensnotwendig.« Wir reiten ein längeres Stück Seite an Seite, sprechen, je weiter weg wir von der Zivilisation sind, über Gott und die Welt.
Wieder weiter unten im Tal verlassen wir die Schneefläche und passieren Geröllfelder voller Lavasand und Basaltsteinen. Die Pferde gehen trittfest ihren Weg. Ich genieße die spektakuläre Natur mit jedem Atemzug, die Mitglieder unserer bunt zusammengewürfelten Gruppe kommen gut miteinander aus, und auch die Pferde scheinen Spaß an der Sache zu haben.
Und doch komme ich ins Grübeln. In meinem Innern weiß ich, dass ich eine Entscheidung treffen muss. Eine, die durchaus mein weiteres Leben bestimmen kann. Die Frage lautet schlicht und ergreifend: Was mache ich im Oktober? Soll ich zurück nach Deutschland gehen, dort wieder meinen alten Job antreten, einen weiteren Schritt auf der Karriereleiter machen und Teilhaberin einer Pferdeklinik werden? Oder soll ich in Island bleiben und versuchen, hier Fuß zu fassen und mir von Grund auf ein neues Leben und eine neue Karriere aufzubauen?
Und obwohl ich doch sonst eigentlich so entscheidungsfreudig bin, wird mir bei dieser Frage ganz schwer ums Herz. Ich werde mit jeder Stunde im Sattel stiller und stiller, grüble und wäge ab: Wenn ich ab Oktober wieder in Deutschland bliebe, könnte ich endlich richtig Geld verdienen und müsste nicht nur für einen Hungerlohn arbeiten, ich hätte Weiterbildungsmöglichkeiten und moderne Apparaturen zur Verfügung, Kollegen, mit denen ich mich auf hohem Niveau austauschen könnte, wäre in ein großes Netzwerk eingebunden, hätte meine Pferde und meinen Hund bei mir, sähe meine Freundinnen und vor allem auch meine Eltern endlich wieder öfter. Bliebe ich hingegen in Island, müsste ich mir im Klaren darüber sein, dass die Arbeitsbedingungen so einfach wären, wie ich sie in den letzten Monaten kennengelernt habe, dass ich mich hier nirgendwo weiterbilden könnte und dass ein großes Netzwerk an Tierärzten einfach nicht vorhanden wäre. Meine deutschen Freundinnen träfe ich dann nur mehr im Urlaub, und auch meine Eltern würde ich viel weniger sehen.
Meine Eltern sind für mich ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt in meinem Leben. Wichtige Entscheidungen habe ich immer in Absprache mit ihnen getroffen. Auch wenn sie nicht immer meiner Meinung waren, so haben sie meine Entscheidungen doch immer akzeptiert und mitgetragen. Sie bildeten schon immer meinen größten Rückhalt und wären dann doch einen Ozean weit weg, wenn ich in Island bliebe …
Wir reiten auf dem kahlen Lavafeld wieder ein wenig bergauf. Am Scheitelpunkt angekommen, sehen wir unter uns ein Schneefeld, das fast bis nach unten an einen Flusslauf führt. Auf der anderen Seite des Flusses schillert die grün bemooste Bergwand.
Nach ein paar Stunden rücke ich heraus mit der Sprache: »Þorri, ich grüble die ganze Zeit und möchte gern wissen, was du dazu sagst.«
»Na endlich«, sagt Þorri, »ich dachte schon, du rückst gar nicht mehr raus mit der Sprache.«
»Wie meinst du das?«, wundere ich mich.
»Du bist die letzten Stunden so still gewesen, und es ist ziemlich offensichtlich, dass du mit dir ringst.«
»Ja, das ist wohl so«, antworte ich ihm. »Ich befinde mich in einem ziemlichen Dilemma, einem selbst gemachten, wohlbemerkt.«
»Na, was ist denn los?«, bohrt Þorri nach.
Wir machen uns am Ende der Gruppe gerade auf, das Geröllfeld hinunterzureiten. Die Pferde suchen vorsichtig Halt, gehen aber Schritt für Schritt weiter.
