Читать книгу Die Stimme der Rache: 4 besondere Krimis - Alfred Bekker - Страница 14

3

Оглавление

Im Tinnef war es sehr voll, aber nicht zu laut. Sie stellten sich an die Theke und tranken langsam. Schalows Blicke wanderten immer wieder zur Tür, aber weder Kucharz noch der kleine Dicke noch sonst jemand, der verdächtig aussah, betrat den Raum.

Beate kam erst um sieben.

Sie ging auf Gerd zu, aber ihre leuchtenden Augen waren unverwandt auf Ernst gerichtet. Sie erkannte ihn sofort.

Sie drückte Gerd einen Kuss auf die Lippen, ehe sie sich Ernst zuwandte.

»Enno«, sagte sie mit einer Stimme, die leicht belegt klang. Mit den Fingerspitzen strich sie über seine Wange, ehe sie sich auf die Zehenspitzen stellte und mit den Lippen seinen Mundwinkel berührte.

Ein heißer Strom rann durch Schalows Körper bis in die Zehenspitzen, und er blieb steif stehen.

»Enno, mein Gott! Wir hatten ja keine Ahnung!«

Sie ist schön, dachte er betroffen. Schöner als damals. Ihr Gesicht war ausdrucksvoller geworden. Das aschblonde Haar trug sie im Nacken zusammengebunden. Ein rotes Band hielt die hohe klare Stirn frei und betonte den Ausdruck der Augen. Sie waren hellblau und unglaublich klar.

Sie trug khakifarbene Hosen, die um die Hüften viel zu weit waren. Gatsbyhosen nennt man die wohl, dachte Schalow. Er fand sie scheußlich, aber die locker fallende Bluse aus hellblauem Seidenstoff und die ärmellose Weste waren hübsch. Sehr hübsch und sexy. Beate trug keinen Büstenhalter. Natürlich nicht. Ernst Schalow schluckte. An Beates Hals tickte blau eine Ader.

Ihre Augen tauchten in seine. »War es schlimm?« Ihre Stimme klang immer noch belegt.

»Ja«, antwortete er.

»Wenn ihr euch genug angestarrt habt, könnt ihr mich ruhig auch wieder beachten«, meldete sich Gerd.

Sie setzten sich in eine freie Ecke. Sie unterhielten sich leise über alles Mögliche. Nur nicht über Monika.

Schließlich hielt Ernst es nicht mehr aus, und er fragte nach ihr.

»Ich habe sie seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen«, sagte Beate. »Du, Gerd? Hast du sie einmal getroffen?«

Gerd runzelte die Stirn, und als er antwortete, sah er Schalow an. »Ich kann mich nicht erinnern. Ich glaube nicht, dass ich sie noch einmal gesehen habe, nachdem du verhaftet wurdest. Hierher kam sie ja nur wegen dir.«

»Ich habe sie noch einmal am Neumarkt getroffen«, sagte Beate lebhaft. »Aber wann war das? Mein Gott, mein Gedächtnis! Ich besuchte das Seminar, richtig. Das muss also zweieinhalb Jahre her sein.« Beate sah Ernst an. »Vergiss sie, Enno. Sie ist verheiratet.«

Ernst verrieb eine Bierlache. »Ich muss sie sehen«, sagte er. »Es ist eine fixe Idee, wisst ihr? Ich habe immer an sie denken müssen. Immer. Jeden Tag.« Und jede Nacht, dachte er. Es war wie ein Schmerz, der immer wiederkehrte.

Beates Augen bekamen einen mitleidigen Schimmer. Gerd trank.

»Vielleicht ist sie ihrem Mann längst davongelaufen«, sagte Schalow.

