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Wer wagt, gewinnt

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»Ah, da bist du ja endlich, Susi! Bist du gut durchgekommen?«

Björgvin freut sich aufrichtig, mich zu sehen, und begrüßt mich herzlich. Er mustert mich von oben bis unten, und seine Augen blitzen auf.

»Komm, ich zeig dir gleich mal, wie unsere kleine Klinik jetzt aussieht, und stelle dich dabei auch Egill, meinem Kollegen, vor.«

Björgvin ist ein schlanker, drahtiger Kerl. Seine Augen verraten seinen Hang zu Humor und einer fröhlichen Grundhaltung, aber auch die Fähigkeit, sich ganz auf etwas zu fokussieren.

Ich kenne und schätze Björgvin schon seit meiner Zeit an der Uni in Hannover, als wir dort zusammen studiert haben und gemeinsam um die Häuser gezogen sind. Nach dem Studium ist er dann wieder nach Island zurückgekehrt, um dort als Tierarzt zu arbeiten. Ich blieb in Deutschland und war in verschiedenen Praxen und Kliniken angestellt.

Im Sommer 2004, mitten in meiner Ausbildung zur Chiropraktikerin, reiste ich mit Freunden zu den nationalen Meisterschaften für Islandpferde, dem Landsmót. Eigentlich ist es ein Festival, bei dem sich alle Pferdeliebhaber in Island und viele Gäste aus dem Ausland treffen und die Zeit miteinander genießen. Zwischen den Gangprüfungen, den rasanten Passrennen und den Zuchtschauen ist das Ganze ein einziges großes Happening. Die Veranstaltung findet alle zwei Jahre statt und ist der absolute Höhepunkt für Islandpferde-Narren wie mich.

An das Festival angeschlossen ist auch eine Tagung für Pferdetierärzte, für die ich mich damals angemeldet hatte. Dort traf ich, die Welt ist klein, auch meinen alten Kommilitonen Björgvin wieder. Eigentlich kein Wunder, aber wir freuten uns doch sehr. Das musste natürlich gefeiert werden. Wir redeten die halbe Nacht und tranken das eine oder andere Glas zusammen, erinnerten uns an gute alte Zeiten und daran, wie es uns in der Zwischenzeit so ergangen war.

»Ich habe mich als Tierarzt selbstständig gemacht, einen Pferdestall gekauft und den gerade erst zu einer Tierklinik umgebaut«, erzählte Björgvin voller Enthusiasmus. »Komm doch mal auf Besuch und schau es dir an! Das wäre was für dich.«

Das klang schon irgendwie interessant. Ich merkte, dass sich ein Kribbeln in meinem Bauch breitmachte.

Björgvin traf, vielleicht eher unbewusst, einen wunden Punkt bei mir: Ich war das Leben und Arbeiten als Tierärztin, so wie ich es in Deutschland kennengelernt hatte, schon nach ein paar Jahren ziemlich leid. Als junge Angestellte verdient man nicht viel, der Stresslevel ist hoch, permanent kann man zu einem Notfall gerufen werden und muss dann sofort los, manchmal auch mitten im Urlaub, wenn die Klinik unterbesetzt ist – und ein cholerischer Chef hilft in dieser Situation dann auch nicht weiter, ebenso wenig wie Kunden, die oft sehr ungehalten sind und gern herumnörgeln. Den meisten kann man’s nicht recht machen, weil man entweder nicht schnell genug an Ort und Stelle ist oder eben doch keine Wunder vollbringen kann.

Anscheinend machte ich meine Arbeit aber gar nicht schlecht, denn kurz vor den Sommerferien bot mir mein Chef an, Teilhaberin der Pferdeklinik zu werden. Das schmeichelte mir natürlich, und es wäre der nächste Schritt auf der Karriereleiter gewesen. Doch da hielt mich irgendetwas zurück, auf der Stelle Ja zu sagen … und schließlich musste ich im Januar ja auch noch meine letzten Examen zur Chiropraktikerin und die Fachtierarztprüfung für Pferde absolvieren.

Ich vertagte also meine Entscheidung vorerst und nahm mir vor, mir alles gut zu überlegen. Mein Chef stimmte zu, und wir verständigten uns darauf, dass wir erst nach Abschluss aller Examen Nägel mit Köpfen machen würden.

