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Adele hatte einen schrecklichen Tag hinter sich gebracht, und das nach einer noch schrecklicheren Nacht. Sie saß auf ihrem Zimmer und fragte sich verzweifelt, was denn alles inzwischen wohl ihrem Johann widerfahren war. Sicherlich nichts Gutes. Davon musste sie zwingend ausgehen.

Sie hatte alle Möglichkeiten in Betracht gezogen, wie ihre Oma gegen den Armen vorgehen wollte, doch um wirklich zu einem Schluss zu kommen, hätte sie einfach mehr erfahren müssen. Was hieß mehr erfahren: Sie wusste ja eigentlich überhaupt nichts, wenn man es genau nahm.

Adele hatte sich selbst immer als selbstbewusste junge Dame gesehen. Dieses Gefühl mochte sich nicht mehr einstellen. Sie war ja nicht mehr als eine Gefangene. Soviel stand fest. Da hatte es ja jede junge Frau von niedrigerem Stand wesentlich besser als sie.

Zum Beispiel die Leute im Armenviertel. Adele wusste, dass Oma Margarethe Unsummen spendete, um das Elend derer zu schmälern. Sie war offiziell eine der größten Unterstützerinnen nicht nur des Armenhauses, das mitten im Armenviertel errichtet worden war, um die Allerärmsten vor dem Hungertod zu bewahren, sondern auch vom Waisenhaus. Für all jene war Oma Margarethe tatsächlich die herzensgute alte Oma ohne große persönliche Ansprüche, die sie so gern spielte.

Dabei gehörte dies alles nur zu ihrer Strategie. Denn wenn es galt, schmutzige Dinge zu erledigen, konnte sie sich da an den Ärmsten der Armen regelrecht bedienen, die natürlich für jeden Extrasilberling mehr als dankbar waren, der ihnen und ihren Lieben weiter half.

Jetzt, da Adele selbst Opfer ihrer Oma geworden war, wie sie es einschätzte, sah sie viele Dinge wesentlich nüchterner als zuvor. Sie schämte sich regelrecht dafür, dass sie vor vielem regelrecht die Augen verschlossen hatte. Einfach aus Feigheit, wie sie sich selbst eingestehen musste, weil ihre übermächtige Oma jemand war, dem man auf keinen Fall negativ auffallen wollte. Und jeder fiel ihr negativ auf, der gegen sie war oder auch nur das Wort gegen sie erhob.

Dies hatte sich jetzt radikal geändert für Adele: Sie wusste, wie sehr sie Johann liebte, und sie spürte dabei, dass sie für diese Liebe wirklich alles tun würde. Ja, sie würde sich sogar gegen Oma Margarethe stellen!

Doch was nutzte ihr dieser neu gewonnene Mut derzeit? Was würde es ihr jetzt schon bringen, wenn sie sich wirklich gegen sie stellte? Es ging ihr zwar gegenwärtig schon schlimm genug, wie sie fand, aber sie war erwachsen genug, um zu wissen, dass es durchaus noch viel schlimmer kommen könnte.

Vorerst stand sie lediglich unter Hausarrest. Der war zwar schlimmer als ein Gefängnisaufenthalt, weil sie noch nicht einmal ihr Zimmer verlassen durfte, wie sie meinte, weil sie die echten Gefängnisse von Hamburg in ihrer Zeit natürlich nicht kennen konnte, aber sie wurde zumindest ausreichend versorgt. Sogar ihre Zofe stand ihr nach wie vor zur Seite.

Auf Edith konnte sie sich jedenfalls voll und ganz verlassen. Nicht nur, weil Edith ansonsten befürchten musste, ihre Anstellung bei ihr zu verlieren, mit der sie wohl ihre ganze Familie daheim ernährte, sondern im Laufe der Zeit hatte sich zwischen den beiden jungen Damen tatsächlich so etwas wie eine Freundschaft entwickelt.

Es musste zwar trotz alledem eine gewisse Distanz eingehalten werden, weil andere im Haushalt dies sonst geargwöhnt hätte, aber im Grunde genommen war Edith noch die einzige Person im Leben Adeles, außer Johann natürlich, der Adele uneingeschränkt vertrauen konnte.

Deshalb wollte sie Edith jetzt endlich in Kenntnis setzen um die gegenwärtigen Umstände, wie sie es nannte!

Es war am Abend, nach Einbruch der Dunkelheit. Ziemlich zeitgleich mit dem Treffen Johanns mit seiner platonischen Freundin Gordula, obwohl das Adele noch nicht einmal ahnen konnte. Eigentlich also auch Zeit für Adele, das Bett aufzusuchen, wie es einer wohlerzogenen Tochter aus so gutem Hause gebührte.