»Immer, wenn ich anrufe, kommt er an den Apparat.«

»Und jetzt weißt du nicht, wie du an die Burgfrau herankommen sollst.« Beate runzelte die Stirn, wobei sie jedoch verstehend lächelte. Sie kramte in ihrer Handtasche. »Weißt du was? Ich rufe einfach an und frage nach ihr. Ich bin eben ihre alte Freundin Beate.«

»Nein«, sagte Ernst. »Das will ich nicht.«

»Warum nicht, du Narr?«

Beate fand zwei Zehnpfennigstücke. Sie stand einfach auf. »Ich bin eine Frau. Ihr Mann wird nicht gleich darauf kommen, dass ich nur anrufe, um den Postillon d'Amour zu spielen.« Beate lachte. Ihre Zähne leuchteten, das Haar wippte über ihren Rücken. »Gib mir die Telefonnummer.«

Ernst schüttelte den Kopf. Gerd legte eine Hand auf seinen Arm.

»Lass sie doch!«, sagte er.

Ernst schrieb die Nummer auf einen Bierdeckel, und Beate zog ab.

Sie kam schon nach zwei Minuten zurück. Ihr Lächeln wirkte eine Spur zu optimistisch, als sie sich wieder zu den beiden Freunden an den Tisch setzte.

»Er war ziemlich betroffen, als ich nach Monika fragte, der gute Herr Heikaus«, berichtete sie. »Aber an der Auskunft ist wohl nichts auszusetzen. Sie hätten sich getrennt, sagte er. Schon vor ein paar Jahren. Und dann wollte er wissen, wer ich bin.« Beate lächelte intensiver. »Vielleicht sucht auch er nach Ersatz. Oh, Entschuldigung«, sagte sie dann schnell.

»Schon gut.« Ernst schob eine Zigarette zwischen seine Lippen. Seine Finger zitterten ein wenig. Vielleicht war Monika tatsächlich frei! Aber was konnte er unternehmen? Morgen früh musste er auf Weilersdorf anfangen.

Gerd hatte ihn beobachtet. Er stieß ihn an und schob ihm ein volles Bierglas zu.

»Dann versuche ich es eben«, entschied er. »Als Versicherungsvertreter bin ich sehr überzeugend, wie ihr wisst.« Er grinste. Er hatte sein Studium teilweise finanziert, indem er Versicherungen abgeschlossen hatte. »Ich habe noch einen Haufen Unterlagen.«

»Aber er weiß nicht, wo sie ist«, gab Beate zu bedenken. »Das behauptet er wenigstens.«

»Wenn sie nur getrennt leben, also nicht geschieden sind, muss er zumindest wissen, wie er sie erreichen kann. Und wenn er über seinen oder ihren Anwalt geht.«

»Dann kann ich es auch selbst versuchen«, meinte Ernst.

»Vielleicht weiß er, wer du bist«, sagte Beate. »Frauen sind manchmal komisch. Es ist möglich, dass sie ihm alles gebeichtet hat. Oder im Zorn an den Kopf geschmissen.«

»Lass mich das mal machen.« Gerd grinste zuversichtlich. »Ich habe da so eine Idee. Ich fahre zuerst einfach bei diesem Ehemann vorbei. Ich muss morgen sowieso einen Kunden in Niehl besuchen. Da kann ich es einrichten. Und wenn Heikaus weiter die Auster spielt, nun, dann werde ich eben etwas anderes versuchen.«

»Was willst du machen?«, fragte Ernst lahm. Er wusste nicht, wie er dem Freund das Vorhaben ausreden konnte. Gerd war schnell für etwas zu haben, das nach einem Abenteuer aussah. Er hatte sich nicht geändert. Oder wollte er ihm vielleicht so schnell wie möglich ein Mädchen besorgen, ehe er, Ernst Schalow, bei Beate verlorenes Terrain zurückgewann?

Unsinn. Das mit Beate war vorbei. Seit vier Jahren.

Er sah sie an. Ruhig erwiderte sie den Blick. Er hatte sich verändert, er war reifer geworden. Und männlicher. Das wusste er. Auch Beate hatte sich verändert. Sie war nicht mehr spröde. Selbstbewusst ja. Aber nicht spröde.

»Kommst du morgen Abend vorbei?«, unterbrach Gerd seine Gedanken.

