Читать книгу Schwertmeister der Magie: Drei Fantasy Sagas auf 2500 Seiten - Alfred Bekker - Страница 45

Kapitel 18: Eiswinde

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Die Monate gingen dahin, und die Blätter wurden golden. Ein eisiger Wind blies aus Nordwesten und fegte sie von den Bäumen, und immer höhere Wellen schlugen gegen die Umfassungsmauern des Ordenshafens.

Die Neuigkeiten vom Heiligreichstag verbreiteten sich überall und eilten den Herolden, die sie offiziell verkünden sollten, voraus. Hochmeister Aberian hatte die ganze Zeit über in Estis geweilt und an den Beratungen und Abstimmungen teilgenommen, hüllte sich aber in Schweigen über den genauen Hergang der Ereignisse.

Es war offenbar hoch hergegangen auf der Versammlung der Reichsfürsten. Und es hatte ein Abstimmungspatt gegeben, als Kaiser Corach die Nachfolge für seinen im Übrigen noch ungeborenen Sohn sichern wollte. Damit war sein Plan fürs Erste gescheitert.

Und gescheitert war wohl auch sein Gegenangriff auf seinen ärgsten Konkurrenten, den Herzog von Eldosien, der, da er in Personalunion zwei weitere Herzogtümer regierte, allein schon das dreifache Stimmengewicht jedes andern Fürsten besaß. Corach hatte den Heiligreichstag aufgefordert, ein altes Gesetz wieder anzuwenden, das derartige Herrschersysteme verbot. Wäre es wieder eingeführt worden, hätten sich die Stimmenverhältnisse auf dem Heiligreichstag zu seinem Gunsten verschoben, und für kurze Zeit hatte wohl die Hoffnung bestanden, die Herzöge von Garilanien und der Dreilande zum Seitenwechsel bewegen zu können, indem Corach ihre Hofverschuldungen übernahm. Letztlich war es dazu aber nicht gekommen, und es wurde gemunkelt, dass sich der Herzog von Eldosien unter der Hand als noch zahlungskräftiger erwiesen hatte als das Kaiserhaus.

Damit blieb im Heiligen Reich alles beim Alten. Wie Hochmeister Aberian das Ergebnis der Versammlung in Estia beurteilte, ließ er zumindest öffentlich nicht erkennen. Vielleicht äußerte er sich dazu im Entscheidungskonvent, aber davon drang nichts nach außen.

Gorian war allerdings aufgefallen, dass Aberian während der Zeit des Heiligreichstags offenbar täglich zischen Estoria und der Ordensburg hin- und herpendelte. Natürlich benutzte er dabei die Schattenpfade. Wenn Gorian in der Früh das erste Licht des Tages nutzte, um auf dem Südturm der inneren Burg in alt-nemorischen Schriften zu lesen und sich die Formeln und Vokabeln in all ihren manchmal dutzendfach verschiedenen Bedeutungsnuancen einzuprägen, sah er den Hochmeister als Wolke aus dunklem Rauch durch die Wände der Hochmeisterkanzlei dringen. Jemand ohne eine genügend große magische Begabung hätte ihn gar nicht bemerkt, und auch für Gorian verflüchtigte sich diese Wolke stets nach wenigen Augenblicken. Aber er wusste inzwischen so viel über die Kunst der Schattenpfadgängerei, dass er solche Phänomene erkennen konnte, und so war für ihn ein Schattenpfadgänger, der sich gerade entstofflicht hatte, mittlerweile länger sichtbar als für die meisten anderen Betrachter, wenn auch nur als dunkler, rauchartiger Schemen.

Gorian hatte sich angewöhnt, die täglichen Schattenpfadgänge des Hochmeisters zur eigenen Übung und Vervollkommnung bei der Erkennung von Schattenpfaden zu nutzen. Er konzentrierte seine Kräfte darauf, und als der Heiligreichstag zu Ende war, vermochte er dem Schattenpfadgang des Hochmeisters fast eine halbe Meile weit geistig zu folgen. Und am späten Abend, wenn oft schon der Mond vom Himmel schien und sich der Sternenhimmel wie ein Lichtermeer über Gontland wölbte, erkannte er oft bereits im Voraus, wann Aberian zurückkehren würde.

Manchmal verstofflichte sich der Hochmeister auch mitten im inneren Burghof, an anderen Tagen führte ihn sein Schattenpfad auf direktem Weg in die Kanzlei oder gar in die Kathedrale, wo sein Kunstwerk inzwischen nicht nur vollständig wiederhergestellt, sondern auch für gefahrlos befunden worden war, sodass auch Schülern der Zutritt zu dem heiligen Gebäude wieder erlaubt war.

