Читать книгу Die Insel der wilden Träume - Alexander Schwarz - Страница 4
Stürmische Ankunft
ОглавлениеDie Wellen scheinen mit jedem Mal noch wütender gegen das Schiff zu brechen. Der Himmel schimmert in immer tieferen Schattierungen unheilvollen Dunkelgraus, scharfer Wind peitscht mir die Gischt ins Gesicht.
Es ist bitterkalt. Das Wetter auf dem Nordatlantik ist im Februar kein Zuckerschlecken.
Ich bin die Einzige, die noch an der Reling steht, alle anderen haben sich schon längst ins warme Innere der Fähre zurückgezogen. Mit beiden Händen halte ich mich an der Brüstung fest. Meine langen Haare wehen im Wind, meine Augen habe ich gen Westen gerichtet, auf mein Ziel hin, das morgen in Sicht kommen wird: Island!
Die raue See kann mir nichts anhaben, ich stehe da, atme die frische Meeresluft ein, merke, wie sich meine Lungen vollsaugen, und freue mich auf das Abenteuer: Ich will ein neues Leben in Island beginnen und stelle mir vor, wie ich dort als Tierärztin arbeiten, lange Reittouren durch isländische Landschaften unternehmen, das Leben im hohen Norden genießen werde.
Ein Mitglied der Mannschaft kommt auf mich zu und unterbricht meinen Tagtraum: »Bitte gehen Sie jetzt in Ihre Kabine. Der Sturm wird noch stärker werden!«
Die ersten Tage auf unserer mehrtägigen Überfahrt mit kurzem Aufenthalt auf den Färöer-Inseln waren noch recht ruhig verlaufen. Seit heute Mittag aber frischt der Wind immer mehr auf, und unsere Autofähre schaukelt auf den Ozeanwellen eher wie eine Nussschale, als dass sie zielstrebig über das Wasser gleitet.
Als ich die Karten für die Überfahrt buchte, hatte ich Glück, denn dies sollte die vorerst letzte Autofähre vor dem Sommer sein.
Die Kabine teile ich mit einer jungen deutschen Touristin. Der Raum ist schlicht gehalten, die Holzbetten sind schmal. Immerhin haben wir aber eine Kabine mit Fenster bekommen. Um diese Jahreszeit befinden sich außer ein paar Lastwagenfahrern kaum Passagiere an Bord.
Während ich mich aufs Bett lege, rennt meine Nachbarin zum ersten Mal auf die Toilette. Ich höre, wie sie sich übergibt, die Toilettenspülung betätigt und dann wieder zurückkommt. Seekrankheit! Zum Glück geht es mir noch gut.
Ich frage, ob ich helfen könne, und wir kommen zaghaft miteinander ins Gespräch. Tina möchte zwei Wochen in Island bleiben und eine Rundreise machen.
»Ich wandere nach Island aus …«, erzähle ich meiner überraschten Zuhörerin.
»Und du lässt einfach alles und jeden zurück?«, fragt sie ganz erstaunt.
Eine Welle peitscht mit aller Wucht gegen unser Fenster. Tina rennt wieder auf die Toilette, und so habe ich etwas Zeit, um über ihre Frage nachzudenken.
Island! Von der Idee bis zur Tat war es tatsächlich ein großer Schritt. Ich musste so manche schmerzhafte Entscheidung treffen.
Nachdem sie wieder auf ihrem Bett sitzt, erzähle ich ihr, dass ich mich vor der Überfahrt von meinem isländischen Freund in Deutschland getrennt und unseren gemeinsamen kleinen Pferdehof mit der bescheidenen Islandpferdezucht, meine eigenen Pferde und meinen Hund schweren Herzens zurückgelassen habe.