»Ich weiß nicht, ob ich den Wagen noch mal nehmen kann. Außerdem wollte ich mir ein Zimmer besorgen.« Aber das hatte Zeit, dachte er. »Ich rufe auf jeden Fall an.«

Gerd grinste. »Vielleicht habe ich dann schon ein Rendezvous für dich verabredet. Kannst du es noch so lange aushalten?«

Schalows Grinsen fiel etwas missraten aus. Beate lächelte nicht.

»Ich muss«, sagte er.

Gerd wurde unvermittelt ernst. »Du musst mir nur eins versprechen, Enno.«

»Ja?«

»Sei nicht enttäuscht, wenn sie einen anderen Macker hat.«

Ernst schüttelte den Kopf, dann stand er auf. Er hatte genug getrunken. »Ich muss jetzt nach Hause fahren. Mein Alter zittert bestimmt um seinen Wagen.«

»Hast du Geld, um dir selbst einen zu kaufen?«, erkundigte sich Gerd.

»Nein. Kein Gedanke.«

»Ich kann dir welches leihen. Zweitausend? Einer, der so viel von Autos versteht wie du, kann sich damit was ganz Heißes anschaffen.«

»Danke, Gerd«, sagte Schalow. Es hörte sich lahm an. Vielleicht wollte er das Geld haben. »Es geht nicht. Ich meine, ich weiß doch nicht, wann ich es zurückzahlen kann.«

»Wenn ich es nächste Woche brauchte, würde ich es dir nicht anbieten!«, fuhr ihn Gerd an. »Ich bring's dir mit. Morgen Abend oder wann immer wir uns sehen, werde ich es bei mir haben.«

Schalow musste sich umdrehen, weil die anderen sonst gesehen hätten, dass seine Augen feucht wurden. Gerd war sein Freund. Die Freundschaft hatte gehalten. Mehr noch. Sie hatte eine starke Bewährungsprobe bestanden.

*


Er fuhr über die Aachener Straße und die B 55 nach Huckerath. Seine Augen hingen fast öfter am Rückspiegel als geradeaus auf der Fahrbahn, wo die Scheinwerfer den hellen Betonstreifen aus der Dunkelheit schnitten.

Er würde heute noch mal bei seinen Eltern schlafen. Aber morgen wollte er sich ein Zimmer suchen. Morgen früh musste er um sieben Uhr auf dem Kraftwerk sein. Die normale Arbeitszeit ging von 7 bis 16 Uhr. Vielleicht teilten sie ihn auch für den Schichtbetrieb ein. Von 6 bis 14 Uhr, von 14 bis 22 Uhr und von 22 bis 6 Uhr, in wöchentlichem Wechsel. Wechselschichten waren vielleicht ganz günstig, überlegte er. Wenn er Spätschicht hatte, konnte er sich tagsüber in Köln nach einer passenden Stelle umsehen.

Aber nein, dachte er dann mutlos, sie würden einen Vorbestraften keine Wechselschichten machen lassen. Als Elektriker hatte er Zugang zu fast allen Bereichen des Werkes. Er würde oft allein sein, auch nachts. Nein, sie würden ihn irgendeiner Kolonne zuteilen und ihn die erste Zeit Isolatoren oder Hochspannungsschalter reinigen lassen.

Bei Horrem fuhr er von der B 55 ab. Zehn Minuten später bog er in die Fortunastraße ein. Er hatte sich noch gar nicht überlegt, wie er morgen früh zum Kraftwerk rauskommen wollte. Den Wagen seines Vaters wollte er nicht nehmen, selbst wenn sein Vater darauf bestehen würde.

Vielleicht war sein altes Fahrrad noch da.

Er schlug das Lenkrad ein und setzte den Audi in die Einfahrt. Die Scheinwerfer beleuchteten das Schwenktor vor der Betongarage. Schalow schaltete das Standlicht an und stellte den Motor ab, ehe er aus stieg.

Er wollte das Garagentor gerade aufziehen, als ein Paar grelle Halogenscheinwerfer aufleuchteten und ihn mit blendendem, gleißendem Licht übergossen.

