Читать книгу Die Insel der wilden Träume - Alexander Schwarz - Страница 5
Unterschlupf beim Papageitaucher
ОглавлениеWährend ich durch den Ort irre, sehe ich, dass in einem etwas größeren Gebäude noch Licht brennt. Die Tür ist offen, ich gehe hinein und treffe auf einige Leute, die sich überrascht nach mir umdrehen. Mit meinem eingerosteten Isländisch versuche ich zu erklären, dass ich gern tanken würde.
»Die Tankstelle macht erst morgen früh wieder auf …«, erklärt mir ein Mann, Mitte fünfzig, mit lichtem Haar und großen Fischerhänden. »Was bist du denn so spät noch unterwegs bei dem Wetter? Du willst doch nicht etwa noch weiterfahren?«, fragt er verwundert.
»Eigentlich möchte ich ja schon noch die 130 Kilometer bis Selfoss fahren heute Abend«, erwidere ich kleinlaut.
»Also, hör mal zu, mein Kind«, schaltet sich da eine etwas jüngere Frau ein, »das Wetteramt hat heute Morgen schon eine Wetterwarnung herausgegeben, es wäre also nicht ratsam, dass du jetzt noch weiterfährst. Du kannst dich glücklich schätzen, dass du es überhaupt bis hierher geschafft hast!«
So langsam dämmert es mir, dass ich heute wohl nicht mehr von hier wegkomme.
»Du hast Glück, dass du uns hier noch antriffst. Wir sind gerade fertig mit der Gemeinderatssitzung«, meldet sich nach einer Pause der Mann wieder zu Wort und wird dann auch gleich praktisch: »Eine Unterkunft hast du ja wahrscheinlich nicht, oder?«
Ich verneine und bin niedergeschlagen, weil ich wohl heute Nacht hier festsitze.
»Jón«, ruft da mein Retter in der Not einen anderen Mann im Raum und winkt ihm, dass er sich zu uns gesellen solle. »Jón gehört hier das Hotel«, erklärt er mir, »es ist im Winter zwar geschlossen, aber vielleicht macht er dir ja ein Zimmer zurecht.«
»Ja, ja«, sagt Jón nur, als sein Gemeinderatskollege ihm die Situation erklärt. »Kein Problem, komm einfach mit mir, dann schließe ich das Hotel auf und bringe dir Bettwäsche. Frühstück gibt es zwar nicht, aber du kannst ja morgen früh etwas im Supermarkt oder in der Tankstelle kaufen.«
»Danke, das ist großartig«, sage ich zerknirscht und bin heilfroh, dass mir die Leute vor Ort so schnell und unkompliziert aus der Bredouille helfen: Gastfreundschaft und Herzlichkeit auf Isländisch.
Wenig später begleite ich Jón zu seinem Hotel. Das zweigeschossige Holzhaus liegt direkt am Strand. Wir gehen an der gemütlich eingerichteten Rezeption vorbei in den oberen Stock. Überall hängen Fotos und Zeichnungen von Papageitauchern.
Jón bemerkt, dass ich stehen bleibe, um sie ausgiebig zu betrachten.
»Das Hotel heißt Lundi, weil hier jedes Jahr im Frühsommer auf dem Felsen gleich hinter dem Haus eine große Papageitaucher-Kolonie brütet. ›Lundi‹ ist das isländische Wort für Papageitaucher …«, erklärt er mir und scheint sich über mein Interesse ehrlich zu freuen.
Dann schließt Jón ein einfaches, aber schönes Zimmer mit Meerblick für mich auf.
»Morgen früh komme ich vorbei und schließe das Hotel wieder ab, wenn du weggehst. Einen Schlüssel brauchst du nicht, du bist ja der einzige Gast«, lächelt er.
»Ich habe noch eine Bitte, dürfte ich kurz meine Freundin in Selfoss anrufen, dass ich heute nicht mehr komme?«
»Ja, natürlich«, brummt Jón geduldig, »das Telefon steht unten.«
Nach kurzem Klingeln höre ich schon Nickis vertraute Stimme: »Ich habe sowieso nicht mehr mit dir gerechnet«, meint sie überrascht. »Dass du überhaupt so weit gekommen bist, hätte ich nicht gedacht. Du hast echt Kampfgeist. Den kannst du hier aber auch gebrauchen …«
Wir verabreden uns für morgen und freuen uns beide auf unser baldiges Wiedersehen.