„Ich möchte, dass Ihr bald einen Schattenpfadgang mit mir unternehmt, ehrwürdiger Hochmeister“, wandte sich Gorian irgendwann in den spürbar frostiger werdenden Tagen nach Ende des Heiligreichstags an den Hochmeister.

„Du nimmst noch nicht lange am Unterricht in Schattenpfadgeherei teil, und in letzter Zeit haben mich meine Verpflichtungen auf dem Heiligreichstag auch von meinen Lehrverpflichtungen abgehalten“, gab Aberian zu bedenken. „Wenn man dann noch mit einrechnet, dass Fortschritte im Haus der Schatten ohnehin immer erst zu späteren Stadium der Ausbildung erreicht werden als in anderen Ordenshäusern, muss man resümierend einfach feststellen, dass du auf keinen Fall bereits weit genug sein kannst, um einigermaßen gefahrlos einen Schattenpfadgang zu absolvieren.“

„Ich habe meine Übungen auch während Eurer Abwesenheit gewissenhaft durchgeführt“, sagte Gorian. „Und ich fühle mich stark genug.“

„Hast du schon davon gehört, dass sich bei der Schattenpfadgängerei auch schon Kandidaten in den unzähligen Verzweigungen der Schattenpfade verloren haben? Kannst du dir vorstellen, wie es ist, in der Weite des Polyversums auf einer der unzähligen Welten zu stranden, vielleicht auf einer, in der kaum etwas anders existiert außer du selbst, sodass du dann jämmerlich zugrunde gehst?“

„Ich habe vieles gelesen über die Gefahren, denen sich jeder Schattenpfadgänger aussetzt“, erklärte Gorian. „Und ich bin bereit, die Risiken auf mich zu nehmen.“

„Und ich muss es dir nach wie vor verweigern.“

Gorian schwieg zunächst. „Ich hatte ehrlich gehofft, etwas schnellere Fortschritte in Eurem Haus machen zu können“, gestand er dann.

„Es tut mir leid, wenn ich dich enttäuschen muss. Aber jede andere Entscheidung wäre unverantwortlich von mir, und ich dürfte nicht länger ein Lehrer des Ordens sein, würde ich meine Schüler so fahrlässig in Gefahr bringen.“

„Ich dachte, Ihr könntet mich darin unterweisen, wie ich diese Kräfte unter Kontrolle halte und verhindere, dass ich irgendwo im Polyversum strande oder vorzeitig zu einem alten Mann werde.“

„Das werde ich auch“, versprach Aberian in einem Tonfall, der Gorian deutlich machte, dass diese Unterhaltung beendet war.

––––––––




„Schau her“, sagte Gorian in einer frostkalten Nacht, die er auf dem Südturm der Ordensburg verbrachte, um dort für seinen Unterricht im Haus der Seher Pflichtübungen zur Bestimmung der Gestirne durchzuführen. Sheera leistete ihm dabei Gesellschaft. Ein belebendes Getränk aus dem Bestand der Heiltränke, deren Zubereitung und magische Veredelung Sheera bereits erlernt hatte, verhinderte, dass sie beide einschliefen. Um das Bedürfnis nach Schlaf zurückzudrängen, war dies allemal besser, als die Alte Kraft anzuwenden, so wie Gorian es während seiner Flucht vor den Frostkriegern getan hatte.

Gorian hielt die Hände mit den Kanten in einem rechten Winkel gegeneinander gelegt und sah in die offenen Handflächen, von denen ein immer stärker werdendes Leuchten ausging, das in sein Gesicht strahlte. „Komm, sieh hinein!“, forderte er von Sheera.

„Das blendet.“

„Tu es trotzdem!“

„Gorian, das ist etwas, das zur Ausbildung der Magier und Seher gehört.“

„Ja und? Ich habe es von Meister Thondaril gelernt. Man kann dadurch Botschaften, Gedanken und Bilder über unendlich große Entfernungen hinweg übertragen.“

„Ich bin weder Seherin noch Magierin.“

„Das macht nichts. Du solltest es trotzdem lernen, dann könnten wir stets in Verbindung bleiben, selbst wenn wir uns an weit voneinander entfernten Orten befinden. Selbst manche Schwertmeister nutzen diese Kunst, sofern sie die nötige Begabung dazu haben, denn es ist einfach praktisch. Also los!“

Sie überwand sich, sah in das grell gewordene Licht, das von seinen Handflächen ausstrahlte, und wandte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht ab. „Ah, das war unangenehm!“

„Du gewöhnst dich daran.“

„Nein, das glaube ich nicht. Mit wem stehst du denn in Verbindung?“

Gorian sah auf. Das Licht in seinen Händen wurde schwächer und erlosch schließlich. „Mit einem ehemaligen Schüler des Seher-Hauses. Er hat vor einem Monat die Prüfung bestanden und wurde ins Herzogtum Ameer abberufen. Du kennst ihn vielleicht. Er heißt Matos aus Pantanela.“

