Читать книгу DIE AKTE NOSTRADAMUS (Project 6) - Alex Lukeman - Страница 5

Kapitel 1

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Dieser Teil von Paris hatte sich seit der Französischen Revolution kaum verändert. Gesichtslose Mietshäuser gluckten auf beiden Seiten der Straße. Ein schmaler Strom aus Schmutzwasser floss den Kanal entlang, der sich in die Mitte der uralten Straße gegraben hatte. Nick Carters Sohlen hallten flach und hart über die gleichen Pflastersteine, über die auch schon die Pferdewagen mit den Opfern für die Guillotine gerumpelt waren. Neben ihm lief Selena Connor.

Selena trug sportliche Kleidung, die sie in einem der Designerläden gekauft hatte. Modedesigner lebten dafür, Kleidungsstücke für Frauen genau wie sie zu entwerfen. Sie war die Art von Frau, die einem sofort auffiel, mit dem dazu nötigen Körper und der Eleganz. Eine Sonnenbrille verbarg ihre veilchenblauen Augen. Ihr rotblondes Haar und ihre athletische Anmut trugen dazu bei, dass man sich an jeder Ecke nach ihr umdrehte.

Nick war mit einem grauen Sportsakko bekleidet, das Selena in einem Schaufenster erspäht hatte. Es war oft nicht leicht, etwas für seine breiten Schultern zu finden, aber dieses hatte ihm sofort gepasst, direkt von der Stange. Es passt zu deinen Augen, hatte sie gesagt. Seine Augen waren grau, mit goldenen Tupfern darin, von daher hatte sie wohl recht. Er hatte es gekauft, um ihr einen Gefallen zu tun, denn ihr gefiel es. Aber insgeheim gefiel es auch ihm. Der europäische Schnitt des Jacketts und die schwarzen Stoppeln des Halbtagesbartes an seinem Kinn ließen ihn wie einen Einheimischen aussehen.

Sie kamen an einem Schaufenster vorbei, in dem eine ledergebundene Ausgabe der gesammelten Werke Voltaires auf einem Bett aus verblichenem roten Stoff ausgestellt war.

»Wir sind da«, sagte sie.

Der Laden sah aus, als wäre er zur gleichen Zeit eröffnet worden, als Maria Antoinette ihrem Volk empfahl, doch Kuchen zu essen, wenn sie kein Brot mehr hatten. Er besaß eine blau angestrichene hölzerne Ladentür und alte eiserne Türangeln. In dem staubigen Schaufenster hing ein mit Blattgold beschriftetes Schild.

Jean-Paul Bertrand, le Propriétaire

Livres Rares et Curieux

Selena griff nach dem Klingelzug und hielt inne.

»Das ist seltsam«, sagte sie.

»Was ist seltsam?«

»Die Tür ist offen«, erwiderte sie. »Das ist eigenartig.«

Und das war sie tatsächlich, etwa fünf Zentimeter breit.

»Jean-Paul sagte, wir sollen läuten, dann würde er uns hereinlassen. Er hält die Tür verschlossen. Man kommt nur hinein, wenn man einen Termin hat.«

Sie schob die Tür vollständig auf und betrat den Laden.

»Jean-Paul?«, rief Selena mit lauter, deutlicher Stimme.

Niemand antwortete.

Der vordere Ladenraum war verlassen. Regale voller Bücher säumten die Wände. Ein antiker Lesetisch aus Eichenholz mit geschnitzten Tischbeinen dominierte den vorderen Bereich des Ladens, in der Nähe des Fensters. Es roch nach alten Büchern, Staub und Papier. Im hinteren Bereich befand sich eine verzinkte Ladentheke. Dahinter war ein Vorhang aus Glasperlen vor einem Durchgang in die Hinterräume des Ladens zu sehen.

»Jean-Paul?«, rief Selena noch einmal. »Hallo? Ich bin es, Selena.«

Nicks Ohr begann zu jucken. »Hier stimmt etwas nicht«, sagte er. Er zog an seinem vernarbten Ohr. Ohne nachzudenken, griff er nach seiner Pistole. Aber sie war nicht da. Sie waren im Urlaub. Keine Waffen.

»Er ist ein alter Mann«, sagte sie, »und er hört nicht mehr so gut. Wahrscheinlich ist er im Hinterzimmer.«

Selena lief um die Ladentheke herum und teilte mit den Händen den Perlenvorhang. Der Gang dahinter war schmal, dunkel und kurz. Vom anderen Ende fiel Licht herein. Sie schritt den Gang entlang und schob einen weiteren Vorhang zur Seite. Nick stieß gegen Selena, als diese unverhofft stehenblieb.

Selenas Freund lag mit dem Rücken auf dem Boden, mit offenem Mund. Seine Zähne waren mit den Jahren von Nikotin und Kaffee gelb verfärbt. Seine Augen standen offen und starrten an die Decke. Blut bedeckte sein weißes Hemd und war zudem über die Wände verspritzt. Bücher und Dokumente lagen auf dem Boden verstreut. Der Raum stank nach Tod.