Björgvin hatte zwar bei unserem Treffen nur gemeint, ich solle ihn einmal besuchen kommen. Aber irgendwie schien es mir, als öffnete sich da vielleicht eine Tür für mich, die es mir ermöglichen könnte, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und die vorgegebene Karriere vielleicht doch nicht so geradlinig verlaufen zu lassen, wie sie es bisher tat …

»Und, was meinst du, Susi?«, fragte Björgvin mich stolz, als ich ihn in seiner neuen Praxis besuchte.

»Na ja … wirklich schön – aber eben doch recht klein, meinst du nicht?«, antwortete ich ein wenig zögerlich.

»Du bist halt den Luxus in Deutschland gewohnt. Wir brauchen hier nicht so viel Platz, und so viele Gerätschaften haben wir ja auch gar nicht zur Verfügung«, weist Björgvin auf die tatsächlichen Möglichkeiten in Island hin.

»Und der Operationstisch für Pferde, wo ist der?«, fragte ich.

»Ah, der kommt demnächst!«, verkündete er begeistert.

Irgendwie sah alles doch viel provisorischer und einfacher aus als das, was ich bisher gewohnt war. Und trotzdem, es hatte auch was, man konnte sich fast als Pionier fühlen, und Björgvin hatte die Praxis, das spürte ich, mit viel Herzblut eingerichtet. Wie optimistisch er durch seine neu geschaffene Klinik spazierte, wie begeistert er davon sprach, machte deutlich, wie sehr er seinen Job liebte. Das mochte ich.

Plötzlich sagte er: »Was meinst du, ich habe hier einen etwas verzwickten Fall mit einem Pferd, das einen Bauchbruch erlitten hat. Das muss noch einmal operiert werden. Die Kollegen, die den Eingriff vornahmen, meinen, es bilden sich Fisteln und das Ganze sei doch etwas komplizierter als ursprünglich gedacht … Was hältst du davon, sollen wir das nicht zusammen machen? Für einen allein ist die Operation zu groß. Wir könnten sie in einem Monat durchführen, wenn der Tisch geliefert und alles fertig ist. Ich bezahle dich auch dafür.«

»Wie jetzt«, fragte ich ungläubig, »du bezahlst mir das auch, wenn ich in einem Monat extra für die Operation nach Island fliege und sie mit dir zusammen durchführe?«

Unfassbar, dachte ich, in Deutschland klagten die Leute andauernd, dass alle Behandlungen so teuer seien, und hier würde ich extra für eine Operation eingeflogen und auch noch dafür bezahlt!

»Ja, klar«, meinte Björgvin cool und erklärte mir kurz, worauf es bei der OP ankäme und wie wir sie am besten durchführen könnten.

»Also gut«, sagte ich nach kurzem Überlegen. »Ich komme, und wir ziehen das gemeinsam durch!«

Ein Handschlag besiegelte unsere Absprache.

Einen Monat später saß ich im Flugzeug, um mit Björgvin den Bauchbruch bei dem isabellfarbenen Bjartur durchzuführen.

Als ich tags darauf in der Klinik ankam, traf mich fast der Schlag.

»Björgvin, wo ist denn der versprochene OP-Tisch?«, fragte ich verdattert.

»Ja, also«, begann er etwas ausweichend und schaute auf den Boden, »der ist noch nicht ganz fertig.«

»Noch nicht ganz fertig?« Ich konnte es nicht fassen.

»Na ja, ich hatte mit meinem Schwager, der in einer Stahlbaufirma arbeitet, alles besprochen und ihm die Zeichnungen vorgelegt. Die Firma hat auch sofort angefangen, den Tisch nach meinen Vorgaben zu bauen. Nur fehlte jetzt zum Schluss noch ein Teil für die Hydraulik, und das ist im Moment in ganz Island nicht zu kriegen. Und jetzt sind auch noch Sommerferien …«, erklärte Björgvin.

»Jetzt bin ich extra hierhergeflogen, das Pferd kommt gleich und wir haben keinen OP-Tisch?! Wie soll denn das gehen, auf dem Fußboden etwa?«, fragte ich ihn ratlos.

»Genau das dachte ich mir eigentlich«, erwiderte Björgvin trocken.

»Wie jetzt, auf dem Fußboden?« Ich sah ihn mit großen Augen ungläubig an.

»Ja, das geht schon«, meinte er nur.