Das Königreich Pantanela lag östlich von Nemorien an der Mittlinger See, einem Nebenarm des Meeres von Ost-Erdenrund. Dieses Menschenreich, das im Osten an das Ogerland grenzte, gehörte nicht zum Heiligen Reich, doch Kaiser Corach und der König von Pantanela betrachteten sich traditionell als Verbündete. Es hatte unter Corach I. sogar einmal Verhandlungen darüber gegeben, ob sich Pantanela nicht dem Schutz des Heiligen Reichs unterstellen und als stimmberechtigtes Mitglied seinem Verbund beitreten sollte, aber das war am Einspruch der Priesterschaft durch den Bischof von Atrantis gescheitert. In Pantanela war der Glaube an den Verborgenen Gott nämlich Religion einer Minderheit, und der König weigerte sich daher, sie als einzig gültige Staatsreligion einzuführen, was nach Auffassung der Priesterschaft aber Voraussetzung für einen Beitritt war.

Dass Matos kein gebürtiger Heiligreicher war, hatte ihn jedoch keineswegs daran gehindert, Mitglied des Ordens zu werden. Gorian war zu Ohren gekommen, dass die Talentsucher des Ordens sogar in den versprengtesten Menschendörfern des Ogerlandes noch nach geeigneten Bewerbern suchten.

„In Ameer ist es jetzt sicher bereits schon Winter“, meinte Sheera.

„Ja. Aber das ist nicht das Schlimmste.“

„Wovon sprichst du?“

„Matos hat mir berichtet, dass die Frostkrieger inzwischen ganz Orxanien bis zur ameerischen Grenze eingenommen haben, und es könnte sein, dass sie schon sehr bald Ameer angreifen werden.“

„Davon habe ich hier niemanden etwas sagen hören. Hätte Hebestis uns im Heilerunterricht nicht darüber informiert? Oder der Hochmeister?“

„Ich glaube, dass die Lage einfach falsch eingeschätzt wird“, befürchtete Gorian. „Vielleicht ist man im Moment an schlechten Nachrichten auch schlichtweg nicht interessiert und versucht, ihre Verbreitung zu unterdrücken, wenn das irgendwie möglich ist.“

„Du vertraust Matos aus Pantanela mehr als dem Hochmeister?“

„Er ist dort, direkt vor Ort.“ Er zuckte mit den Schultern. „Wie auch immer, es ist jedenfalls eine tolle Sache, durch das Handlichtlesen mit jemanden, der sich weit entfernt aufhält, in Verbindung treten zu können.“

Sheera lächelte. „Ich nehme an, Meister Thondaril hat dir das Handlichtlesen vor allem deshalb beigebracht, damit er dich auch noch ermahnen kann, wenn du mal ein paar Meilen von der Ordensburg weg bist.“

Gorian erwiderte ihr Lächeln. „Ich fürchte, da hast du recht. Aber in so einem Fall ignoriere ich dann einfach die Gedankenbotschaft, die der Verbindung vorausgeht. Schließlich bin ich noch Schüler, und wer kann da was Böses vermuten, wenn ich vielleicht mal einen Gedankenruf schlichtweg nicht bemerke.“

„Das lass aber niemals Thondaril hören!“

„Ich werde es in seiner Gegenwart nicht einmal denken“, versicherte Gorian.

Ihre Blicke verschmolzen für einen Moment miteinander. Das Mondlicht spiegelte sich in ihren Augen. Er nahm ihre Hände, öffnete sie und legte sie mit den Handkanten gegeneinander, so wie er selbst es vorhin getan hatte.

„Versuch es doch einfach mal. Sammle etwas Alte Kraft, wie du es – sagen wir mal - bei einem schwer erkälteten Mitschüler machen würdest, um ihn zu heilen, und dann ...“

„Du Narr! Denkst du wirklich, wir benötigen das, um miteinander in Verbindung zu bleiben, wenn wir mal nicht am selben Ort sind?“, erreichten ihn plötzlich Sheeras Gedanken. Sie waren so intensiv, dass er im ersten Augenblick schon glaubte, die Worte gehört zu haben. Aber das konnte nicht sein. Sie hatte nicht gesprochen, ihre Lippen hatten sich nicht bewegt. Das taten sie erst jetzt, als sie ihn anlächelte. „Wir werden immer in Verbindung sein, Gorian. Und dabei wird die Entfernung keine Rolle spielen. Und so ein billiger Seher-Trick ...“

Ein Ruck durchfuhr Gorian. Er wirkte auf einmal angestrengt. Seine Augen wurden für einen kurzen Moment vollkommen schwarz, und Sheera sah ihn überrascht an. „Was ist los? Du siehst aus wie ein Tier, das Witterung aufgenommen hat?“

Gorian antwortete ihr nicht gleich und ging stattdessen zu den Zinnen, von denen man in den inneren Burghof blicken konnte. Er sah trotz Dunkelheit einen Wirbel aus schwarzem Rauch vom Hafen her zur Burg hinaufschnellen. „Da kehrt er also zurück“, murmelte er.