»Jean-Paul«, sagte Selena. Sie wurde blass, wollte auf ihn zueilen.

Nick aber hielt sie mit einer Hand auf ihrer Schulter zurück. »Es wäre besser, ihn nicht anzurühren.« Er trat zu der Leiche.

»Sieh dir das an.«

Sie kam zu ihm und sah auf den Boden hinab. Buchstaben und eine Zahl waren mit Blut auf ihn geschrieben worden.

»Ergibt das für dich einen Sinn?«, fragte Nick.

EX 25

»Nein. Wer sollte so etwas tun? Ich glaube nicht, dass er auch nur einen einzigen Feind auf der Welt hatte.«

»Einen zumindest schon.«

Nick deutete auf das Durcheinander. Der Raum war von jemandem durchsucht worden, der nicht vorhatte, danach wieder aufzuräumen.

»Wer immer ihn getötet hat, war auf der Suche nach etwas.«

»Er besaß einige wertvolle Erstausgaben. Es muss ein Raubüberfall gewesen sein.«

»Für ein lausiges Buch ist das übertrieben, selbst für eines, das viel Geld wert ist. Dafür hätten sie einen alten Mann wie ihn nicht gleich umbringen müssen. So etwas macht mich wütend.«

»Er klang angespannt, als ich mit ihm telefonierte. Und er bestand darauf, dass ich ihn noch heute treffe.«

»Davon hast du mir nichts erzählt.«

Sie sah auf den Leichnam ihres Freundes hinunter. »Ich hatte mir nichts weiter dabei gedacht.« Sie biss sich auf die Lippe.

»Tut mir leid, Selena.«

»Was jetzt?«

»Wir rufen die Polizei. Und dann rufe ich Harker an. Ich hab keine Lust, die Nacht in einem französischen Gefängnis zu verbringen.«

Direktorin Elizabeth Harker war ihre Vorgesetzte. Sie leitete das PROJECT und verfügte über die nötigen Mittel, ihnen die französische Polizei vom Hals zu halten. Der Einfluss des Präsidenten, dem sie unterstand, tat sein Übriges.

Vier Stunden später entließ sie die Polizei in ihr Hotel. Sie logierten im Stadtteil Le Marais am rechten Ufer der Seine, in einem der typisch europäischen Hotels, in denen man beim Verlassen seinen Schlüssel am Hoteltresen abgab und deren Empfangspersonal immer überaus höflich war. Es war ein freundlicher Ort, nicht zuletzt auch deswegen, weil Selena Französisch wie ihre Muttersprache beherrschte.

»Bonjour, Madame«, empfing sie der Empfangschef. »Für Sie wurde etwas abgegeben.«

Unter dem Tresen holte er ein Paket hervor. Es war in einfachem braunem Packpapier eingewickelt und an Selena adressiert. Eine Absenderadresse fehlte.

»Es wurde von einem Boten gebracht. Heute Nachmittag, während Ihrer Abwesenheit.« Er reichte es ihr zusammen mit dem Zimmerschlüssel.

»Merci.«

Sie warf einen Blick auf die Adresse auf dem Paket. »Es ist von Jean-Paul«, erklärte sie Nick. »Ich erkenne seine Handschrift wieder.«

Das Hotel besaß noch einen dieser alten Käfigaufzüge. Im Schneckentempo krochen sie darin in ihre Etage hinauf.

Ihr Hotelzimmer war groß und blickte von einem schmalen Balkon auf eine ruhige Straße hinaus. Es verfügte über ein eigenes Bad, eine Kommode, einen Fernseher, ein großes Doppelbett mit einer gemusterten Steppdecke und zwei gemütlichen Sesseln. Nick ließen sich in einen davon sinken. Selena kam aus dem Badezimmer und setzte sich aufs Bett.

»Ich frage mich, was das ist?«

»Wieso öffnen wir es nicht und finden es heraus?«

»Klugscheißer.« Sie warf ihm einen Blick zu und riss das Papier ab.

»Es ist ein Aktenordner.«

Sie zog den Ordner heraus, der mit einer roten Schnur zugebunden war, und löste den Knoten. Darin befand sich ein Manuskript, vergilbt und spröde und mit schwarzer Tinte eng beschrieben.

Selena betrachtete die erste Seite. Nick hörte, wie sie die Luft einsog.

»Das glaube ich nicht.« In ihrer Stimme lag Begeisterung. »Dieses Manuskript wurde von Nostradamus geschrieben. Ich glaube, es handelt sich dabei um die verlorenen Quatrains.«

»Nostradamus? Dieser Prophet?«

»Ja.«

»Und was bitte sind die verlorenen Quatrains?«

»Nostradamus veröffentlichte seine Weissagungen in Gruppen von jeweils einhundert Versen, den sogenannten Centurien. Jede diese Vorhersagen bestand aus einem Vierzeiler.«

»Einem Quatrain.«

Sie nickte. »Die siebte Centurie ist unvollständig. Darin fehlen achtundfünfzig Quatrains. Niemand hat sie je zu Gesicht bekommen. Dieses Manuskript ist eine absolute Rarität.«