»Mein Leben, wie es bisher war, ist Geschichte. Aber es war schon als Kind mein Traum, nach Island zu ziehen und dort mit Pferden zu arbeiten. Und dieser Wunsch ist dann einfach mit jedem Lebensjahr immer stärker geworden, trotz aller Bindungen, Chancen, Familie und Freunden in Deutschland.«
Das Schiff ächzt immer schwerer, die Maschinen laufen auf Hochtouren, um den Wellen Paroli zu bieten. Der Kapitän gibt über Lautsprecher durch, dass wir bald mit Windstärke zwölf zu rechnen hätten und deshalb die Kabinen nicht mehr verlassen dürften.
»Für ein halbes Jahr probiere ich es nun aus«, erzähle ich weiter, »denn für diese Zeit habe ich eine Stelle gefunden.«
Ich berichte ihr, wie ich vor einigen Monaten bei einem Reitturnier für Islandpferde meinen alten Studienfreund Björgvin wiedergetroffen hatte, der dann kurzerhand vorgefühlt habe, ob ich ihm nicht bei einer Operation helfen könne. Danach fragte ich ihn einfach, ob ich nicht eine Zeit lang in seiner Klinik mitarbeiten dürfe. Und er, der gestandene Tierarzt, spezialisiert auf Islandpferde, mit so viel mehr Praxiserfahrung als ich, bot mir, der angehenden Tierärztin, tatsächlich an, sein reiches Fachwissen mit mir zu teilen.
Ich traute meinen Ohren nicht. Hatte sich da gerade eine Tür geöffnet? Bot sich mir nun endlich die Chance, nach Island zu ziehen und dort zu arbeiten? Denn eigentlich hatte ich ja bereits 1992 direkt nach meinem Abitur für ein Jahr nach Island gewollt, um auf einem Pferdehof zu arbeiten. Dann war allerdings mein Studienplatz dazwischengekommen, den ich mir hart erarbeitet hatte und auf gar keinen Fall aufs Spiel setzen wollte.
Mein Herz machte nicht einen, sondern gleich mehrere Sprünge. Ich konnte es kaum fassen, strahlte über beide Backen und sagte spontan zu.
»Okay, dann kommst du im Februar! Ich kümmere mich um deine Arbeitserlaubnis und finde eine Wohnung für dich«, freute sich auch Björgvin und lächelte mich einladend an …
»Und das ging so einfach, ohne irgendwelche Nachweise, Zeugnisse oder andere Bescheinigungen?«, reißt mich Tina auf ihre direkte Art aus meinen Gedanken.
»Ja, spontan sind sie, die Isländer, und in diesen Dingen wirklich unkompliziert«, antworte ich. »Eigenschaften, die ich sehr mag und in Deutschland oft vermisse.«
Wieder spielt ihr Magen Achterbahn. Der Sturm hat in der Zwischenzeit seinen Höhepunkt erreicht.
Es ist mittlerweile schon recht spät geworden, und obwohl wir von den mächtigen Wellen, die an unser Fenster klatschen, in unseren schmalen Betten hin- und hergeworfen werden, versuchen wir, etwas Schlaf zu finden.
Doch ich liege noch lange wach und male mir aus, wie es ist, auf dieser magischen Insel aus Feuer und Eis im Nordatlantik ein neues Leben zu beginnen. Welchen Herausforderungen würde ich mich stellen müssen, wie würde sich mein Leben entwickeln? Würde ich als ausländische Tierärztin akzeptiert? Fände ich eine neue Liebe? Käme ich mit Björgvin als meinem Chef in der Klinik klar?
Die Freude in mir überstrahlt alles. Sie zaubert ein Lächeln auf mein Gesicht. Ach, wie auch immer, ich bin fest entschlossen, mein Leben in Island selbst in die Hand zu nehmen, mich den Herausforderungen zu stellen und die Zeit zu genießen. Mit diesem Lächeln im Gesicht schlafe ich ein.
Am nächsten Morgen ist der Sturm bloß noch ein Stürmchen. Nur leider werden wir nicht wie geplant morgens in Seyðisfjörður anlegen, sondern erst gegen Mittag.