Schalow hob eine Hand schützend vor die Augen. Sein Herz schlug ihm bis in den Hals. Kucharz, dachte er unwillkürlich.

Das Licht erlosch wieder. Die H4-Lampen glühten schwach rot nach.

»Schalow!«, hörte er eine Stimme. »He, Schalow, kommen Sie her!«

Ihn packte eine sinnlose Wut. Nachdem sich seine Augen auf die Dunkelheit eingestellt hatten, erkannte er einen Wagen auf der anderen Straßenseite, gleich an der Ecke.

Sie haben wieder in den braunen Granada übergewechselt, dachte Schalow.

»Nun kommen Sie schon! Oder sollen wir Sie holen, Schalow?«

Steifbeinig ging er auf den Wagen zu. Dieses Mal ballte er die Fäuste nicht in der Tasche.

*


Eine Wagentür wurde geöffnet. Die Fahrertür. Der Bursche mit den großen Ohren baute sich vor Schalow auf.

Aus dem herabgedrehten rückwärtigen Fenster traf ihn die Stimme des Dicken.

»Machen Sie es Mario nicht unnötig schwer, Schalow. Sie kennen die Prozedur sicher.«

Mario, großer Gott, sie nennen einen ihrer Menschenjäger Mario. Wie einen italienischen Eisverkäufer.

Mario trat zur Seite, und Schalow legte die Hände aufs Dach. Er stellte die Beine zurück und spreizte sie, dann fühlte er, wie ihn Marios Hände abtasteten. Irgendwo ging ein Licht in einem der Häuser an. Er sah den Widerschein im spiegelnden Lack des Wagendaches, aber er sah sich nicht um.

Sie wollten ihn einschüchtern, indem sie ihm hier nachstellten, in der Gegend, in der er wohnte. Wo jeder ihn kannte. Ihn und seine Eltern, die es auszubaden hatten, wenn sie weiter hinter ihm her sein würden. Er knirschte mit den Zähnen.

»Er ist sauber«, sagte Mario.

»Was haben Sie denn erwartet?«, fauchte Schalow gegen den schwarzen Umriss des hinteren Fensters, in dem ein blasses rundes Gesicht schwebte. »Sie wissen, dass ich gestern aus dem Knast gekommen bin ...«

»Und wir wissen, dass Sie sich heute unserer Observation entzogen haben«, konterte der Dicke kühl. Er stieß die Tür von innen auf und rutschte zur Seite. »Steigen Sie ein.«

»Nein«, sagte Schalow.

Mario versetzte ihm einen Stoß in den Rücken. Es war der zweite Stoß, den er heute in den Rücken bekam. Er klammerte sich am Türrahmen fest. Marios warmer Atem strich über seinen Nacken. Der Kerl wollte jetzt zu einem gemeinen Schlag ansetzen. Vielleicht in die Nieren.

Da klirrte ein Fenster, ein Rollladen klapperte.

»Ernst? Bist du es?«

Das war sein Vater. Schalow schloss die Augen. Sie wollten ihn demütigen.

Wollten sie das wirklich?

»Ernst? Wo steckst du denn?«

»Ich bin hier, Vater. Es ist alles in Ordnung.« Verdammt, wenn sie so weitermachten, boten sie bald der Nachbarschaft ein spannendes Schauspiel.

»Soll ich rauskommen, Ernst?«

»Nein, Vater, bitte nicht. Es ist alles in Ordnung.« Er stieg in den Fond des Granada.

Mario schmetterte die Tür zu. Dann setzte er sich hinter das Lenkrad. Dabei ging die Innenbeleuchtung kurz an, und Schalow konnte Marios Gesicht von der Seite sehen. Es war nichtssagend, wie er es schon beim ersten Anblick eingestuft hatte. Er würde es nicht wiedererkennen.

»Fahren Sie ein Stück, Mario«, sagte der Dicke. »Nach Bergheim vielleicht.«

Schalow spürte die Bewegung neben sich, als der kleine Dicke sich zurechtsetzte. Der Wagen rollte an.