„Kannst du mir mal erklären, wovon du gerade sprichst?“, verlangte Sheera zu wissen. Sie war neben ihn getreten und sah angestrengt in die Dunkelheit auf der Suche nach dem, was Gorian so alarmiert haben mochte.

„Tut mir leid, ich komme dir im Moment wohl ziemlich seltsam vor.“

„Erklär es mir einfach.“

„Siehst du den schwarzen Rauch?“

„Gorian, es ist dunkel!“

„Vielleicht ist sehen auch nicht das richtige Wort. Es ist ein Schattenpfad, und ich habe inzwischen gelernt, sie zu erkennen. Und ich habe gerade bemerkt, wie Hochmeister Aberian zurückgekehrt ist. Heute Morgen brach er bei Sonnenaufgang auf, jetzt kehrt er zurück. Ich kann seinen Schattenpfad ein Stück weit verfolgen, und habe erkannt, in welche Richtung er aufgebrochen ist. Es war Norden.“

„Na und? Vielleicht war seine Anwesenheit in Ameer oder auf den Mittlinger Inseln vonnöten. Ich weiß nicht, was daran so besonders sein soll.“

„Er begibt sich sehr häufig in den Norden. Und er informiert niemanden darüber. Ich habe Meister Thondaril gefragt, und er wusste auch nicht, wohin sich der Hochmeister genau begibt.“

„Muss ein Hochmeister denn jedem darüber Rechenschaft ablegen, wohin er entschwindet? Das würdest du auch nicht tun, wenn du die Schattenpfade beschreiten könntest.“

„Ich sage nur, was mir aufgefallen ist, Sheera. Hinzu kommt noch, dass er seine Pflichten als Lehrer durch seine häufigen Ausflüge vernachlässigt. Ich bin nicht der einzige Schüler im Haus der Schatten, der dieser Meinung ist.“

––––––––




Der Winter kam spät in diesem Jahr und wollte gar nicht mehr enden. Ein Eissturm fegte von Ameer her über den Norden des Estlinger Landes, das Gontland und ganz Nemorien. Innerhalb von Tagen war die Ordensburg tief verschneit, und die Temperaturen sanken so sehr, dass selbst die Hartgesottensten unter den Schülern mithilfe ihrer Magie die ansonsten unerreichbaren Fensterläden ihrer Zellen schlossen. Der Wind war eisig kalt und die Schüler verließen die Ordensburg nur wenn unbedingt nötig.

In einer dieser Nächte, in denen sich ein sternenklarer Himmel über Gontland wölbte, erwachte Gorian, vor Kälte zitternd, und stellte fest, dass der Fensterladen, den er mittels der Alten Kraft geschlossen hatte, weit offen stand.

In der hohen glaslosen Öffnung saß ein dunkler Schatten.

Es war ein katzengroßes Wesen, das nur in Umrissen zu erkennen war. Das Mondlicht wurde von seiner Haut regelrecht verschluckt oder von was auch immer seinen Körper umgab.

Es gab ein Fauchen von sich, dann erreichte Gorian ein Schwall von Gedanken, der so wirr war, dass er nicht einem einzigen davon eine klare Bedeutung zumessen konnte. Aber das war im Augenblick auch gar nicht so wichtig, denn Gorian erkannte an der Art dieser Gedanken sofort, wessen Geist sie ihm schickte. Die Merkmale waren einfach zu charakteristisch.

„Ar-Don!“, entfuhr es ihm.

Das Wesen änderte daraufhin seine Gestalt. Es entfaltete recht große, fledermausartige Flügel, seine Färbung wandelte sich von dem extrem lichtschluckenden Schwarz in einen purpurnen Ton, und die steinerne Oberflächenstruktur des Gargoyle wurde unsichtbar. Er schien aus seinem Inneren heraus zu leuchten und hatte Ähnlichkeit mit einer glühenden Statue, deren Gestein aufgeschmolzen war, aber dennoch die Form behalten hatte.

Erneut fauchte das Wesen, und wieder erreichte Gorian ein Strom von Gedanken. Sie waren einfach zu fremdartig, als dass ein menschlicher Geist sie hätte erfassen können, aber immerhin glaubte Gorian darin so etwas wie eine tiefe innere Verbundenheit zu erkennen.