»Selten genug, um dafür zu töten?«

»Oh ja. Es gibt Sammler, die alles dafür geben würden. Und nicht nur das. Ich glaube, Nostradamus hat diese Zeilen selbst verfasst. Ein von Nostradamus handgeschriebenes Manuskript dürfte sehr viel wert sein – die verlorenen Quatrains in seiner eigenen Handschrift aber wären unbezahlbar.«

»Dann hat Bertrands Mörder wohl danach gesucht«, sagte Nick. »Wieso hat er es dir geschickt?«

»Ich kenne ihn, seit ich ein Kind bin. Er und mein Onkel waren eng befreundet.«

»Vielleicht sollte es ein Geschenk sein.«

»Nein. Wenn es ein Geschenk wäre, hätte er es mir persönlich gegeben. Ich denke, er wollte es aus seinem Laden haben.« Sie schwieg für einen Moment. »Wer immer ihn ermordet hat, wird weiter danach suchen. Sofern sie wissen, dass er es an mich schickte.«

»Wir sollten es in die Botschaft bringen und als Diplomatenpost nach Hause schicken.«

»Du willst es behalten?«

»Willst du herausfinden, wer deinen Freud umgebracht hat? Es wird einen Grund dafür geben, warum er es dir geschickt hat. Und diesen finden wir vielleicht erst dann heraus, wenn du es gelesen hast.«

»Man liest Nostradamus Weissagungen nicht einfach nur. Er fürchtete die Inquisition. Deshalb benutzte er Wortspiele, schrieb seine Verse in Griechisch, Lateinisch und Provenzalisch. Alles ist aus gutem Grund schwer verständlich gehalten.«

»Kannst du es entschlüsseln?«

Selena galt als eine Autorität in der Übersetzung alter Texte und Sprachen, und das weltweit.

»Möglicherweise. Aber wenn wir es behalten, halten wir damit Beweismittel zurück.«

»Und wenn wir es nicht behalten, wird die französische Polizei uns nicht gehen lassen. Cops sind von Natur aus misstrauisch. Sie werden annehmen, dass wir ihn getötet haben, um das Manuskript an uns zu bringen.«

Selena sah aus dem Fenster. »Du hast recht. Bringen wir es zur Botschaft.«

Sie legte das Manuskript in den Ordner und diesen in die Schachtel zurück. Dann klemmte sie sich die Schachtel unter den Arm. Gemeinsam liefen sie nach unten, gaben ihren Zimmerschlüssel ab und verließen das Hotel. Sie liefen die Straße hinunter, um sich ein Taxi zu rufen.

Plötzlich schoss etwas aus der Gasse zu ihrer Rechten auf sie zu. Ein Mann ging auf sie los. In seiner Hand hielt er ein Messer, das in der Nachmittagssonne funkelte. Nick wehrte den Stoß mit seinem Arm ab, eine Bewegung, die ihm nach all den Jahren der Übung und des Trainings in Fleisch und Blut übergegangen war. Die Klinge drang durch sein neues Jackett und schnitt in seinen Arm. Nick ließ einen Ellbogenhieb gegen den Schädel des Mannes folgen, der dessen Arm betäubte. Dann formte er die Finger seiner anderen Hand zu einer Art Speer und trieb diese tief ins Zwerchfell des Mannes. Der Angreifer krümmte sich und Nick packte ihn mit beiden Händen am Hinterkopf und rammte ihm gleichzeitig sein Knie ins Gesicht. Der Mann sackte zu Boden. Blut schoss ihm aus der Nase. Das Messer fiel klappernd auf den Gehsteig.

Ein zweiter Mann versuchte Selena das Paket zu entreißen. Sie ließ es los, drehte sich jedoch gleichzeitig herum und setzte zu einem Tritt aus der Hüfte an. Ihr Fuß landete seitlich in der Brust des Mannes. Seine Rippen gaben ein dumpfes, knirschendes Geräusch von sich. Er schrie vor Schmerz auf und fiel zu Boden. Sie trat ihm gegen den Kopf, und dann hörte er auch auf zu schreien.

Nick rieb sich den Ellbogen und sah auf die beiden hinunter. Einer der Männer war bewusstlos, der andere wand sich stöhnend auf dem Gehweg. Der gesamte Kampf hatte weniger als zwanzig Sekunden gedauert. Von der anderen Straßenseite starrte ein älteres Paar zu ihnen herüber.

Selena machte ein angestrengtes Gesicht. Sie atmete schwer, presste die Luft zwischen ihren halb geöffneten Lippen hervor. Dann fiel ihr Blick auf Nicks Arm.

»Du blutest«, sagte sie.

Dunkles Blut sickerte durch den Riss in seinem Ärmel.

»Das ist nur ein Kratzer.«

Selena beugte sich nach unten und hob die Schachtel mit der Nostradamus-Akte auf. Nick blickte die Straße entlang. Dort bildete sich bereits eine kleine Traube von Menschen.

»Wir sollten von hier verschwinden«, sagte er, »bevor die Cops auftauchen.«

»Was für ein Urlaub«, antwortete sie.

DIE AKTE NOSTRADAMUS (Project 6)

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