»Wer sind Sie?«, fragte Schalow. »Und was wollen Sie?«

»Nennen Sie mich Hartmann«, sagte der Dicke.

»Warum nicht Tiger? Oder James Bond?«

»Solche Decknamen sind bei uns nicht üblich, Herr Schalow. Wenn Sie meine Dienststelle anrufen und nach Hartmann fragen, wird man Sie mit mir verbinden. Das sollte genügen.«

»Ich wüsste nicht, weshalb ich Sie anrufen sollte.«

»Man kann nie wissen, Schalow. Wo haben Sie sich heute herumgetrieben?«

»Das geht Sie nichts an.«

»Herr Schalow, ich kann Ihnen das Leben so zur Hölle machen, dass Sie sich nach der JVA zurücksehnen. Glauben Sie mir. Sie sind störrisch. Deshalb haben wir uns lange mit Ihnen beschäftigt. Sie wissen, was wir wollen. Wir wollen die Namen Ihrer Komplizen. Der Banküberfall wurde nach unseren Erkenntnissen von Tätern durchgeführt, die der Terrorismusszene zuzuordnen sind. Die Fakten kennen Sie. Die Art der verwendeten Waffen, das entschlossene, brutale Vorgehen, eben alles. Ich will Ihnen noch etwas sagen, Herr Schalow, damit Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben, und damit Sie erkennen, dass Sie mich - oder uns - nicht so schnell wieder loswerden. Ich gehöre einer Zielfahndungsgruppe an, die erst vor einigen Monaten gebildet wurde. Sie ist noch recht klein. Aber raten Sie einmal, wer unser Zielobjekt ist!«

»Ich komme doch nicht darauf. Vielleicht der Briefträger von Huckerath?«

Wenn Hartmann sich ärgerte, ließ er es sich nicht anmerken.

»Wir tragen alle Informationen zusammen, die wir über Sie bekommen können. Wir checken jeden Kontakt ab, wir registrieren jede Bewegung, die Sie machen. Es liegt an Ihnen, wie schlimm es für Sie wird.«

Schalow lachte laut auf. Wieder lag etwas an ihm.

Überraschend milde fuhr der Mann vom Verfassungsschutz fort: »Sagen Sie uns jetzt, was Sie heute getan haben.«

»Ich werde es Ihnen sagen, aber nur unter Protest. Ich betrachte diese Unterredung als Nötigung. Ich werde meinen Anwalt über Ihr Vorgehen informieren und mich erkundigen, ob ich Ihre Art und Weise, wie Sie mich verfolgen und zu einer Spazierfahrt einladen, hinnehmen muss. Und ich werde mich erkundigen, ob ich Sie abschütteln darf, wenn mir danach zumute ist. Sollte das nicht der Fall sein, werde ich bei der nächstbesten Gelegenheit eine Schaufensterscheibe einwerfen. Dann können Sie mich im Knast besuchen.«

Schalows Hände waren schweißnass. Er sah aus dem Seitenfenster. Sie fuhren gerade am Martinswerk vorbei.

»Wenn Sie dann zur Sache kommen könnten, Herr Schalow«, mahnte Hartmann.

»Ich war im Kino ...« .

»Haha!«

»Ich war in mehreren Kneipen und in einem griechischen Restaurant am Hansaplatz«, fuhr Schalow unbeirrt fort. »Anschließend habe ich einen alten Freund besucht, mit dem ich noch ein Lokal an der Kyffhäuserstraße auf gesucht habe.«

»Wie heißt der Freund?«

»Hören Sie!«, brauste Schalow auf. »Sie können ...«

»Lassen Sie Dampf ab!«, sagte der Dicke scharf. »Ich habe einen Job zu tun, und ich werde ihn machen! Ich werde mich von einer lausigen Randfigur, wie Sie eine sind, nicht aufs Abstellgleis rücken lassen!«

Schalow grinste. Die Lichter der Straßenlaternen am Bergheimer Bahnhof zuckten über Hartmanns volles Gesicht und tauchten es abwechselnd in kalkig weißes Licht und blaue Schatten. Seine Augen waren stumpf, die Lippen zusammengepresst. Schalow ließ den Blick nicht von dem anderen.