»Schaffst du das dann heute noch bis Selfoss, wo du hinmusst«, meint meine Nachbarin, die in der Zwischenzeit wieder merklich mehr Farbe im Gesicht hat, »das ist doch noch eine ziemliche Strecke, oder?«
»Ich fahre einfach gleich los, sobald wir das Schiff verlassen haben, dann wird das schon«, mache ich mir selbst Mut. Ich hüpfe innerlich vor Vorfreude und habe nur eines im Kopf: Heute Abend schon werde ich bei einer Flasche Rotwein mit meiner Freundin Nicki in deren warmem Wohnzimmer sitzen und über alte Zeiten klönen – und all das Neue, das kommt.
Nicki wohnt im Süden der Insel. Von Seyðisfjörður, der Anlegestelle der Fähre im Osten, sind das um die 670 Kilometer. Die meiste Zeit werde ich im Dunkeln fahren müssen. Im Februar sind die Nächte in Island noch lang. Ab 15 Uhr wird es schon dunkel sein.
Island begrüßt uns dann nach den stürmischen Tagen auf See mit wunderschönem Wetter und ermöglicht so einen wundervollen Ausblick auf den schneebedeckten Berg links und rechts des Fjords, der so heißt wie der Ort, an dem er endet. Wir stehen an der Reling und bewundern mit weit aufgerissenen Augen die nackte Schönheit der Berge, auf denen bei klirrender Kälte der Neuschnee im Sonnenlicht glitzert. Sonne und Wolken zaubern ständig neue Farben auf die Bergrücken.
Ich staune und muss mich kurz selbst kneifen. In diesem wunderschönen Land darf ich jetzt leben! Ich kann es kaum erwarten, bis wir anlegen und ich endlich wieder isländischen Boden unter den Füßen spüre. Zum ersten Mal nicht als Besucherin, wie 1990 auf meiner ersten Islandreise zum Pferdetreffen im Skagafjörður oder bei meinen Tierarztpraktika in Akureyri, sondern wahrhaftig als zukünftige Einwohnerin dieser so besonderen Insel.
Dann dürfen wir auch schon zu unseren Autos, und ich verabschiede mich mit einer kurzen Umarmung von meiner Kabinennachbarin.
Ich hoffe nur, dass die Zöllner nicht allzu streng sind und alles durchsuchen wollen. Denn ich habe meinen alten Audi quattro bis zum Dach vollgepackt. Meine Kleider und Mamas Daunendecke habe ich vor der Abreise in dicke Plastiksäcke gestopft und anschließend mit einem Staubsauger die Luft abgesaugt, sodass ich die Säcke praktisch vakuumverschlossen ins Auto stapeln konnte. So habe ich wertvollen Platz gespart und konnte auch noch Papas alten Schwarz-Weiß-Fernseher und meinen Computer, auf dem ich auch meine Doktorarbeit zum Abschluss gebracht hatte, verstauen. Wenn ich jetzt aber auch nur einen dieser Säcke aufmachen muss, weiß ich nicht, wie ich die Sachen wieder alle im Auto unterbringen soll.
Ein Besatzungsmitglied berichtet am Zoll, dass im Sturm gestern ein Frachtschiff mit vier Seeleuten an Bord mit Mann und Maus untergegangen sei. Da wird es mir doch kurz noch mulmig. Vielleicht sind die Zöllner auch deshalb etwas weniger streng als sonst. Zum Glück, denn das erspart mir eine allzu akribische Kontrolle.
Nach ein paar kurzen Fragen zu meinem geplanten Aufenthalt und dem Anbringen einer Plakette an meinem Auto mit der Genehmigung, für ein halbes Jahr in Island fahren zu dürfen, gibt der Zöllner den Weg für mich frei.
Endlich! Ich atme die eiskalte Seeluft am Hafen ein, und mich erfüllt eine unermesslich große Vorfreude. Das Gefühl, endlich angekommen zu sein, und dass mein Traum Wirklichkeit wird. Ich starte meinen treuen Audi und fahre die ersten Meter im eigenen Auto in Island.