Diensteifrig kam ihre Zofe herein. Sie wusste zwar, dass Adele Hausarrest verordnet bekommen hatte von ihrer Oma und derzeit niemanden empfangen konnte, geschweige denn ihr Zimmer verlassen, doch sie als Zofe bildete natürlich die Ausnahme. Immerhin war sie ja nach wie vor dafür da, Adeles Gemächer in Ordnung zu halten und ihr auch ansonsten zur Hand zu gehen.

Zum Beispiel auch beim Zubettgehen! Und schon immer hatte Adele diese Gelegenheit genutzt, um mit Edith ausgiebig zu plaudern. Nicht etwa so sehr als Herrin gegenüber ihrer Zofe, sondern tatsächlich wie von Freundin zu Freundin. Deshalb wusste sie eigentlich alles über die Familie ihrer Zofe. Weil es sie stets interessiert hatte.

Sicherlich bildete Adele insofern eine Ausnahme unter den Herrschaften, doch Edith war ihr nun einmal ganz besonders ans Herz gewachsen.

Diese schlanke junge Frau, die dermaßen viel Energie versprühte und der wirklich nichts zu schwierig und zu viel werden konnte und die selbst bei größter Belastung nicht ihr gewinnendes Lächeln vergaß, musste man einfach gern haben.

Sie war vorschriftsmäßig im Dienstgewand gekleidet, wie im Hansehaus Brinkmann üblich, und wirkte diesmal ungewöhnlich ernst. Klar, sie machte sich natürlich Sorgen um Adele, obwohl sie es nicht wagte zu fragen, worum es eigentlich bei dem Hausarrest und dem Besuchsverbot ging.

Adele erzählte es ihr ganz einfach, ohne Umschweife und ohne etwas dabei auszulassen!

Das erschütterte Edith zutiefst, denn sie hatte ja wirklich keine Ahnung gehabt, dass ihre Herrin nach dem Zubettgehen und ihrem Abschied von ihr, mehrmals wieder aufgestanden war, um ihren Johann verbotenerweise außerhalb des Hauses zu treffen.

Und dann kam sie nicht umhin, zuzugeben, dass sie sich doch sehr darüber wunderte, wieso Adele dies in aller Heimlichkeit tun konnte, ohne dabei aufzufallen.

„Ich bin ja letztlich doch aufgefallen!“, korrigierte Adele sie bitter. „Sonst würde ich jetzt ja nicht unter diesem Hausarrest stehen. Und du weißt, dass Oma Margarethe da keinen Spaß versteht.“

„Ganz gewiss weiß ich das!“, beeilte sich Edith zu versichern. „Aber wirklich ein echter Wetken?“

Adele sah in ihre großen Augen und musste auf einmal lachen. Nur ganz kurz, bis wieder diese Traurigkeit sie übermannte, die sie seit der Auseinandersetzung mit ihrer Oma befallen hatte.

„Ja, ein echter Wetken – und nicht irgendeiner aus diesem Hansehaus, sondern ausgerechnet Johann Wetken!“, bestätigte sie.

Edith schüttelte fassungslos den Kopf.

„Das ist schlimm, wirklich schlimm!“

Denn jeder wusste natürlich, was dies bedeutete, auch eine Zofe wie Edith: Eine Verbindung, wie sie unmöglicher überhaupt nicht hätte sein können. Sozusagen der Gipfel aller Verfehlungen. In den Augen nicht nur von Oma Margarethe so etwas wie ein Schwerbrechen, sondern mit Gewissheit auch in den Augen von Georg Wetken, dem mächtigen Gildenführer.

„Ja, es ist schlimm“, musste Adele zerknirscht zugeben, „aber was soll ich machen? Ich liebe ihn nun einmal über alles, und ich weiß, dass auch Johann mich liebt. Diese Liebe lässt sich nicht einfach verbieten, und ich kann das auch nicht einfach abschalten, wie es mir beliebt.“

Edith sah sie todtraurig an.

„Dann ist es nicht nur schlimm, sondern regelrecht tragisch!“

Beinahe hätte Adele darüber wieder gelacht, wäre sie nicht so unendlich traurig gewesen, weil Johann gegen ihren Willen wieder einmal vor ihrem geistigen Auge aufgetaucht war, gerade dort, wo Edith stand. Sie hätte jetzt lieber geweint als gelacht, obwohl sie keine Tränen mehr hatte.

