Читать книгу Schwertmeister der Magie: Drei Fantasy Sagas auf 2500 Seiten - Alfred Bekker - Страница 47

Kapitel 19: Schlachtenlärm

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In den nächsten Tagen begann es heftig zu schneien, und es wurde so kalt, dass bereits einige gontländischen Bäche, die einem der beiden Seitenarme des Gont zuflossen, mit Eis überzogen waren.

Magiemeister Damaraan, der bereits ungeheuer alt war, hatte die letzten Jahre in selbstgewählter Isolation in einer Zelle im Westturm verbracht. Selbst manch anderer Meister der Ordensburg war sich schon nicht mehr sicher, ob er überhaupt noch am Leben war. Doch nun wurde er vom Meister Rhaawaan reaktiviert und erhielt die Aufgabe, mit jungen Schülern des Magie-Hauses – darunter auch Gorian – die Bannsteine zu prüfen, die die Burg schützen sollten, falls Morygors Heere bis hierher durchbrechen sollten.

Der uralte Meister konnte weder sprechen noch gehen. Darum hockte er in einer schwebenden Sänfte und übermittelte seine Anweisungen nur durch knappe Gedanken. Die Heilerin Hebestis musste ständig in seiner Nähe sein und ihn durch Anwendung ihrer Heilkräfte stärken, damit der Eiswind nicht den letzten Lebensfunken aus seinem Körper blies.

Draußen, auf der fast zwanzig Schritt breiten Mauer, die den Ordenshafen begrenzte, war es besonders kalt und stürmisch. Aber Meister Damaraan ließ sich nichts anmerken. Die Bannsteine waren oft ohne Weiteres gar nicht auszumachen. Erst durch das Murmeln einer Formel öffnete sich der Blick, und sie wurden sichtbar.

Damaraans Augen waren die ganze Zeit über vollkommen schwarz, was anzeigte, dass er seine Kräfte sehr konzentrieren musste, um diese Aufgabe zu vollbringen. Gorian hatte allerdings auch den Eindruck, dass der Magiemeister ihn beobachtete, dass der Blick der ausdruckslosen Augen immer wieder auf ihm ruhte, dem jungen Fünfhaus-Schüler, wie er inzwischen von manchen mit einer Mischung aus Skepsis und Bewunderung genannt wurde.

Als die Bannsteine überprüft und alle in den inneren Burghof zurückgekehrt waren, schickte Meister Damaraan die anderen fort, auch Heilerin Hebestis, was diese sehr irritierte. Dann waren Gorian und er allein – wirklich allein, denn Meister Damaraan webte eine Aura um sie beide, die sie vollkommen abschirmte. Das Rauschen des Meeres, sonst ewige Hintergrundmusik auf der Ordensburg, verstummte ebenso wie das Heulen des eisigen Windes und das Klappern der Taue und Haken an den Masten der im Hafen liegenden Schiffe.

„Du bist es also“, erreichte Gorian ein Gedanke, und angesichts der jeden Laut verschluckenden Stille, die sie beide umgab, war er der Meinung, die einzig angemessene Weise, darauf zu antworten, sei ebenfalls ein Gedanke.

„Was meint Ihr damit?“

„Du bist derjenige, von dem Morygor glaubt, dass er seine Schicksalslinie kreuzen und vielleicht sogar beenden könnte.“

„Das sagen andere. Aber ich werde alles dafür tun, damit genau das geschieht. Schon für meinen toten Vater.“

„Ich bin überzeugt, du wirst mit der Zeit bessere Gründe finden, um deiner Bestimmung zu folgen. Morygor wird dich unbarmherzig jagen. Bis ans Ende der Welt, wenn es sein muss. Solange er glaubt, dass du eine Gefahr für ihn darstellen könntest, wird er auf deinen Tod erpicht sein. Er wird diejenigen töten oder zu Untoten machen, die du liebst, er wird dir selbst im hintersten Winkel Gryphlands oder des Basilisken-Reichs keinen Moment der Ruhe gönnen. Also sei immer vorbereitet.“

Gorian erschrak. „Wie kommt Ihr auf das Basilisken-Reich?“

„Ich habe die beiden Länder genannt, die zu meiner Zeit die entferntesten noch bekannten Länder waren. Mag sein, dass sich dies geändert hat und man neue Reiche entdeckte, während ich im Turm war. Aber das Wichtigste, was ich dir mitteilen will, ist dies: Der Verfolgung durch Morygor kannst du vielleicht entkommen, aber wenn Morygor mit bloßer Gewalt nicht zum Ziel kommt, wird er auf andere Weise versuchen, es zu erreichen. Er wird dir ein Angebot machen, und es wird sehr viel Stärke von dir erfordern, daraufhin nicht auf seine Seite zu wechseln.“

„Was könnte dieses Ungeheuer mir schon bieten?“, gab Gorian zurück.

