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Prolog: Spittal, Österreich - Spätsommer 1984


Die Bank lag in einer kleinen Seitenstraße, nicht weit vom Fluss - ein hässlicher Flachbau mit grauer Eternitfassade und ein paar verblühten Azaleentöpfen in den beiden ansonsten schmucklosen Fenstern.

Auf dem Vordach über der einflügeligen Eingangstür leuchtete in roten Neonbuchstaben der Name der Bank: >Raiffeisenkasse<. In fast jedem Kuhdorf der Hohentauern fand man diese schlichten Bankfilialen mit dem roten Namenszug an der Fassade oder auf dem Vordach - zweckmäßig und nach rein praktischen Gesichtspunkten konzipiert.

Bergbauern, Handwerker und Sägewerksbetreiber legten keinen Wert auf Bankgebäude, deren Architektur an Kathedralen oder antike Tempel erinnerte. Kirchen hatten auszusehen wie Kirchen und Banken wie Banken: Büros mit einem Kassenschalter eben. Ordentlich und ein wenig wie staatliche Behörden.

Die Dreitausender um das kleine Kreisstädtchen waren aufregend genug. Genau wie der Fluss, der während der Schneeschmelze manchmal zu einem reißenden Strom anschwoll, oder die anstrengende Landwirtschaft auf dem oftmals steilen Äckern und Weiden. Da konnten die Gebäude der öffentlichen Institutionen ruhig ein wenig Langeweile ausstrahlen. Und das taten die meisten Filialen der Raiffeisenkasse.

Dem Halbwüchsigen, der an diesem Vormittag mit feuchten Händen die Milchglastür zum Schalterraum der Bank aufdrückte, klopfte trotzdem das Herz.

Nicht, weil mit dem Betreten der Bank sechs katastrophale Minuten für ihn anbrachen - sechs Minuten, die sein Leben entscheidend prägen sollten. Das wusste der Dreizehnjährige zu diesem Zeitpunkt, als sich die Eingangstür der Bank scharrend hinter ihm schloss, noch nicht. Wer merkt das schon, wenn sich die entscheidenden Weichenstellungen des Schicksals vollziehen. Im Rückblick dann, sicher, im Rückblick sagt man: Dann und dann ist es geschehen. Jahre später würde auch der junge Wolf Amann das sagen.

Aber jetzt war er nur aufgeregt, weil er zum ersten Mal in seinem Leben Geld abheben wollte. Und zwar Geld, das ihm niemand geschenkt hatte. Geld, das er sich selbst verdient hatte. Mit seinen Händen, mit seinem Schweiß, mit eigener Kraft. Wolf Amann hatte die Sommerferien über als Küchenhilfe in einem Hotel gearbeitet: Geschirrspülen, Putzen, Mülleimer leeren und Kartoffeln schälen - vier Wochen lang.

Zwei Leute standen vor ihm am Kassenschalter. Eine junge Frau und ein Mann in den Vierzigern. Die Frau kannte Wolf flüchtig. Eine Kollegin der ältesten seiner vier Schwestern. Sie war Verkäuferin in einer Bäckerei schräg gegenüber. Er beobachtete, wie sie einen großen Geldschein unter dem Schalterglas hindurchschob. Der Kassierer auf der anderen Seite des Glases, ein dicklicher Endfünfziger in grauem Anzug, legte ihr ein halbes Dutzend Münzrollen in die Schublade.

Den Mann, der jetzt direkt vor ihm stand, kannte Wolf ebenfalls. Hannes Gastein. Er war in den ersten vier Schuljahren sein Klassenlehrer gewesen. Und hatte sich bei Wolfs Vater dafür eingesetzt, dass der Junge das Gymnasium besuchen konnte.

»Na, Wolf - Bankgeschäfte?«, lächelte er.

Wolf murmelte einen Gruß und nickte. Bankgeschäfte - das klang gut. Das klang sogar sehr gut. In seiner Brust schwoll etwas an, und er musste tief durchatmen, damit der Stolz ihm nicht als breites Grinsen aufs Gesicht kroch. Achttausend Schilling abheben - wenn das kein Bankgeschäft war!

Sein ehemaliger Lehrer lächelte immer noch. Und zog dabei fragend die Brauen nach oben.

»Hab' gejobbt in den Ferien«, erklärte Wolf, »und jetzt hol' ich's Geld.«

»Gratuliere.« Gastein machte ein anerkennendes Gesicht. »Größere Anschaffung geplant?«

Noch einmal holte Wolf tief Luft. Stereoanlage, neue Abfahrtski, Moped und anderes schoss ihm für Momente durch den Kopf.