Und dann raffte sie sich dazu auf, endlich die entscheidende Frage zu stellen:

„Stehst du mir trotzdem bei, Edith?“

„Aber natürlich, Herrin! Ihr wisst doch, dass Ihr Euch voll und ganz auf mich verlassen könnt!“

„Bitte, Edith, ich habe dir doch angeboten, mich zu duzen, wenn wir allein sind. Nenne mich ganz einfach Adele. Weißt du, ich habe keine andere Freundin außer dir. Zumindest eben keine echte. Allen anderen kann ich nicht vertrauen, noch nicht einmal meinen eigenen Verwandten. Einmal von Oma Margarethe abgesehen, der sowieso niemand vertrauen sollte. Da denkt doch jeder nur an sich selbst. Du bist die einzige Ausnahme in diesem Hause. Aber wisse dennoch, wenn du auf meiner Seite stehst, gehst du selber ein großes persönliches Risiko ein.“

„Das ist mir klar, Adele, natürlich, aber ich bin zu allem bereit. Wenn du sagst, dass du Johann Wetken liebst, dann ist das halt so, und ich werde alles tun, was meinen Möglichkeiten entspricht, um dir dabei zu helfen. Wobei auch immer.“

„Das ist wirklich lieb von dir, Edith, aber natürlich müssen wir beide äußerst vorsichtig bleiben. Erst einmal müssen wir uns zurückhalten. Es wird keine Aktionen geben dürfen. Zumindest wohl, bis ein wenig Gras darüber gewachsen ist. Oma Margarethe hat ja noch anderes zu tun, als sich nur noch und auf Dauer um ihre Enkelin zu kümmern. Wenn wir uns eine Weile ganz ruhig verhalten, wird das ihr Misstrauen sicherlich schmälern helfen.“

„Und dann?“, erkundigte sich Edith erwartungsvoll.

„Wir werden sehen!“, wich Adele aus.

„Du wirst also auf keinen Fall auf deinen Johann verzichten wollen?“

„Ja, genauso wenig wie er wohl auf mich verzichten wird. Nicht deshalb, weil wir beide das so wollen, sondern weil wir nicht anders können!“, betonte Adele und fügte noch hinzu:

„Wir müssen uns halt dennoch vorerst in Geduld üben, liebste Edith, so schwer es auch fallen mag. Wir auf jeden Fall, und leider weiß ich nicht im Geringsten, wie es für Johann derzeit aussieht. Ich denke mal, er muss ebenfalls zunächst Zeit gewinnen, ehe er tätig werden kann, inwiefern auch immer.“

„Und wenn es dann soweit ist, stehe ich bereit, wofür auch immer!“, schwor ihre Zofe daraufhin hoch und heilig.

Adele betrachtete sie besorgt und betonte abermals:

„Aber du weißt ja schon, dass du damit tatsächlich ein beträchtliches Risiko eingehst, das möglicherweise auch deine Familie betrifft? Und ich weiß, wie wichtig dir deine Familie ist, weil ich weiß, dass du praktisch für ihren Unterhalt sorgst mit dem Wenigen, was du in meinen Diensten bekommst.“

„Aber was wäre ich denn für eine Zofe... Ja, was wäre ich denn für eine Freundin, wenn ich das so sagen darf, die dich im Stich lassen würde? Nein, das könnte ich wahrlich nie. Und es würde mich außerdem so und so treffen, denn wenn ich dein Vertrauen missbrauchen würde, könnte ich nicht mehr länger in deinen Diensten stehen.“

„Und wenn Oma Margarethe es dir dennoch anbieten würde?“, gab Adele noch zu bedenken.

„Du kannst dich auf jeden Fall auf mich verlassen. Ich bin nicht käuflich. Nicht wenn es dich betrifft, Adele! Wenn die Zeit dann endlich reif sein wird, werde ich auch gern Kontakt aufnehmen zu Johann Wetken, allen Risiken zum Trotz, direkt oder indirekt. Und bedenke bitte eines noch: Obwohl du selbst dein Zimmer nicht verlassen kannst: Ich darf sogar das Haus verlassen!“

„Gut zu wissen, Edith! Danke! Aber wie gesagt, erst einmal müssen wir abwarten. Es ist ja nicht auszuschließen, dass Oma Margarethe auch jeden deiner Schritte überwachen lässt. Noch wäre das Risiko allein von daher gesehen noch viel zu groß, über dich Johann auch nur eine Nachricht zukommen zu lassen.“

„Die Zeit wird jedenfalls kommen!“, orakelte Edith daraufhin mit neuer Zuversicht, und Adele teilte mit ihr gern diese optimistische Prognose.

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