Von Seyðisfjörður geht es gleich in Serpentinen steil den Berg hinauf und dann wieder hinunter nach Egilsstaðir. Schon nach wenigen Höhenmetern und ein paar Kurven in den Berg hinein verschlechtert sich das Wetter. Auf der Straße liegen Schnee und Eis. Zum Glück habe ich Allradantrieb. Sogar Schneeketten habe ich mitgebracht, muss sie aber glücklicherweise nicht verwenden. Ich wüsste auch nicht einmal, wie die anzulegen sind. In der Lüneburger Heide habe ich sie jedenfalls noch nie gebraucht.
Ich fahre langsam und vorsichtig. Den anderen anscheinend zu langsam: Die Isländer überholen mich in kleineren Autos ohne Vierradantrieb. Deshalb wage ich bald auch, etwas schneller zu fahren, aber mehr als neunzig Kilometer pro Stunde ist selbst auf der großen Ringstraße Nr. 1, auf der ich Richtung Süden an der Küste entlang unterwegs bin, nicht erlaubt.
Ich fahre an Supermärkten und großen Tankstellen vorbei. Hunger verspüre ich keinen, mein Tank ist fast voll. Ich möchte ohne unnötige Pause so viele Kilometer wie möglich zurücklegen. Es ist schon später Nachmittag, und ich werde wohl erst mitten in der Nacht bei Nicki ankommen.
Wie schwierig es sein kann, in Island ein Auto über die vereisten Straßen zu steuern, bekomme ich schon auf dieser ersten Fahrt zu spüren. Es beginnt zu schneien, dichter und dichter tanzen die Flocken wild im Scheinwerferlicht vor mir. Von der Straße sehe ich immer weniger. Meine Scheibenwischer bewegen sich auf der schnellsten Stufe. Ich merke, wie ich das Lenkrad immer fester umgreife.
Da muss ich jetzt durch, denke ich, und hoffe, dass das Wetter sich gleich wieder beruhigt. Diesen Gefallen tut es mir jedoch leider nicht. Also fahre ich weiter und immer langsamer durch das Schneegestöber und verliere das Zeitgefühl. Irgendwann fällt mir ein, dass ich so langsam doch mal tanken sollte. Ich schaue auf die Anzeige, die sich tatsächlich schon recht weit Richtung Reserve neigt.
Bei der nächsten Tankstelle will ich anhalten. Ein Sandwich mit Krabbensalat und eine Tasse starken schwarzen Kaffees wären auch nicht verkehrt. Bloß: Es kommt keine Tankstelle. Nicht nach zehn, nicht nach fünfzig Kilometern. Keine einzige, dabei befinde ich mich doch immer noch auf der Hauptverkehrsader des Landes.
Plötzlich fällt mir auf, dass ich in der letzten Stunde praktisch kein anderes Auto mehr gesehen habe. Oh nein, denke ich mir, das ist ein schlechtes Zeichen. Wahrscheinlich gab es eine Wetterwarnung, und nur ich, die keine Ahnung davon hatte, bin hier draußen noch unterwegs.
Endlich kann ich eine kleine Tankstelle ausmachen. Ich fahre an die Zapfsäule, halte an – und stelle fest, dass im Verkaufsraum kein Licht brennt. Es ist schon zu spät, die Tankstelle ist geschlossen, und einen Automaten gibt es nicht.
Notgedrungen fahre ich weiter. Was soll ich nur machen, wenn ich ohne Benzin hier mitten im Nichts im Schneesturm liegen bleibe? Dann würde ja nicht mal mehr die Heizung funktionieren. Und das wäre bei diesen Temperaturen und diesem Wind eine Katastrophe!
Ich halte kurz und sehe auf der Karte, dass ich noch fast fünfzig Kilometer bis Vík í Mýrdal habe. Dies scheint der nächste größere Ort zu sein. Und irgendwie schaffe ich es auch tatsächlich bis dorthin. Zwar finde ich dann gleich eine Tankstelle, aber auch diese ist geschlossen. Es ist in der Zwischenzeit weit nach 22 Uhr, und die Straßen sind natürlich auch hier menschenleer.