Eine Art von Verbundenheit, von der er sich jedoch nicht sicher war, ob darin eine eher freundliche oder gar eine zerstörerische Gesinnung zum Ausdruck kam.

Vielleicht beides, ging es ihm durch den Kopf.

„Was willst du?“, fragte er laut, da er das Gefühl hatte, seine eigenen Gedanken auf diese Weise klarere Form geben zu können. „Warum bist du mir gefolgt – und hast mich andererseits in dem Augenblick verlassen, als ich deiner Hilfe bedurfte?“

Die Antwort bestand aus einem abermaligen Fauchen, und diesmal war es so laut und durchdringend, dass Gorian schon fürchtete, es würde jemanden aus dem Schlaf reißen. Allein die fremdartigen Gedanken dieser kleinen drachenhaften Bestie reichten vielleicht schon aus, um Meister Thondaril zu wecken, von dem man annehmen durfte, dass er unverzüglich gegen dieses Wesen vorging, so wie er es in Segantia schon einmal getan hatte. Aber das wollte Gorian im Augenblick vermeiden, um endlich mehr darüber zu erfahren, welche Ziele der Gargoyle verfolgte.

„Warum hast du mich in Segantia angegriffen?“, fragte Gorian, doch abermals bestand die Antwort in einem durchdringenden Fauchen und einem Strom wirrer Gedanken. Doch diesmal konnte Gorian immerhin einige etwas klarere Bilder in diesen Gedankenbotschaften erkennen. Da war der Tempel der Alten Götter ... Frogyrr ... die leblos am Boden liegenden Frostkrieger ... Das alles verband sich zu einem verdichteten Bildergemenge.

„Willst du mich daran erinnern, dass du mir am Tempel der Alten Götter geholfen hast?“, dachte Gorian intensiv. „Dann entsinne dich aber auch daran, wer dich von dem Bann befreite!“

Das Fauchen, das darauf folgte, war relativ verhalten. Der Gargoyle senkte den Kopf, seine purpurfarbene, wie glühend wirkende Körperoberfläche veränderte sich erneut, und immer größere Teile davon schimmerten auf einmal grünlich.

„Mir geholfen ... dir helfen ... und folgen“, erreichte Gorian ein klarerer Gedanke.

Dann schwang sich Ar-Don empor und flog in die Nacht davon.

Aber Gorian war überzeugt davon, ihm nicht zum letzten Mal begegnet zu sein.

Schlaf fand er in jener Nacht nicht mehr.

––––––––




Gorian wurde am nächsten Tag zu Meister Thondaril gerufen. Diesem stand aufgrund seiner zweifachen Meisterschaft sowohl im Haus des Schwertes als auch im Haus der Magie eine Meisterzelle zu, doch Thondaril nutzte nur jene im Schwert-Haus.

Dass er Gorian in seiner Meisterzelle empfing, die zwar deutlich größer als die Schülerzellen, aber mit kaum mehr Annehmlichkeiten ausgestattet war, fand Gorian etwas ungewöhnlich. Aber dann bemerkte er die Steine in jeder der vier Ecken des Raums, dessen einziger Wandschmuck aus einigen Regalen bestand. In ihnen waren Bücher und Schriftrollen eingeordnet, die sich entweder in Thondarils Privatbesitz befanden oder aber von ihm häufig gebraucht wurden.

Die Steine in den Ecken mit ihren magischen Gravuren hatten sicherlich eine ähnliche Funktion wie jene Steine, mit denen Gorians Vater seinen Hof umgrenzt hatte. Ein magischer Schutz, erkannte Gorian. Aber weshalb war der hier, auf der Ordensburg, notwendig? Er hatte bisher angenommen, dass die Magiemeister dafür Sorge trugen, dass dieser Ort ausreichend geschützt war – mindestens so gut wie Nhorich das bei seinem Hof getan hatte. Schließlich war Gorians Vater lediglich Schwertmeister gewesen und in allem, was mit der reinen Anwendung von Magie zu tun hatte, sicherlich einem ausgebildeten Magiemeister an Kenntnissen und Fähigkeiten weit unterlegen.

Oder kam die Bedrohung, vor der sich Thondaril auf diese Weise zu schützen versuchte, aus dem Inneren der Burg? Wollte er verhindern, dass seine Gespräche und Gedanken belauscht wurden?

Thondaril wies auf den einzigen Stuhl im Raum. „Setz dich, Gorian“, forderte er. „Wir haben einiges zu besprechen.“

Sein Tonfall war streng und bestimmend, und der Blick des zweifachen Ordensmeisters war noch ernster, als man es ohnehin von ihm gewohnt war.