»Die Sache ist die«, beginne ich zögernd. Ich habe noch keine Ahnung, wie ich meine Überlegungen in Worte fassen soll. Aber vielleicht hilft mir das ja, meine Gedanken zu ordnen. »Ich bin jetzt seit ein paar Monaten hier, und es gefällt mir unheimlich gut. Die Arbeit, die Leute, die Natur, einfach alles. Und ich mache hier den Job, den ich mir schon immer erträumt habe: Ich darf mit Islandpferden arbeiten. Nach dem Sommer geht es für mich wieder zurück nach Hause …«
»Und was machst du dann?«
Ich erzähle ihm von dem Angebot, Teilhaberin der Klinik zu werden, bei der ich angestellt war.
»Das ist natürlich ein verlockendes Angebot«, muss auch Þorri bekennen.
»Ja, schon. Ich habe da wohl wirklich die Möglichkeit einer glänzenden Karriere vor mir, etwas mehr Freiheiten und werde wohl auch ziemlich gutes Geld verdienen.«
»Aber?«, hakt Þorri nach.
Wir erreichen eine schneebedeckte Eisfläche auf der Nordseite des Tales: Schnee und Eis bleiben in Island, vor allem auf Nordhängen und in Bereichen, die die Sonne kaum erreicht, mitunter das ganze Jahr über liegen.
»Aber auf der anderen Seite sind da der Stress, die Hektik, dieses Auf-die-Minute-durchgetaktet-Sein, die ewig unzufriedenen Kunden.«
»Bist du denn bereit, für Karriere und Geld diesen Stress und die Unzufriedenheit der Leute auf dich zu nehmen?«
»Das ist es ja gerade; ich weiß es nicht so recht. Mein Kopf sagt mir, dass ich auf jeden Fall nach Deutschland zurückgehen und dort den Weg weiterverfolgen sollte, den ich bisher eingeschlagen habe.«
Wir sind unten bei dem Flusslauf angekommen. Hier ist es flach, und wir können endlich auch einmal wieder tölten. Der Tölt ist eine besondere Gangart, die fast nur Islandpferde beherrschen. Sie ist genetisch bedingt. Hat ein Pferd dieses Gen, zeigt es diese zusätzliche Gangart oft schon als Fohlen auf der Wiese. Hat es das Gen nicht, wird es den flüssigen Tölt auch nicht erlernen können. Das Besondere am Tölt ist, dass man als Reiter sehr ruhig im Sattel sitzt, fast so, als würde man schweben. Und auch im Tempo gibt es fast keine Grenzen: Kann Fliegen wirklich schöner sein?
Wir genießen das Tal mit seinem Flusslauf, die frische, saubere Luft, die nach feuchtem Moos riecht.
»Und dein Bauch?«, fragt Þorri schließlich. »Was rät dir der?«
»Oh Mann, Þorri, ich weiß auch nicht«, entgegne ich ungeduldig. Ich merke insgeheim, dass er dem Kern des Problems ganz nahekommt. Der Kern, auf den mein Kopf nicht hören will.
»Ich versuche nur, dir bei deiner Entscheidung zu helfen. Wenn ich das richtig heraushöre, sagt dein Bauch etwas anderes?«
Mir wird regelrecht unwohl. Ich presse ein lang gezogenes »Ach« aus meinem Bauch, aus meinen Lungen.
»Das ist es ja gerade«, winde ich mich, »hier in Island passt einfach fast alles. Das ist es doch, was ich immer haben wollte, das hier war schon immer mein Traum, schon als Kind: in Island mit Pferden zu arbeiten.«
»Und«, fragt Þorri, »was hält dich dann zurück?«
»Ich kann doch hier nicht einfach eine Gefühlsentscheidung aus dem Moment heraus treffen«, erwidere ich. »Außerdem habe ich hier keine Fortbildungsmöglichkeiten, und es ist vollkommen ungewiss, ob ich hier tatsächlich mit meiner Arbeit genug Geld verdienen kann.«
»Aber das gelingt dir doch jetzt auch!?«
»Ja, aber das war ja nur für ein halbes Jahr. Jetzt haben die interessierten Kunden auch alle mal die Chiropraktik ausprobiert. Aber akzeptieren die Isländer diese Behandlungsform wirklich langfristig? Werde ich nicht nur als Gast, sondern auch dauerhaft als Tierärztin akzeptiert werden, wenn ich hier wohne? Ach, das ist alles zu kompliziert. Ich muss zurück und in Deutschland praktizieren, um mich weiterzuentwickeln. Da kann ich ja unter anderem auch mit Islandpferden arbeiten, und ein-, zweimal im Jahr komme ich dann eben auf Besuch.«
»Und, macht dich das dann glücklich?«, fragt Þorri.
