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Adele Brinkmann war zwar erst achtzehn Jahre alt, doch sie wusste bereits, was man meinte, wenn die Rede war vom „blutenden Herzen“.

Weil ihr Herz im wahrsten Sinne des Wortes eben... blutete.

Sie wünschte sich nur noch, auf der Stelle zu sterben. Dass sie es überhaupt schaffte, auch nur in den Spiegel zu schauen, war ihr selber ein völliges Rätsel. Was sollte sie denn mit diesem Anblick von einer jungen Frau, die es normalerweise gern hörte, wenn man sie wunderschön nannte, mit ihrer gottgewollt wohlgeformten Gestalt und den strahlendblauen Augen, die dem Himmel persönlich entliehen schienen? Denn aus ihrer schneeweißen, langhaarigen, dunkelblonden Schönheit war buchstäblich ein verheultes Elend geworden, mit roten, geschwollenen Augen, aus denen keine Tränen mehr flossen, weil da einfach keine Tränen mehr vorhanden sein konnten.

„Johann!“, schluchzte sie herzzerreißend.

Das hätte sie nicht tun sollen. Sie hätte nicht diesen Namen aussprechen dürfen. Das sollte sie lieber nie mehr in diesem Leben tun.

Wenn sie aber sowieso im nächsten Moment schon tot umfallen würde...

Doch sie fiel nicht tot um. Nicht jetzt, nicht später, überhaupt nicht. Sie musste ihr verheultes Antlitz weiterhin ertragen und den Gedanken, dass es aus war mit ihrem über alles geliebten Johann. Für immer. Nicht weil sie das wollte. Auch Johann wollte es nicht. Ganz im Gegenteil...

Wie ging es denn ihm jetzt in diesem Moment? So wie ihr? Saß er ebenfalls vor einer Spiegelkommode, die eigentlich für das Schminken und Pudern gedacht war, nicht um sich selbst zuzusehen beim Weinen?

Hatte er denn überhaupt eine Spiegelkommode in seinem Zimmer?

Wie hätte sie das wissen sollen: Sie hatte sein Zimmer noch nie gesehen. Ja, sie war noch nicht einmal in der Nähe gewesen des Hansehauses Wetken. Es wäre ihr völlig unmöglich gewesen, auch nur in diese Nähe zu gelangen. Schließlich war die Gilde der Wetken der erklärte Erzfeind der Brinkmann-Gilde.

Zwei Hansehäuser, die sich bis auf das sprichwörtliche Messer bekriegten. Wobei die Brinkmanns als die „elenden Emporkömmlinge“ galten und die Wetkens immerhin sich altehrwürdig nennen durften, auf Grund ihrer jahrhundertelangen Tradition als Zugehörige der Hamburger Obrigkeit.

Johann Wetken, den Adele niemals mehr in ihrem Leben sehen sollte, wenn es nach ihrer Großmutter Margarethe ging – und deren Wort war unverbrüchliches Gildengesetz, wie jeder Brinkmann wusste! - trug den Namen eines berühmten Vorfahren, der um Fünfzehnhundert herum immerhin Bürgermeister von Hamburg gewesen war. Er war vor vierundsechzig Jahren gestorben, genauer im Jahre des Herrn 1538, und doch hallte sein Name immer noch gewissermaßen wie Donnerhall, wenn man ihn aussprach.

Außer in den Ohren von Adele. Da klang er süß und verführerisch. Sie konnte sich niemals dagegen wehren, dass sogleich sein Ebenbild vor ihrem geistigen Auge entstand - normalerweise um ihr Herz zu erwärmen.

Dieser hochgewachsene junge Mann mit den blonden, unbezähmbaren Haaren, dem stets verschmitzt wirkenden Lächeln, den offenen Augen, dem gütigen Blick...

Sie hatte das Gefühl, jetzt wirklich sterben zu müssen. So sehr bohrte sich der unerträgliche Schmerz in ihr bereits blutendes Herz. Nein, sein Anblick erwärmte es nicht mehr, sondern er versuchte, es zu töten.

Dabei war es gar nicht seine Schuld, sondern ausschließlich die Schuld ihrer Großmutter Margarethe!