Doch dann sagte er die Wahrheit.

»Einen Computer.«

Er hielt den Atem an, während er die Gedanken seines ehemaligen Lehrers auf dessen Gesicht zu lesen versuchte. Überraschung mischte sich in das Lächeln des Mannes. »Das ist eine lohnende Investition«, sagte er schließlich.

Eine lohnende Investition - Wolf platzte fast vor Stolz. Sein Vater hatte anders reagiert, als er ihn vor einem halben Jahr um Geld für einen gebrauchten Commodore gebeten hatte.

»Schmarren«, hatte sein Vater gesagt, »kommt mir nicht ins Haus, so ein Schmarren!«

Er war Schreinermeister und hatte einen kleinen Betrieb von Wolfs Großvater übernommen. Sein Lebenstraum: dass sein einziger Sohn die Schreinerei eines Tages übernehmen würde.

Wolfs Onkel, der Bruder seines Vaters, hatte ein gutes Wort für den Filius eingelegt. Er war Techniker beim Schieferbergwerk in der Nachbarstadt.

»Dem Computer gehört die Zukunft«, hatte er seinem Bruder in langen, feuchten Nächten auseinandergesetzt.

Und irgendwann hatte der alte Amann gesagt: »Von mir aus. Aber ich zahle keinen Groschen für so einen Schmarren. Sieh zu, wie du an das Geld kommst!«

Das hatte Wolf getan.

Und jetzt lagen fast achttausend Schilling auf seinem Konto.

Zusammen mit seinem Ersparten konnte Wolf damit sogar einen neuen Rechner kaufen.

Und genau das wollte er tun.

Die Frau raffte ihre Münzrollen zusammen und wandte sich vom Kassenschalter ab. Gastein nickte Wolf noch einmal zu, zückte seine Brieftasche und drehte sich zu dem Bankangestellten hinter dem Schalter um.

Und dann ging alles sehr schnell.

Die Frau stieß einen unterdrückten Schrei aus. Wolf sah die Augen des Kassierers sich weiten. Gleichzeitig mit Gastein fuhr er herum.

Das Mädchen stand wie festgewurzelt zwei Schritte vor dem Ausgang, mit hochgezogenen Schultern und die Hände mit der Geldtasche gegen ihre Brust gepresst.

Vor ihr ein Maskierter - rote Turnschuhe, schwarze Zimmermannshose, schwarzes Blouson, schwarze Wollmütze mit Augen und Mundschlitzen bis über das Kinn gezogen.

In seiner Rechten eine Flinte mit abgesägtem Lauf.

»Überfall!«, schrie er und stieß die junge Frau zurück in den Raum. »Keiner rührt sich, sonst knallt's!«

Er richtete die Waffe auf Wolf und Gastein.

»Hinlegen! Auf den Bauch!«

Der Kassierer war aufgesprungen und streckte die Arme in die Luft, als wäre dort eine unsichtbare Stange, an der er sich festhalten konnte. Sein Mund stand weit offen, und Wolf sah für einen Moment eine Reihe von Goldkronen in seinem Unterkiefer.

»Du auch!«, fuhr der Mann die Frau an. Wolf warf sich neben seinen ehemaligen Lehrer auf den Boden.

Plötzlich ein donnerndes Krachen über ihm.

Wolf hob unwillkürlich den Kopf.

Der Maskierte holte zu einem weiteren Schlag mit einem kurzstieligen Vorschlaghammer aus - die Scheibe vor dem Kassenschalter zersplitterte. Die Bruchstücke sausten in den winzigen Kassenraum.

Von dem Kassierer sah Wolf nur das leichenblasse Gesicht mit den weit aufgerissenen, starren Augen und die hoch gestreckten Hände. Er hatte sich bis an die Rückwand des Schalterraums zurückgezogen.

Der Maskierte zog eine Plastiktüte aus der Jacke. »Rein mit dem Geld!«

Wolf konnte seinen Blick nicht von dem Bankräuber losreißen. Breitbeinig stand der Mann drei Schritte vor ihm, vor der zertrümmerten Schalterscheibe, und hielt die abgesägte Flinte auf den Kassierer gerichtet.

Plötzlich sah er sich um. Für einen Moment nur blickte Wolf in das maskierte Gesicht - weite Pupillen zwischen zusammengekniffenen Lidern, und über der Oberlippe glänzte ein feiner Schweißfilm.

»Glotz nicht!«, schrie der Mann. Mit zwei raschen Schritten war er neben dem Jungen und trat zu.