Ich überhöre seine Frage geflissentlich und argumentiere weiter: »Außerdem, wie soll ich das meinen Eltern erklären? Ich bin ein Einzelkind, verstehst du? Dann ist das einzige Kind auf einmal so weit weg. Und meine Eltern sind mir auch wichtig. Zudem habe ich noch die Pferde und den Hund in Deutschland, die könnte ich gar nicht mit hierher nehmen. Wer soll sich dann um meine Tiere kümmern? Ach, das geht alles einfach nicht.«
»Schau, Susi«, sagt Þorri, »ich kenne dich ja nun schon einige Zeit und weiß, dass du eher ein Kopfmensch bist. Ich weiß aber auch, dass ich dich noch nie so glücklich gesehen habe wie in den letzten Monaten. Natürlich ist es deine Entscheidung, was du machst, aber wenn du mich fragst …«
Wir halten kurz an. Hier ist eine günstige Stelle, um den Fluss zu überqueren. Die Strömung ist nicht zu stark und das Wasser nicht zu tief. Nacheinander reiten wir mit unseren Pferden durch den Fluss. In der Mitte reicht uns das Wasser bis zu den Knien. Wir fixieren einen Punkt am anderen Ufer und überlassen es unseren trittsicheren Tieren, den richtigen Weg durch die starke Strömung zu finden. Auf der anderen Seite angekommen, setzen wir unseren Weg auf der sonnigen und moosbedeckten Talseite fort.
Als wir wieder zu zweit nebeneinander reiten, frage ich Þorri: »Ja? Was wolltest du sagen?«, und mir wird immer mulmiger.
»… Also wenn du mich fragst, dann hast du dir diese Frage schon allein dadurch beantwortet, dass du hier stundenlang mit uns im Sattel sitzt, oder?«
»Wie meinst du das?« Anscheinend habe ich ein Brett vor dem Kopf.
»Dass du bleiben wirst. Du weißt nur noch nicht, wie du deinem Gehirn verklickern kannst, wie es kommt, dass dein Bauch diese Entscheidungsschlacht gewinnt«, sagt er mit einem fast schon entschuldigenden Lachen im Gesicht.
Auch ich muss jetzt lachen, oder muss ich weinen? Jetzt reite ich hier seit Stunden auf dem schneeweißen Traumtölter Máttur, meinem erklärten Lieblingspferd, das unserem gemeinsamen Freund Haukur gehört, durch die wilde isländische Landschaft und kann mir nicht vorstellen, dass das Leben jemals besser sein könnte als in diesem Moment! Auf jeden Fall scheint es mir, dass mein Körper wieder mehr Raum einnehmen kann, die Lungen sich wieder mehr mit Luft füllen, der Bauch entspannt. Ich atme auf. Erst jetzt merke ich, wie angespannt ich die ganze Zeit über war.
»Danke, Þorri«, sage ich, »du hast recht. Eigentlich habe ich die Entscheidung wohl tatsächlich im Innern schon längst getroffen. Ich bleibe!«
»Gratulation«, beglückwünscht mich Þorri, »willkommen in Island! Dieses Mal für immer.«
Ich fühle in mir eine tiefe Freude, bin aber auch leer. Diese Entscheidungsfindung hat mich viel Energie gekostet. Aber Þorri hat recht. Wann, wenn nicht jetzt, soll ich den Sprung wagen? Schließlich habe ich mir ja in den letzten Monaten einen guten Start verschafft, warum sollte sich das nicht fortsetzen? Wenn ich hart arbeite und an meinen Traum glaube, dann klappt das.