Ich gehe hoch in mein Zimmer und lege mich gleich ins Bett. Ich merke, wie mich der Schlaf regelrecht übermannt. Endlich habe ich es geschafft, denke ich noch. Ich bin in Island! Dann schlafe ich auch schon ein.
Am nächsten Morgen ist Jón bereits unten, als ich aus dem Zimmer komme.
»Guten Morgen«, begrüßt er mich freundlich. »Du hast Glück, heute soll ein schöner Tag werden. Und die Tankstelle hat auch schon auf«, meint er augenzwinkernd. »Meine Frau kommt gleich und bringt dir eine Kleinigkeit zu essen.«
Nach ein paar Minuten kommt Guðrún mit frisch gebrühtem Kaffee und einem leckeren Fladenbrot, belegt mit geräuchertem Lammfleisch.
»Gleich breche ich zu meinem Morgenspaziergang am Strand auf. Wenn du möchtest, kannst du ja mitkommen«, lädt mich Guðrún ein.
Warum nicht, denke ich. Nicki arbeitet bis 17 Uhr, und nach der langen Fahrt gestern die Beine etwas zu vertreten, ist ja auch kein Fehler.
Am Anblick des Meeres kann ich mich dann kaum sattsehen. Denn während der langen Fahrt gestern war es schon so dunkel, dass ich leider nur sehr wenig von der Küstenlandschaft mitbekommen habe.
Der Strand, der an dieser Stelle recht breit ist, beginnt direkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Hotels. Die frische Luft und das Gehen tun mir gut. Ich merke, wie ich wieder zu Kräften komme.
»Der Strand ist ja ganz schwarz«, wundere ich mich.
»Ja«, sagt Guðrún, »das ist alles Lavagestein.«
Die Flut drückt langsam auf das Ufer. »Es kann hier ziemlich stürmisch werden«, erklärt meine Begleiterin. »Deshalb haben wir hier auch keinen Hafen. Der Unterstrom ist einfach zu stark. Auch die haben es übrigens nicht mehr geschafft«, sagt sie und weist mit ihrem Finger auf eine Felsformation rechts von uns, ein paar Meter von der Küste entfernt.
»Wie meinst du das?«, frage ich.
»Na, erkennst du nicht die Form? Das war mal ein Schiff. Ein Troll-Schiff, um genau zu sein. Trolle wohnen in Höhlen und trauen sich nur nachts raus. Sobald sie ein Sonnenstrahl trifft, verwandeln sie sich in Stein.«
»Dann kam dieses Schiff wohl ein paar Minuten zu spät an?«, frage ich.
»Genau«, antwortet Guðrún geheimnisvoll. »Wir sind hier in Vík zwar nur ungefähr dreihundert Einwohner. Aber wir zählen auch nur die Menschen und nicht, was es sonst noch so gibt …«
Sie geht weiter und lässt mich etwas verdutzt zurück.
»Apropos Steine«, sie winkt mich zu sich, »hier lagen gestern noch richtig große Brocken. Die hat der Sturm wohl mit ins Meer hinausgenommen.«
Mir wird klar, dass Isländer viel mehr im Einklang mit der Natur leben, als ich das von Deutschland her gewohnt bin – und darum auch viel mehr wahrnehmen als wir.
So langsam möchte ich dann aber meine Fahrt fortsetzen, denn dem Wetter kann ich sicher auch heute nicht trauen. Schließlich herrscht hier tiefster Winter. Beim wieder vollgetankten Audi angekommen, verabschiede ich mich herzlich von Guðrún.
»Keine Ursache«, sagt sie bescheiden, »wenn Reisende in Not sind, muss man helfen, so einfach ist das. Das haben unsere Vorfahren schon immer so gehandhabt, und das soll auch so bleiben.«
So viel spontane Hilfsbereitschaft gleich an meinem ersten Tag in Island tut richtig gut. Ich werte das als gutes Omen für all das, was noch kommt.
Jetzt freue ich mich aber erst mal auf Nicki.
Nicki kenne ich noch aus Deutschland, wo wir uns als Teenager auf einem Islandpferdeturnier kennenlernten. Sie ist fast gleich alt wie ich, arbeitet bei einem Optiker und lebt glücklich und zufrieden mit ihren Katzen in einer Zweizimmerwohnung in einem modernen Mehrfamilienhaus in dem kleinen Ort Selfoss, der für den Süden Islands wirtschaftlich eine wichtige Rolle spielt.