Da setzten sie einen Mann auf seine Spur, der eine Chance brauchte. Welche Pannen mochten dem kleinen Dicken unterlaufen sein?

Schalow wusste nicht so recht, wie er diese Erkenntnis aufnehmen sollte.

Einerseits gewann dieser Mann, der seit gestern eine unheimliche Bedrohung für ihn darstellte, der die erdrückende Gegenwart einer Macht repräsentierte, der er nichts entgegenzusetzen hatte, durch sein vermutlich ungewolltes Geständnis so etwas wie ein menschliches Profil.

Andererseits wusste er, dass ein angeschlagener Wolf gefährlich werden konnte. Um seine Karriere zu retten, konnte Hartmann leicht auf den Gedanken verfallen, einen harmlosen Kerl wie Ernst Schalow unterzubuttern, indem er ihn zum gefährlichen Terroristen aufbaute und dann vernichtete.

Schalow bot sich für diese Rolle geradezu an. Er war wegen Beihilfe an einem spektakulären Bankraub verurteilt und auf Bewährung entlassen worden. Von den wahren Tätern fehlte jede Spur. Wenn es wirklich Terroristen waren, die vor dreieinhalb Jahren die Hauptfiliale der Deutschen Kreditbank in Leverkusen ausgeraubt und einen Kassierer getötet hatten, würde man sie jetzt nur noch schwer ermitteln und überführen können. Es sei denn, die Tausendmarkscheine befanden sich noch in ihrem Besitz.

Ernst Schalow stellte das ideale Opfer für einen Mann wie Hartmann dar. Seine Rechte waren eingeschränkt. Die Möglichkeiten, sich zur Wehr zu setzen, gleich null.

Jederzeit konnten sie alle wieder über ihn herfallen.

Die Polizei, die Gerichte, die Zeitungen. Und Typen wie Klaus Kucharz nicht zu vergessen.

»Über Ihre beschissene Lage können Sie später noch nachdenken«, sagte Hartmann. Er schnippte mit den Fingern, und Mario bog vor der Erftbrücke rechts in Richtung Niederaußem ab.

»Sie kennen seinen Namen«, sagte Schalow gequält. »Ich habe und hatte nur einen richtigen Freund.«

»Ich will den Namen von Ihnen hören.«

Schalow knirschte mit den Zähnen. Die letzten Häuser von Bergheim blieben zurück. Es war stockdunkel links und rechts der Betonstraße. Nie wieder sollten sie ihn so überraschen wie eben vorm Haus seines Vaters, das nahm er sich vor. Er schwitzte. Es war Angstschweiß.

»Gerd Wissmeyer«, sagte er.

»Na also, Herr Schalow. Jetzt brauchen Sie mir nur noch zu sagen, wen Sie dauernd angerufen haben.«

»Gerd Wissmeyer.« Die Lüge kam glatt über seine Zunge. Von jetzt an würde er nur noch telefonieren, wenn er nicht beobachtet wurde.

Hartmann lehnte sich zufrieden zurück. Die Lichter von Niederaußem tauchten auf. Das Kraftwerk stand wie ein gigantischer Fremdkörper vor dem dunklen Himmel. Aus den Kühltürmen stieg weißer Wasserdampf. Sie fuhren nach Oberaußem, wo Mario nach Fortuna abbog.

Das Dorf wirkte verlassen. Wie die Kulisse eines Films, der längst abgedreht war. Das Dorf sollte bald den Abraumbaggern zum Opfer fallen. Die Braunkohle unter den alten Häusern war zum Abbau freigegeben. Die Bewohner waren umgesiedelt worden. Die Fahrt über die verlassene Hauptstraße, die immer noch von den hohen Peitschenlampen hell erleuchtet wurde, hatte für Schalow etwas Beklemmendes.