»Da, schau«, unterbricht Þorri meinen Gedankengang, »da vorn, ein Rabe. Vielleicht ist Óðinn ja in der Nähe …«
Odin, der heidnische, überaus weise Gott, der sein Wissen seinen beiden Raben Hugin (Gedanke) und Munin (Erinnerung) verdankt.
Krächzend fliegt der große schwarze Vogel über unsere Köpfe hinweg, so als wollte er meine Entscheidung bestätigen.
Alles wird gut!
»Björgvin«, ich bin wieder zurück auf der Arbeit, »was meinst du, könntest du dir vorstellen, also ich meine, wenn ich ganz hierherziehen würde, könnte ich dann weiter bei dir arbeiten?«
»Das wurde aber auch Zeit«, sagt Björvín.
»Was wurde Zeit?«
»Ja, glaubst du denn, ich habe nach dem ersten Tag auch nur eine Sekunde daran gezweifelt, dass du hierbleiben wirst?«, antwortet er schelmisch grinsend.
Jetzt bin ich aber platt. »Du meinst, dir war das die ganze Zeit schon klar?«
»Ja natürlich! So wie du dich hier reingehängt hast und das Ganze genießt, wärst du ja, ehrlich gesagt, schön blöd, wenn du das wieder aufgibst und einfach zurückgehst«, erklärt Björgvin und schaut mich schelmisch an.
Dann fängt er plötzlich an zu lachen. Mir fällt ein Stein vom Herzen, und ich stimme in sein Lachen ein.
Im August werde ich mich dann aber erst einmal auf den Weg nach Deutschland machen müssen: Das Auto muss aus zollrechtlichen Gründen ausgeführt werden, ich möchte meine Möbel und wichtige Sachen holen, außerdem ist allerlei Papierkram zu regeln. Und meinen Eltern und Freunden muss ich meine Entscheidung ja auch irgendwie erklären.
»Dann kommst du einfach im Herbst wieder, wenn das alles erledigt ist«, schlägt Björgvin vor, und ich bin froh, dass er so relaxt an die Sache herangeht. Das erspart mir eine Menge Stress.
Ich möchte mich schon bedanken und wieder an die Arbeit gehen, als er noch mal Luft holt.
»Übrigens, ich habe da noch eine Aufgabe für dich«, meint er.
Da bin ich ja gespannt.
»Du fährst doch mit deinem Auto auf der Norræna zurück, über Dänemark?«, fragt er.
»Ja, ich muss das Auto ausführen, und so kann ich mich in Deutschland auch frei bewegen.«
»Also, die Sache ist die«, beginnt er. »Du weißt ja, dass ich für die isländische Equipe als begleitender Tierarzt arbeite.«
»Ja, und?«
»Nun, im August findet die Weltmeisterschaft für Islandpferde in Schweden statt. Ich möchte aber eigentlich nicht dorthin reisen. Darum habe ich dem Verband vorgeschlagen, dass du stattdessen mitfahren könntest. Ich dachte, du fährst sowieso als Zuschauerin dorthin, da kannst du auch gleich die isländischen Pferde betreuen. Denn schließlich sind einige in den letzten Monaten eh schon deine Kunden geworden.«
»Ich soll was?« Mich haut es fast vom Stuhl.
»Na, ganz einfach, du wirst die isländische Equipe als Tierärztin bei den Weltmeisterschaften in Schweden betreuen«, wiederholt er trocken. Die Fältchen um seine Augen verraten aber auch seine klammheimliche Freude, mir das erzählen zu dürfen.
»Du machst jetzt aber keine Witze, Björgvin, oder?«
»Nein, ich habe dich vorgeschlagen, und der Verband ist einverstanden. Dem steht also nichts mehr im Wege.«
Ich bin erst wenige Monate in Island und schon Teil der isländischen Equipe bei der Weltmeisterschaft!
Ich kann es kaum fassen. Ich habe eine Gänsehaut am ganzen Körper, platze fast vor Freude. Wenn es noch irgendwie einer Bestätigung bedurft hätte, dass ich mit meinem Verbleib in Island die richtige Entscheidung getroffen habe: Hier ist sie!