„Ewiges Leben. Eine scheinbare Rettung vor dem Tod, dem alle sterblichen Wesen ausgeliefert sind. Ich verrate dir jetzt, was niemand weiß: Er schickte auch mir seine Boten, einem alten, kranken Mann, den nur die Kraft des durch Magie unterstützten Willens noch am Leben hält. Morygor dachte wohl, es wäre ein Leichtes, aus mir einen Verräter zu machen, aber wie dir mein körperlicher Zustand beweist, bin ich standhaft geblieben. Viele glauben, Morygor verwandle die Untoten auf schnelle Weise in jene Monstren, die er für sich kämpfen lässt, ganz gleich, ob Frostkrieger, Schattenreiter oder was auch immer. Selbst der Großteil der Meister glaubt das. Und das sollen sie auch weiterhin, weil es sie den Feind genügend fürchten lässt. Aber manche verwandeln sich auch ganz langsam und nur nach und nach in einen Untoten. Das sind diejenigen, die aus freiem Willen auf Morygors Seite überwechseln. Die Münze, in der er bezahlt, heißt mal Leben und mal Macht. Aber immer sind es falsche Münzen, Gorian. Daran solltest du denken.“

„Was auch immer geschieht, ich werde stark bleiben“, versprach Gorian.

„Das sagt sich leicht. Du wirst es irgendwann beweisen müssen.“

Am darauf folgenden Tag rief Meister Rhaawaan eine Versammlung aller Schüler und der wenigen in der Burg verbliebenen Meister ein und gab bekannt, dass Meister Damaraan in der Nacht verstorben sei und nun ewige Ruhe gefunden habe.

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Ein Ritterheer erreichte eine Woche später den Hafen der Ordensburg. Die Ritter - zum Großteil Nemorier und Estlinger - blieben nur eine Nacht, ehe sie an Bord von Schiffen gingen, die sie nach Ameer übersetzen sollten. In ihrem Gefolge befanden sich auch mehrere tausend Oger-Söldner, die wohl in aller Eile angeworben worden waren, denn die grünhäutigen Krieger ordneten sich in ihrem ungehobelten Auftreten kaum der militärischen Disziplin des Ritterheers unter, das von einem kaiserlichen Heerführer namens Entrok befehligt wurde.

Entrok genoss eine gewisse Bekanntheit. Vor zwanzig Jahren war er für den Kaiser gegen den Herzog von Omont gezogen, nachdem dieser den Austritt seines Herzogtums aus dem Heiligen Reich erklärt und sich selbst zum König proklamiert hatte. Eigentlich erhielt Entrok längst eine Veteranenpension und hatte sich auf einem Landgut in Quellanien zur Ruhe gesetzt. Die Tatsache, dass der Kaiser ihn zurückgeholt hatte, zeigte, dass man auch am Hof von Olandor die Lage im Norden inzwischen als sehr ernst einstufte.

Im Morgengrauen entschwanden die Schiffe über die Mittlinger See Richtung Ameer, und es sollten die letzten sein, die es noch schafften, diesen Hafen zu verlassen. Schon zuvor waren durch Handelsschiffe von den Mittlinger Inseln Gerüchte in Umlauf gebracht worden, nach denen der nördliche Teil der Mittlinger See bereits zugefroren sei und sich das Eis mit unnatürlicher Geschwindigkeit ausbreite. Die Schiffe, die von Estia aus regelmäßig die Küste Richtung Osten bis Nemor oder Tania entlangfuhren und dabei normalerweise im Ordenshafen anlegten, blieben aus, weil die Meerenge zwischen den Inseln der Axtlande zugefroren war. Aber auch aus Ameer und von den Mittlinger Inseln kamen keine Schiffe mehr. Über Brieftaubennachrichten erfuhr man auf der Ordensburg, dass die dortigen Häfen bereits vereist waren.