„Du hattest Besuch.“ Es war eine Feststellung, keine Frage.

„Meint Ihr ...“

„Dieses Wesen, dessen Namen du nicht aussprechen solltest!“

Gorian schluckte. Woher auch immer Thondaril davon wissen mochte, Gorian zweifelte nicht daran, dass einem Magiemeister Möglichkeiten genug zur Verfügung standen, so etwas herauszufinden. Und so hatte es kaum Sinn, vor Thondaril irgendetwas verheimlichen zu wollen.

„Er war plötzlich da“, sagte er. „Wenn er mich hätte töten wollen, hatte er zweifellos die Gelegenheit dazu.“

„Es“, sagte Thondaril korrigierend, „nicht er. Es ist ein Tier, keine Person. Ein Werkzeug, das einem abgerichteten Kampfhund gleicht, wie er bei den Zuhältern von Segantia in Mode gekommen sein soll, um sich gegen Banden von Oger-Schlägern zu behaupten.“

„Nein“, widersprach Gorian. „Er ist Ar-Don, und er ist sehr wohl eine Person! Vielleicht auch mehrere, das ist mir nicht so ganz klar. Doch eins weiß ich jetzt: Er ist mir gegenüber nicht feindlich gesonnen! Der Vorfall in Segantia ...“

„... bei dem du fast gestorben wärst!“

„... war ein Missverständnis Eurerseits, wenn Ihr mir diese gewiss respektlos klingende Bemerkung verzeihen mögt.“

„Diese Bemerkung ist respektlos – und außerdem auch falsch! Und wenn du schon nicht auf dein eigenes Leben achten magst, dann sollte dir wenigstens das Schicksal aller anderen in der Burg nicht gleichgültig sein!“

Gorian runzelte die Stirn. „Wie meint Ihr das?“, fragte er verwundert. „Ar-Don hat niemanden angegriffen.“

„Sollte er noch unter Morygors Einfluss stehen, ist er ein idealer Spion. Schon mal darüber nachgedacht? Die Ordensburg ist durch magische Steine mit einem Zauberfeld umgeben, das sie schützt.“

„So ähnlich, wie mein Vater es mit unserem Hof getan hat.“

„Dann kannst du dir wohl auch den Grund denken, weshalb dieses Wesen den Zauberbann durchdringen konnte. Es gibt eine Verbindung zu etwas, das sich innerhalb des geschützten Bereichs befindet – nämlich zu dir!“ Thondaril atmete tief durch. Er schnallte sein Schwert ab und hängte es an einen dafür vorgesehenen Haken an der Wand. Dann drehte er sich um und verschränkte die Arme vor der Brust. „Stell dir vor, dieses Wesen, dessen Namen ich nicht aussprechen möchte, hat ein paar Dinge von hier mitgenommen. Steine, kleine Gegenstände ... Nehmen wir weiter an, diese Kreatur tut das jede Nacht. Dann hätte es sehr schnell genug gesammelt, um Hunderten von Frostkriegern das Eindringen in die Burg zu ermöglichen. Davon abgesehen wäre es sicherlich auch keine Schwierigkeit für so eine Kreatur, auszukundschaften, wo es Zugänge wie etwa geheime Fluchtgänge gibt. Ich sage das alles nicht ohne Grund, Gorian. Der große Krieg ...“

„Gibt es Zeichen dafür, dass Morygor erneut zum Schlag ausholt?“, fiel ihm Gorian ungeduldig ins Wort.

„Der Krieg hat längst begonnen“, erklärte Thondaril. „Auch wenn das hier im Heiligen Reich bisher noch kaum jemand zur Kenntnis genommen hat. Was ich dir jetzt sage, ist eigentlich nicht für die Ohren eines Schülers bestimmt. Aber ich sage es dir trotzdem, denn es ist ungewiss, ob ich andernfalls noch Gelegenheit dazu haben werde.“

„Mit Verlaub, wie meint Ihr das, Meister Thondaril?“

„Ich werde in Kürze nach Norden reisen, so wie fast alle anderen Meister. Es wird allenfalls noch ein Notunterricht stattfinden können, denn jetzt werden alle Ordensmeister im Kampf gegen den Feind gebraucht – oder als Heiler zur Versorgung der Verwundeten, von denen es schon jetzt viel zu viele gibt. Du hast vor einiger Zeit mir gegenüber erwähnt, dass du bemerkt hast, dass sich Hochmeister Aberian häufiger nordwärts begibt.“

„Es hat mich ... irritiert“, gestand Gorian.