Ich habe sie schon längere Zeit nicht mehr gesehen, es fühlt sich aber vom ersten Moment so an, als ob wir erst gestern noch zusammengesessen hätten. Mit einer Flasche Rotwein auf dem Tisch machen wir es uns nach dem Essen gemütlich, klönen erst über alte Zeiten und dann über die Monate, die jetzt kommen.
»Und was willst du hier konkret machen?«, fragt mich Nicki und blickt mich dabei mit großen Augen an.
»Ich habe eine Stelle angeboten bekommen, für ein halbes Jahr als Assistenztierärztin in einer Tierklinik«, antworte ich voller Inbrunst, »da arbeiten außer mir nur der Chef und ein anderer Tierarzt. Außerdem sind die dort auf Islandpferde spezialisiert, und das ist ja genau, was ich machen möchte!«
»Du und deine Pferde …«, lacht Nicki. »Na, dann hast du ja endlich bekommen, was du wolltest.«
»Erst mal abwarten, wie es wird. Und es ist ja auch nur bis Oktober.«
»Und wo liegt die Klinik?«
»In Kópavogur, also im direkten Einzugsgebiet von Reykjavík«, erkläre ich ihr.
»Dann kannst du ja über Langeweile nicht klagen. Dort bist du mittendrin im kulturellen und sportlichen Geschehen der Insel«, meint Nicki augenzwinkernd. Und etwas ernster fügt sie hinzu: »Sag mal, hast du denn schon eine Arbeitserlaubnis und eine Wohnung?«
»Um die wollte sich Björgvin, mein Chef, kümmern. Er meinte, das sei alles geklärt, bis ich komme.«
Nicki runzelt die Stirn, schließt kurz ihre Augen und schaut mich dann etwas skeptisch an. »Susi, dir ist aber schon klar, dass du es hier mit Isländern zu tun hast und nicht mit Deutschen?!«
Jetzt bin ich es, die die Stirn in Falten legt und sie fragend anschaut.
»Wenn ein Isländer sagt, er erledige dies und das, dann heißt das noch lange nicht, dass er es auch in die Tat umsetzt. Vor allem, wenn er meint, noch viel Zeit zu haben. Planung und Isländer, das passt einfach nicht zusammen«, macht mir Nicki bewusst.
War ich vielleicht etwas zu leichtgläubig, stehe ich morgen womöglich vor einem Scherbenhaufen und muss gleich wieder zurück, weil ich in Island weder arbeiten darf, noch eine Bleibe haben werde? Plötzlich schießen mir unzählige Fragen durch den Kopf.
»Aber er will doch auch, dass ich gleich loslegen kann?«, versuche ich, meine aufkommenden Zweifel gar nicht erst groß werden zu lassen.
»Das kann schon sein, aber die sind hier halt einfach nicht so organisiert wie in Deutschland.«
Jetzt habe ich es schon so weit geschafft – dann werde ich diese Hürde auch noch nehmen, denke ich trotzig.
»Mit der Arbeitserlaubnis kann ich dir leider nicht helfen«, sagt Nicki, der meine Sorgenfalten nicht entgehen, »aber wenn dieser Björgvin tatsächlich noch keine Wohnung für dich gefunden hat, dann kannst du vorläufig natürlich bei mir schlafen.«
»Das ist wirklich nett von dir«, bedanke ich mich bei Nicki.
»Also fahr dort morgen einfach mal hin, und dann siehst du ja, was Sache ist«, empfiehlt sie mir in versöhnlichem Ton, da sie mir die Verunsicherung wohl ansieht.
Dann nehmen wir beide noch einen Schluck Rotwein.
Bisher überwog bei mir klar die Vorfreude, so langsam sehe ich aber, dass es vielleicht noch weitere Hindernisse zu überwinden gilt, über die ich bisher nicht wirklich nachgedacht habe.
»Apropos: Hast du denn schon eine kennitala?«, holt mich Nicki aus meinen Gedanken.
»Eine was?«
»Na, eine Personenkennziffer. Ohne die läuft hier in Island gar nichts. Ohne diese Nummer kannst du nicht mal einen Film ausleihen, geschweige denn ein Bankkonto eröffnen«, klärt sie mich auf. »Die hat man hier als Neugeborenes schon, bevor man einen Namen bekommt …«
Als ich etwas später ins Bett gehe, mache ich mir nun doch Sorgen. Allerlei Szenarien spuken durch meinen Kopf. Aber es hilft ja alles nichts. Morgen werde ich weitersehen.