»Aber Björgvin«, wandte ich ein, »wir sollen eine Bauchhöhlen-Operation durchführen, da muss extrem steril gearbeitet werden.«

»Ach, das wird schon …«

Entweder war Björgvin supercool – oder er hatte keine Ahnung, was uns da bevorstand.

»Und wer kümmert sich um die Narkose?«, fragte ich weiter. »Bisher sind wir ja nur zu zweit, oder täusche ich mich?«

»Das macht Raggi, der Besitzer.«

»Der Besitzer?« Ich konnte es nicht fassen. »Das darf doch nicht wahr sein. Wir machen eine Bauchhöhlen-OP, und der Besitzer, der von Tuten und Blasen keine Ahnung hat, soll die Narkose übernehmen?« Mir wurde schwindelig. In was bin ich da nur hineingeraten, dachte ich. Das konnte niemals gut gehen.

»Wir haben hier sowieso nur eine Injektionsnarkose, und der Besitzer macht das dann mit dem Tropf«, meinte Björgvin schulterzuckend, was mich aber nur wenig beruhigte.

»Ja, ja, das wird schon. Wir sind halt nicht so ausgerüstet wie ihr in Deutschland, hier müssen wir häufig einfach improvisieren«, resümierte er. »Ah, da kommt Raggi ja schon mit seinem Pferd.«

Okay, Susi, machte ich mir Mut, du bist schließlich für diese Operation hierhergekommen, jetzt ziehst du sie auch durch. Gib dein Bestes, wenn es klappt, prima, wenn nicht, lag es jedenfalls nicht an dir, und du bist übermorgen sowieso wieder weg, also was soll’s.

»Auf geht’s«, sagte ich, »lass uns loslegen. Wenn ich es richtig verstanden habe, sollen wir einen Abszess aus der Bauchdecke entfernen, der schon recht groß ist.«

»Richtig«, antwortete Björgvin, und Raggi nickte zustimmend.

»Dann lasst uns aber absprechen, dass wir die Operation abbrechen und das Pferd nicht mehr aufwachen lassen, wenn der Abszess schon bis zur Bauchhöhle vorgedrungen ist. Denn sollte das der Fall sein, dann haben wir eigentlich keine Chance mehr, dass wir die Wunde wieder verschließen können, und eine tödliche Bauchhöhleninfektion ist vorprogrammiert.« Erst recht, weil wir eigentlich völlig unverantwortlich auf Knien auf dem Fußboden operieren werden, denke ich im Stillen.

»Da sind wir uns doch einig, oder?«, wandte ich mich mit entschlossener Stimme an die beiden.

»Ja, das ist in Ordnung«, bestätigten beide wie aus einem Munde.

»Dann lasst uns mal anfangen.«

Raggi hielt tapfer den Tropf mit dem Narkosemittel hoch, Björgvin und ich knieten beide auf dem Boden, beugten uns über den narkotisierten Bjartur und begannen mit der schwierigen Operation.

»Man, das ist ja wirklich ein Ding«, wunderte sich Björgvin, als wir auf den Abszess stießen, »der ist ja riesig, bestimmt kindskopfgroß!«

»Na, dann machen wir uns mal dran, den Klumpen vorsichtig rauszuschneiden«, empfahl ich, und wir führten die Skalpelle vorsichtig Millimeter für Millimeter an der Bauchwand vorbei.

»Au, verdammt«, rief Björgvin plötzlich, »mein Rücken, ich kann mich nicht mehr bewegen.«

»Wie jetzt, was soll das denn heißen?«, fragte ich, ohne den Blick von dem sensiblen OP-Feld abzuwenden.

»Ich glaube, ich habe einen Hexenschuss, ich kann mich wirklich überhaupt nicht mehr rühren«, klagte Björgvin, noch immer halb über das Pferd gebeugt und mit dem Skalpell in der Hand.

Ich schluckte hörbar.

»Soll das heißen, ich muss jetzt ganz allein weitermachen?« Mir schoss noch mehr Adrenalin ins Blut. Ich versuchte, Ruhe zu bewahren und mir gegenüber Björgvin und dem Besitzer des Pferdes meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen.

»Tut mir leid, aber ja, das heißt es wohl.«

Björgvin schaffte es noch irgendwie, sich hinter das Pferd zu setzen, und lehnte sich gegen die Wand. »So kann ich dir wenigstens noch Tupfer und Instrumente anreichen«, krächzte er mit schmerzverzerrtem Gesicht.