„Aber dir wird aufgefallen sein, dass sich schon jetzt kaum noch Schattenmeister hier in der Burg aufhalten.“

„Das ist richtig.“

„Sie sind schon seit geraumer Zeit als Kundschafter in jenen Gebieten unterwegs, die das Frostreich bereits vereinnahmt hat. Dennoch kommt der Hochmeister nicht umhin, sich selbst ein Bild von der Lage zu machen. Und die ist fürwahr schlimm.“

„Ich hatte über das Handlichtlesen Verbindung mit einem ehemaligen Schüler namens Matos, der gerade erst zum Meister aufgestiegen ist“, sagte Gorian. „Aber schon seit einer ganzen Weile bekomme ich keine Verbindung mehr zu ihm.“

„Ich fürchte, das wird dir auch nie wieder gelingen – es sei denn, du brächtest es fertig, dich mit seiner Seele im Jenseits zu verbinden. Er gehörte zu einem Trupp, der magische Befestigungen an der Grenze von Ameer anlegen sollte. Der Trupp geriet in einen Hinterhalt und wurde bis auf den letzten Mann niedergemacht. Man fand ihre zerstückelten Leichen.“

Gorian schluckte. „Sie haben sie nicht zu Frostkriegern gemacht?“, fragte Gorian.

Thondaril schüttelte den Kopf. „Morygor braucht keine weiteren Frostkrieger mehr. Er hat eine viel kampfkräftigere Gefolgschaft.“

„Die untoten Orxanier!“

„Ja, die auch. Aber wir wissen inzwischen, dass er das Weltentor in Torheim vor kurzem noch einmal geöffnet hat. Mutige Schattenmeister-Kundschafter haben beobachtet, wie zahllose Kreaturen, die mit den Frostgöttern verwandt sind, durch das Tor geholt wurden. Die Eisleviathane zum Beispiel, gewaltige Lindwürmer, in deren Rachen ganze Armeen von untoten Kriegern transportiert werden können, mehr als selbst in den größten Galeeren des Westreichs. Schon vor Monaten ist Torgard, die letzte freie Stadt an der Torheimer Küste, gefallen, was man hierzulande kaum zur Kenntnis nahm. Unser Kaiser war mehr damit beschäftigt, die Macht seines ungeborenen, ja, sogar noch ungezeugten Sohnes zu sichern, als dass er die Zeit dazu genutzt hätte, das Heilige Reich auch nur ansatzweise für den Sturm zu rüsten, der über uns alle hereinbrechen wird.“

„Wenn Ihr jetzt in den Norden zieht, warum lasst ihr mich Euch nicht begleiten? Ich habe zwar noch keinen Meisterring, aber ich bin sicher auch nicht viel schlechter als viele, die sich Schwertmeister nennen dürfen. Und da die anderen Teile meiner Ausbildung im Moment wohl ohnehin keine größeren Fortschritte machen werden ...“

„Nein.“ Thondaril sagte es auf eine Weise, die keinerlei Widerspruch duldete. Er richtete den Zeigefinger auf Gorian und fixierte ihn mit seinem Blick. „Auch was ich dir jetzt sage, würde ich dir unter normalen Umständen nicht anvertrauen, schon deswegen nicht, damit du den Kopf nicht zu hoch trägst. Aber ich habe mit den Sehern unseres Ordens lange über dich gesprochen. Sie halten es für möglich, dass deine Schicksalslinie tatsächlich die von Morygor kreuzt. Doch selbst, wenn das nie geschehen sollte, glaubt offensichtlich Morygor an diese Möglichkeit, und so wird allein das Wissen um deine Existenz ihn schwächen. Es darf dir also nichts zustoßen. Im Augenblick bist du hier so sicher wie sonst nirgends, aber das könnte sich ändern.“ Thondaril brach ab, und sein Blick wirkte, als wäre er nicht von den Wänden seiner Zelle umgeben und würde in unbestimmte Ferne schauen. „Davon abgesehen könnte es sein, dass sich all die in der Burg zurückgebliebenen Schüler schon sehr bald ihrer eigenen Haut erwehren müssen, nämlich dann, wenn die bevorstehende Schlacht um Ameer verloren gehen sollte.“ Er sagte es so, als bestünde keine Hoffnung mehr, dieses Verhängnis noch abzuwenden.

„Ihr geht davon aus, dass uns die magischen Steine nicht schützen werden?“

Meister Thondaril lachte kurz und heiser auf. „Wenn schon dein verfluchter Gargoyle sie zu überwinden vermag! Nun, ich hoffe das Beste, aber wir müssen auch mit dem Schlimmsten rechnen. Und falls das eintreten sollte, darfst du nicht zögern zu fliehen. Dies ist nicht der Kampf, in dem du dich bewähren sollst. Der kommt – wenn überhaupt – viel später und gegen einen anderen Gegner.“ Thondaril griff unter sein Wams und holte einen versiegelten Umschlag hervor, den er Gorian reichte. „Nimm das an dich.“

„Was ist das?“

„Ein Dokument, das du Meister Yvaan übergibst. Das ist der Gesandte des Ordens in Basileia, der Hauptstadt des Basilisken-Reichs. Ihm kannst du trauen, und er wird dir weiterhelfen.“

„Das Basilisken-Reich?“, wunderte sich Gorian.