Sie hatte es schon geahnt, als die heimliche Monarchin der Gilde sie zu sich gerufen hatte. Wer Margarethe zum ersten Mal sah und nichts über sie wusste, der hielt sie für eine gemütliche Oma, die keinerlei Wert auf Kleidung legte, wobei sie allein damit schon sich erheblich unterschied von anderen Hansefrauen innerhalb der Obrigkeit der Hansekaufleute von Hamburg.

Margarethe hätte sich niemals herausgeputzt wie jene. Sie hielt sich nicht an das Gebot der Demut gegenüber allem Männlichen, dem ständigen Gefallen wollen, das die Hansefrauen ihrer Zeit beseelte. Ganz im Gegenteil: Sie spielte nur die Demütige, Gutmütige, um nicht zu sagen Grundgütige, die stets im Hausgewand auftrat, beinahe wie eine der ärmeren Frauen, die sich keine prunkvollen Kleider leisten konnten.

Dazu, zu ihrer Andersartigkeit, gehörte auch ihre Liebe zur Spinnerei. Wann immer jedoch sie sich in das Zimmer zurückzog mit dem großen Spinnrad, wo sie ja etwas tat, was für jede andere Hansefrau weit unterhalb ihrer Würde gewesen wäre, konnte man allerdings davon ausgehen, dass am Ende etwas dabei herauskam, was Opfer forderte.

Wie das Opfer, zu dem jetzt Adele sich gezwungen sah: Margarethe hatte ihr in ihrem typisch gespielt sanftmütigen Tonfall erklärt, dass ein Johann Wetken nicht nur einen unverzeihlich verabscheuungswürdigen Namen trüge, sondern eben zu jenem „kranken Geschmeiß“ zählte – so wörtlich! -, das man tunlichst zertreten sollte.

Auf keinen Fall, unter keinen Umständen, jedoch sollte sich eine echte Brinkmann mit diesem hansischen Abschaum abgeben. Allein die Nähe zu jenen würde einer porentiefen Selbstbeschmutzung gleich kommen.

Solch drastische Äußerungen bekamen nur die Opfer ihrer Entscheidungen zu hören. Margarethe Brinkmann konnte ja auch anders. Eben wenn sie als die grundgütige Oma auftrat mit dem Hang zu einem Hobby wie das Bedienen eines Spinnrades. Aber doch nur, um ihre Gegner und künftigen Opfer zu täuschen.

Das wusste jeder im engeren Kreis der Gilde, nicht nur jeder Brinkmann, ob nun männlich oder weiblich. Weil sowieso jeder Brinkmann und alle, die sich ihrem Hause zur gemeinsamen Gilde angeschlossen hatten, es längst schon und oft genug am eigenen Leibe hatte erfahren müssen. Egal eben ob männlich oder weiblich.

Dabei war offiziell Hermann Brinkmann der Hansekaufmann und Gildenführer, der es geschafft hatte, aus der Gosse aufzusteigen – wie die Wetkens es wohl formuliert hätten, obwohl es natürlich nicht wirklich zutraf – und zum Licht der Obrigkeit empor zu kriechen, um - abermals nach Meinung wohl der Wetkens - das Gildenwesen der Hansekaufleute von Hamburg nachhaltig zu beschmutzen und zu entehren.

Adele indessen war das völlig egal gewesen. Alles dies! Vor allem natürlich seit sie Johann Wetken zum ersten Mal gesehen hatte.

Eine eher zufällige Begegnung. In gewisser Hinsicht zumindest. Denn Adele hatte es doch tatsächlich gewagt, außerhalb der Gilde an einem für sie strikt verbotenen Fest teilzunehmen.

Oh, sie war eigentlich wohlerzogen, hatte alles gelernt, was eine echte Brinkmann ausmachte, wenn sie nicht gerade Margarethe hieß und mit eiserner Faust aus der Deckung hinter ihrem Gemahl heraus über alles herrschte. Sie hatte nicht nur gelernt, an einem Ball teilzunehmen, ohne sich zu blamieren, sondern sogar, sich dabei angenehm hervorzutun. Also bestand sie auch ihren Auftritt bei einem für sie verbotenen Fest im Hansehaus Schopenbrink.