Der Pferdebesitzer stand immer noch da, hielt stoisch den Narkosetropf hoch, schluckte und sagte lieber nichts.

Ich schnitt vorsichtig weiter. Irgendwann stellte ich fest, dass der Abszess sogar noch größer war, als wir zunächst angenommen hatten, und sich tatsächlich bis in die Bauchhöhle erstreckte.

»Jungs, es tut mir leid, aber da haben wir keine Chance mehr. Wir brauchen nicht mehr zuzunähen. Lasst uns die Narkosedosis erhöhen und das Tier erlösen«, sagte ich bedauernd.

»Nein!«, riefen die beiden unisono. »Mach einfach weiter!«

»Ja, sagt mal, wir haben doch vorhin gemeinsam entschieden, dass wir es für sinnlos erachten, in so einem Fall noch weiterzuoperieren«, erinnerte ich sie an unsere Abmachung.

»Lass es uns auf jeden Fall versuchen, komm, bitte. Wir schaffen das«, baten mich die beiden.

»Oh Mann, also gut, aber nur, weil ihr darauf besteht.« Zwei gegen einen, was sollte ich dagegen sagen. Ich gab dem Patienten zwar überhaupt keine Überlebenschance, versuchte aber mein Bestes.

Mit aller Kraft schaffte ich es dann tatsächlich ganz allein, Bjarturs kräftige Bauchmuskeln wieder zusammenzunähen. »Uff, Leute, so, das war’s.« Ich wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, stand mit zitternden Knien endlich auf und streckte mich erst mal.

Die beiden bedankten sich überschwänglich bei mir. Ich glaubte zwar noch immer, dass es unnötig gewesen war, die Operation zu Ende zu führen, aber gut. Jetzt war es vollbracht, und ich fühlte mich auch ein bisschen stolz, dass ich das wirklich allein geschafft hatte. Und natürlich hoffte ich trotz der Zweifel nichts mehr, als dass Bjartur zügig wieder auf die Beine käme.

Wir unterstützten das Pferd beim Aufstehen, sodass die frischen Narben nicht gleich wieder aufrissen. Damit war die erste Hürde schon einmal genommen. Wir atmeten alle erleichtert auf.

Trotzdem flog ich kurz darauf mit einem unguten Gefühl nach Deutschland zurück. Der Abszess war einfach zu groß gewesen, dachte ich bei mir, und glaubte immer noch nicht daran, dass das Pferd eine große Überlebenschance hatte.

In den nächsten Wochen hatten Björgvin und ich dann öfter Kontakt, und ich erkundigte mich jedes Mal nach Bjartur.

»Nein, nein, alles gut. Bjartur frisst und hat keine Infektion bekommen. Die Wunde verheilt prima, nichts ist aufgegangen«, versicherte mir Björgvin am Telefon. »Bei Raggi hast du jetzt wirklich einen dicken Stein im Brett.«

Nach dieser guten Nachricht überwog bei mir doch so langsam die Freude über den Erfolg. Und ich spürte immer deutlicher, dass es das in Island doch wäre – genau die Herausforderung, die ich suchte. Das machte so viel mehr Spaß als meine Arbeit hier in Deutschland.

Mir kam der Gedanke, wie es wohl wäre, wenn ich mich von Björgvin für ein halbes Jahr in seiner Klinik anstellen ließe, um einmal genauer auszutesten, ob ich in Island leben und arbeiten könnte. In Deutschland jedenfalls bekam ich sowieso nur einen Hungerlohn, trotz all der Wochenenddienste und Überstunden.

Ich unterbreitete Björgvin dann bei einem unserer Telefonate den Vorschlag, nachdem ich all meinen Mut zusammengenommen hatte.

»Warum eigentlich nicht«, entgegnete er, ohne zu zögern. »Es hat richtig Spaß gemacht mit dir, auch wenn du fast die ganze Operation allein durchführen musstest. Aber immerhin konntest du zeigen, was du so draufhast.«

Ich konnte es kaum fassen, er sagte mir zu!

»Im Januar mache ich meine letzten Examen. Sollen wir sagen, dass ich im Februar komme und bis August bleibe?«, hakte ich nach.

»Abgemacht!«, meinte Björgvin.

Die Insel der wilden Träume

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