„Wenn hier alles zugrunde geht, solltest du dorthin fliehen. Dort wirst du fürs Erste vor Morygors Schergen sicher sein. Und mit Meister Yvaans Hilfe wird es dir vielleicht gelingen, einen neuen Widerstand aufzubauen – mit dem Basilisken-Reich als wichtigstem Verbündeten.“

„Und was ist mit dem Kaiser? Den Herzögen? Das Heilige Reich ist so groß, es wird niemals an einem Tag oder auch nur in einem Jahr überrannt werden.“

„Bist du dir da sicher?“, gab Thondaril zurück. „Ich werde dir jetzt noch etwas sagen, was eigentlich noch nicht für deine Ohren bestimmt ist. Es gibt Hinweise darauf, dass dein Vater Recht gehabt hat.“

„Dass der Orden verderbt ist?“

„Von Verrätern durchsetzt – so wie die Priesterschaft und die Umgebung des Kaisers. Du traust besser niemandem. Jedenfalls nicht über einen gewissen Grad hinaus.“

Gorian deutete auf die magischen Steine in den Ecken der Meisterzelle. „Deshalb also“, murmelte er.

Thondaril nickte. „Denke immer daran, du schadest Morygor am meisten dadurch, dass du am Leben bleibst. Ich habe das vielleicht anfangs nicht klar genug erkannt, aber es scheint so zu sein, dass du das einzige Element der Unsicherheit für Morygor bist, der ansonsten das Geflecht der Schicksalslinien so weit zu überschauen vermag wie sonst niemand. Dies ist nicht der Ort, an dem du zum Helden werden sollst, Gorian. Versprich mir, dass du rechtzeitig fliehen wirst, wenn die Lage aussichtslos wird.“

Gorian zögerte. Irgendwie erschien ihm dieses Versprechen wie ein Verrat an allem, woran er glaubte und was er bisher für wahr gehalten hatte. Einfach so davonzulaufen – das war nicht die Art, wie sich ein angehender Schwertmeister zu verhalten hatte.

Andererseits – wen gab es außer Thondaril, dessen Wort er hätte vertrauen können?

„Ich verspreche es“, behauptete er, aber da war eine innere Stimme, die sofort heftig widersprach. Was er wirklich tun würde, falls eintrat, wofür Meister Thondaril seine Anweisungen gab, wusste Gorian nicht.

Er steckte den Brief ein. Flüchtig bemerkte er, dass magische Zeichen in den Siegelwachs hineingedrückt waren.

„Wenn dieser Gargoyle dich noch einmal heimsucht, dann jag ihn fort, Gorian“, ermahnte ihn Thondaril. „In Segantia warst du vielleicht noch nicht stark genug, das selbst zu tun, aber inzwischen bist du es.“

––––––––




Am nächsten Tag ging Meister Thondaril in der vollen Bewaffnung und mitsamt seinem Streitross an Bord eines Schiffes, das ihn über die Mittlinger See nach Ameer bringen sollte. Mit ihm fuhren noch Dutzende weitere Ordensmeister aus allen Häusern außer dem der Schattenmeister, denn die waren bereits auf anderen, ganz speziellen und nur für sie allein begehbaren Wegen in den Norden gelangt.

Mit vielen anderen Schülern und ganz wenigen zumeist schon sehr alten Meistern, die zurückblieben, standen Gorian, Sheera und Torbas am Hafen und blickten dem auslaufenden Schiff nach. Der Wind stand sehr ungünstig, sodass schon bei der Ausfahrt aus dem Hafenbecken aufwändig gekreuzt werden musste. Zudem war es so kalt, dass selbst mehrere übereinander gezogene Schichten an Kleidung kaum gegen den schneidenden Wind schützten.

Abgesehen von den Schülern und einer Handvoll Meister befanden sich noch die nicht-magisch begabten Männer der Wachmannschaft auf der Ordensburg. Sie standen auf den zahlreichen Wehrgängen, wo sich auch die großen Katapulte befanden, mit denen die Ordensburg auf ganz konventionelle Weise verteidigt werden konnte.

„Ich hoffe, dass sie es schaffen, das Unheil aufzuhalten“, hörte Gorian Sheera sagen, als das Schiff gerade das Tor des Hafenbeckens passierte.



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