Früher war er oft hier durch gefahren. Einige Zeit war er sogar mit einem Mädchen von hier gegangen. Sie hatte an der Kirchstraße gewohnt. Unwillkürlich wandte er den Kopf, als die Einmündung der Straße vorbeiglitt. Wie heißt sie doch? Heike? Nein, Heidrun.

»Keine Sorge, wir fahren Sie wieder nach Haus, Schalow«, meldete sich der Dicke wieder. »Bei Ihren Vernehmungen durch den Verfassungsschutz haben Sie stets abgestritten, an dem Bankraub beteiligt gewesen zu sein. Herr Schalow, wenn Sie jetzt etwas anderes aussagen wollen, wird es Ihnen nicht mehr schaden. Das verspreche ich Ihnen.«

»Ich habe nicht ...«

»Warten Sie doch, Schalow! Es hat keinen Sinn, Dinge zu wiederholen, die bereits tausendmal gesagt worden sind. Der Hit in Leverkusen wurde von Terroristen gemacht. Daran gibt es keinen vernünftigen Zweifel. Sie waren nur der Fahrer, das steht ebenfalls fest. Sie waren nicht in der Bank. Die Aussage der Zeugin ist in dieser Hinsicht einwandfrei und nicht zu widerlegen. Da hatten Sie Glück, Schalow, denn sonst hätte die Anklage leicht auf Beihilfe zum Mord lauten können, statt nur auf Beihilfe zu einem Bankraub.«

Die Zeugin.

Schalow schluckte. So eine kuhäugige Alte wollte ihn am Steuer des BMW erkannt haben. Vergebens hatte sein Anwalt vor Gericht darzulegen versucht, warum die Aussage dieser Frau nicht zur Urteilsfindung herangezogen werden durfte, sie hatte Schalows Bild vor der Gegenüberstellung in den Zeitungen gesehen. Für sie war er von vornherein schuldig gewesen.

»Lassen Sie mich in Ruhe!«, knurrte Schalow.

»Und wie wollen Sie mir erklären, dass Sie im Besitz einer Waffe waren und über Munition verfügten, die von Terroristen bevorzugt wird?«

Schalow war kurz daran, seine Fassung zu verlieren.

Er hatte sich in Griechenland breitschlagen lassen und eine Pistole vom Kaliber 7,65 gekauft. Samt Munition. Dass dieser Munitionstyp auch von Terroristen bevorzugt wurde, lag ganz einfach daran, dass er leicht erhältlich war. In Belgien und in der Schweiz.

»Ich will Ihnen überhaupt nichts erklären! Fahren Sie mich nach Haus. Und geben Sie diese alberne Beschattung auf.«

»Ihre ehemaligen Komplizen könnten auf die Idee kommen, Sie zu liquidieren, wenn Sie so dicht observiert werden. Die werden befürchten müssen, dass Sie eines Tages weich werden.«

Schalow lachte. »Ich muss früh raus. Fahren Sie mich nach Haus.«

»Richtig. Sie fangen ja schon morgen auf Weilersdorf an. Als Betriebselektriker.«

»Ihre Spitzel sind auf Zack«, spottete Schalow. Hartmann antwortete nicht.

Sie fuhren an Schlenderhahn vorbei. Die Hecken standen wie Mauern neben der gewundenen Straße. Ein Wagen kam ihnen mit aufgeblendeten Scheinwerfern entgegen. Mario fluchte und blendete seinerseits auf.

Wie mit einer Kanone abgeschossen, stach das grelle Licht dem anderen entgegen. Schalow sah ein entsetztes Gesicht hinter der Windschutzscheibe. Der andere Wagen kam dem Straßengraben gefährlich nahe, dann war er vorbei.

»Selbst schuld, der Penner«, murmelte der Fahrer.

Sie fuhren nach Ichendorf hinunter. Dahinter lag Huckerath.

»Halten Sie irgendwo«, sagte Hartmann zu Mario.

Mario lenkte den Granada scharf an den Straßenrand und schaltete die Scheinwerfer bis auf die Standlichter aus. Er sah stur nach vorn.