Verboten allein schon deshalb, weil es kein Fest war innerhalb der Gilde, sondern in einem neutralen Hansehaus, weil sich die Schopenbrinks weder den Brinkmanns noch den Wetkens angeschlossen hatten.

Ja, das gab es noch, denn die Obrigkeit von Hamburg im Jahre des Herrn 1602 bestand natürlich nicht allein aus Brinkmanns und Wetkens. Obwohl Margarethe genau dies aktiv anstrebte, um nach der Vernichtung der Wetkens dann endgültig die Obrigkeit in Hamburg ganz allein zu bestimmen.

Aber bis dahin war noch ein weiter Weg, wie sie zähneknirschend zugeben musste. Vor allem waren ihr dabei ausgerechnet eben die Wetkens im Weg, und das jetzt schon seit Jahrzehnten, seit dem unaufhaltsamen Aufstieg der hansischen Brinkmanns.

Ja, die Wetkens hatten es bislang geschafft, sich den Brinkmanns zu widersetzen, sich nach wie vor zu behaupten.

Dabei war die Brinkmann-Gilde zwar zur zweitmächtigsten Gilde in Hamburg aufgestiegen, aber eben noch immer nicht zur mächtigsten!

Und da ausgerechnet lernte Adele auf einem für sie verbotenen Fest im Hansehaus Schopenbrink ausgerechnet Johann Wetken kennen, der in einigen Jahren das neue Oberhaupt der Wetken-Gilde werden sollte, falls es nach den Plänen des gegenwärtigen Gildenoberhauptes Georg Wetken ging?

Aber auch Johann war verbotenerweise vor Ort gewesen. Und er hatte dabei zum ersten Mal in seinem Leben „seine“ Adele gesehen, um auf der Stelle für sie zu entflammen.

Sie hatten sich einfach nur ansehen müssen, um zu wissen, dass sie füreinander bestimmt waren. Allen Gewalten zum Trotz.

Eine Liebe, wie sie größer gar nicht mehr hätte sein können. Aber eine Liebe, wie sie gleichzeitig gar nicht verbotener hätte sein können!

Zwei Gilden, die sich gegenseitig dermaßen hassten, dass sie sich gegenseitig den Tod oder noch Schlimmeres wünschten... Und dann dies: Die Enkelin von Margarethe und Hermann Brinkmann, verliebt in den heimlichen „Thronfolger“ der Wetken-Gilde – und umgekehrt!

Adele wusste nicht, ob auch Johann inzwischen von seinen Leuten ertappt worden war. Sie wusste noch nicht einmal, wie ihre Oma Margarethe es überhaupt hatte erfahren können. Sie und Johann waren doch so überaus vorsichtig gewesen. Sie hatten sich seit ihrem Kennenlernen vor gut drei Monaten nur ganze fünf Mal gesehen, immer nur viel zu kurz und beinahe nur flüchtig. Da war noch nicht einmal Zeit gewesen für einen innigen Kuss!

Während sie sich in der übrigen Zeit vor Sehnsucht füreinander regelrecht verzehrt hatten wohlgemerkt.

Aber war sie gerade deswegen aufgefallen? Weil man ihr die grenzenlose Verliebtheit regelrecht angesehen hatte? War es denn wirklich zu offensichtlich geworden, trotz aller Bemühungen, es nicht deutlich werden zu lassen?

Aber wem war es aufgefallen, also wer hatte sie letztlich an Margarethe verraten?

Die Warnung ihrer Großmutter war eindeutig gewesen. Sie hatte zwar nicht wörtlich ausgesprochen, dass jegliches weitere Treffen mit Johann einem Todesurteil gleich kommen würde, zumindest für Johann, aber dies stand eben unausgesprochen und nach wie vor als grausame Drohung im Raum.

Einmal abgesehen davon, dass alle ihrer Großmutter Margarethe gehorchenden Kräfte darauf gebündelt waren, genau ein solches Treffen nachhaltig zu verhindern.

Und Adele wusste aus bitterer Erfahrung, wie effektiv diese Kräfte sein konnten, denen sie sich unterwerfen musste, ob sie nun wollte oder nicht. Allein schon, um das Leben ihres über alles Geliebten nicht zu gefährden.

Hanseschwestern - Historical Romance Sammelband 6020: 3 Romane

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