Wolf drückte die Stirn auf den kalten Steinboden, schlang die Arme über Kopf und Nacken. Die Tritte trafen seine Ohren, seine Rippen, seine Nieren ...

»Hören Sie auf!« Gasteins heisere Stimme neben ihm.

Aus den Augenwinkeln sah Wolf, wie der Lehrer das Hosenbein des Maskierten umklammerte, sah, wie der taumelte, sah den kurzen Lauf des Gewehrs senkrecht nach unten in sein Blickfeld stoßen und auf Gasteins Kopf zielen.

Wolf schloss die Augen. Sein Körper krampfte sich zusammen, als der Schuss fiel.

Panik raste seine Beine hinunter, dann hinauf bis in seine Kopfhaut und wieder zurück in die Zehenspitzen.

Der Junge spürte nichts mehr - nicht seine schmerzenden Rippen, nicht den kalten Stein an seiner Stirn, nicht, wie sich sein Darm und seine Blase leerten.

Er sah auch nicht, wie der Maskierte dem Kassierer fluchend die Plastiktüte mit Geld entriss und aus der Bank stürmte.

Endlose Minuten später drang das sich nähernde Signalhorn der Gendarmerie in sein Bewusstsein. Und das Schluchzen der jungen Frau über ihm. Zitternd hob Wolf den Kopf.

Die Frau stand direkt vor ihm, beide Hände auf den Mund gepresst. Ihre tränenverhangenen Augen blickten nicht zu Wolf herunter, sondern zu Gastein.

Der Kopf des Lehrers lag in einer Blutlache. Sein Mund öffnete sich alle vier, fünf Sekunden, und er schnappte nach Luft. Sein Körper bäumte sich immer leicht auf dabei.

Der Kassierer kniete neben ihm. »Heilige Mutter Gottes«, flüsterte er immer wieder. »Heilige Mutter Gottes ...«

Wolf hörte sein Herz durch seine Brust galoppieren, als hätte es sich losgerissen. Sein Unterkiefer schien sich ebenfalls zu verselbstständigen, denn seine Zähne schlugen klappernd aufeinander. Die Gestalt des sterbenden Lehrers verschwamm vor seinen Augen.

Die Intervalle zwischen den schnappenden Atemzügen des Angeschossenen dehnten sich mehr und mehr. Während draußen Bremsen quietschten und Autotüren knallten, zuckte Gasteins Körper zum letzten Mal ...

Spät am Abend brachte ihn ein Polizeiwagen aus der Klinik nach Hause. Seine Schwestern und seine Eltern warteten vor dem Eingang des hell erleuchteten Fachwerkhauses. Und fast zwei Dutzend andere Bewohner des kleinen Bergbauerndorfes.

Im Schein der Außenbeleuchtung erkannte Wolf die glitzernden Spuren zwischen den Bartstoppeln seines Vaters. Nie zuvor hatte er ihn weinen gesehen.

Sie umringten ihn wie eine schützende Eskorte und führten ihn ins Haus.

Drei Tage lang sprach der Junge kein Wort. Stumm hockte er auf der Bank des großen Kachelofens und starrte vor sich hin. Er fand keine Worte, um das zu beschreiben, was er mit hatte ansehen müssen - große Pupillen in den Sehschlitzen einer schwarzen Wollmütze, ein Schweißfilm auf einer Oberlippe, einen sich gierig öffnenden Mund, das letzte Aufbäumen eines Sterbenden ...

Als er nach drei Wochen zum ersten Mal wieder das Haus verließ, begleitete ihn seine älteste Schwester hinunter in die Stadt. Mit zwei großen Paketen kehrten sie Stunden später zurück. Wolfs Herz klopfte, als der >Commodore< endlich auf seinem Schreibtisch thronte.

Von diesem Tag an ging Wolf wieder zur Schule. Äußerlich nahm sein Leben den gewohnten Gang. Abgesehen davon, dass er fast seine gesamte Freizeit vor dem Computer verbrachte.

Oft stand sein Vater außen an seiner Zimmertür und lauschte dem Klappern der Tastatur.

»Weißt du eigentlich schon, was du später einmal beruflich machen willst?«, fragte ihn eines Tages der Psychiater, der ihn in den zwei Jahren nach dem Banküberfall behandeln musste.

»Ja, das weiß ich«, antwortete Wolf, »das weiß ich sogar ganz genau.«

Er blickte in die fragenden Augen des Arztes und schwieg.

Die Stimme der Rache: 4 besondere Krimis

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