»Herr Schalow, Sie werden mit Ihren ehemaligen Komplizen keinen Kontakt aufnehmen können. Wir werden Sie an der ganz kurzen Leine halten.«

Schalow tastete nach dem Türöffner.

Er zog am Hebel, aber die Tür ließ sich nicht öffnen.

»Kindersicherung«, sagte Hartmann. »Ganz praktisch. Sie können aussteigen, wenn wir miteinander fertig sind. Es dauert nicht mehr lange. Geben Sie uns einen Tipp. Irgendetwas. Mit dem Geld können Sie sowieso nichts anfangen. Die kleinen Scheine haben Ihre Komplizen inzwischen längst verbraucht, und die Tausender kann niemand ausgeben. Sie schon gar nicht. Das Geld ist Nebensache für uns, es interessiert uns nicht. Wenn Sie dagegen Geld brauchen, sagen Sie es. Ich kann Ihnen helfen. Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen sofort fünfhundert Mark.«

Schalow lachte.

»Da habe ich heute bereits ein großzügigeres Angebot bekommen.« Kucharz hatte er beinahe schon vergessen.

Hartmann fuhr herum. Seine plumpen Fäuste packten Schalows Jacke, und mit einem Ruck zerrte er ihn zu sich heran.

»Sie waren also nicht aufrichtig! Ich habe es doch gewusst! Schalow, ich habe es gewusst!«

»Lassen Sie mich los. Ich hatte es bloß vergessen.«

Hartmann ließ ihn nicht los. »Reden Sie! Wer hat Ihnen Geld geboten?«

»Er nannte sich Klaus Kucharz und gab sich als Privatdetektiv aus. Er ist ein Ganove. Er will, dass ich ihm die Tausendmarkscheine besorge. Ich oder meine Komplizen könnten mit dem Geld doch nichts anfangen, und er bekäme zehn Prozent Belohnung. Mir wollte er tausend abgeben.«

Hartmann löste seine Hände aus Schalows Jacke. Pfeifend stieß er den Atem aus.

»Kucharz, sagten Sie? Und Sie haben ihn vorher nie gesehen?« Schalow schüttelte den Kopf. »Wo hat er Sie getroffen?«

»Er hat mir aufgelauert. Vor der Wohnung meines Freundes.«

Für Gerd hatte sich der Verfassungsschutz nach Schalows Verhaftung natürlich ebenfalls interessiert. Sie hatten festgestellt, dass Gerd sich nie an staatsfeindlichen Aktionen beteiligt hatte und als Komplize der Bankräuber nicht infrage kam. Im Gegensatz zu Schalow hatte er ein prächtiges Alibi. Zur Zeit des Überfalls hatte er Beate in Freiburg besucht, die dort ihr letztes Semester Germanistik studierte.

»Wir werden uns um ihn kümmern«, versprach Hartmann. »Um diesen Kucharz, meine ich.« Es hörte sich nicht so an, als ob er wegen dieses Ganoven eine sonderliche Aktivität entfalten wollte.

»Tun Sie's bald«, sagte Schalow düster. »Wenn mir der Kerl noch einmal über den Weg läuft, weiß ich nicht, wie ich reagiere.«

»Seien Sie vorsichtig, Herr Schalow«, mahnte Hartmann. »Denken Sie an Ihre Bewährung.«

»Sie meinen, wenn ich wieder im Knast lande, könnten Sie mich nicht mehr einschüchtern und mich auch nicht mehr als Köder benutzen, Hartmann, geben Sie es auf. Es hat keinen Zweck.«

»Wie Sie wollen, Schalow. Es liegt nur an Ihnen.« Hartmanns Stimme klang plötzlich kühl. »Sie werden schon sehen, wer am längeren Hebel sitzt.«

Er schnippte mit den Fingern, und Mario fuhr weiter.

Hartmanns letzte Worte hatten eine ganz konkrete Drohung enthalten. Schalow begann einzusehen, dass er sich in einem Kreis befand, den er nicht verlassen konnte.

Die Stimme der Rache: 4 besondere Krimis

Подняться наверх