Seit Menschengedenken war die Mittlinger See nicht mehr zugefroren gewesen. Allenfalls an den Küsten des Adhelandes oder Ost-Orxaniens kam es vor, das einzelne Buchten und Häfen von Eis blockiert waren, und in ganz besonders schlimmen Wintern, wie sie seit dem Erscheinen des Schattenbringers immer häufiger auftraten, konnte es selbst an den nördlichen Küstenabschnitten des Herzogtums Ameer zu schweren Vereisungen kommen.

Aber dass sich eine Eisbrücke über die Inseln der Axtlande bildete, war ungewöhnlich. Und viele befürchteten, dass innerhalb kurzer Zeit die gesamte Mittlinger See zufrieren würde.

Brieftauben zu versenden wurde aufgrund der heftigen Winterstürme bald unmöglich, und die einzigen Neuigkeiten erreichten die Ordensburg nun über die des Handlichtlesens mächtigen Ordensmeister.

Im Seher-Haus, wo man sich auch mit der Prognose des Wetters beschäftigte, glaubte man, dass das Eis innerhalb der nächsten zwei bis drei Wochen Gontland erreichen würde. Gorian nahm als Seher-Schüler an der Erstellung dieser Prognose teil. Seinen Einwand, dass Morygor doch die Frostgötter zu seinen Sklaven gemacht habe und deren Magie die Kälte sehr viel schneller heraufbeschwören könne, wies Meister Rhaawaan persönlich zurück.

„Was du sagst, fußt nicht auf seherischer Erkenntnis oder gar einer vertieften Analyse der metamagischen Schwingungen des Polyversums“, erklärte er unmissverständlich, „sondern ist nichts als eine Vermutung.“

Gorian sah ein, dass es sinnlos war, Meister Rhaawaan noch widersprechen zu wollen. Dabei hatte er während der Invasion der Frostkrieger in Thisilien gesehen, welche Auswirkungen schon der Kältehauch eines einzelnen Frostgottes haben konnte. Dabei war Frogyrr, soweit bekannt war, noch nicht einmal einer der mächtigeren unter den Kreaturen gewesen, die einst durch die Weltentore vertrieben worden waren und die Morygor dann in die diesseitige Welt zurückgeholt hatte.

Die nächsten Tage bestätigten Gorians schlimmste Befürchtungen: Das Hafenbecken fror zu. Das Eis ließ sich zunächst mittels Magie wieder auftauen, und die Schüler des Magie-Hauses waren zwei Tage lang damit beschäftigt, den Hafenbereich freizuhalten. Aber dann bildete sich in einer einzigen Nacht eine Eisdecke auf der Mittlinger See, so weit das Auge reichte. Offenbar hatte sich die Eisbrücke über die Inseln der Axtlande derart ausgebreitet, dass nun auch Gontland und ein Teil der nemorischen Küste davon betroffen waren. Der Himmel wurde grau und war von einem schwachen, diffusen Licht erfüllt. Oft war der schwarze Fleck des Schattenbringers deutlicher zu sehen als die Sonne selbst. Wie eine verstofflichte Drohung Morygors schwebte er dort oben und erweckte den Eindruck, größer und dem Erdenrund näher zu sein als jemals zuvor.

Der stetige kalte Nordwind türmte mannshohe Schneeverwehungen auf, und manchmal fragte sich Gorian, ob dahinter vielleicht eine Absicht der Frostgötter steckte, denn sie wirkten oft genug wie aufgeschüttete Rampen, wie geschaffen dafür, die mächtigen Mauern der Ordensburg zu überwinden.

Das Hafentor war vor der völligen Vereisung noch rechtzeitig geschlossen worden, sodass die Hafenmauer nun den ersten Verteidigungsring bildete, sollten über die grauweiße Ebene, die sich bis zum Horizont und darüber hinaus erstreckte, Morygors Horden erscheinen.

Man hörte die noch im Hafen liegenden Schiffe ächzen, die man nicht hatte bergen können, weil sie nicht an Land gezogen werden konnten und aufgrund ihres zu großen Tiefgangs nicht ein paar Meilen den Gont flussaufwärts hatten segeln können. Ihre Planken und selbst die mächtigen Mittelsteven brachen unter der Gewalt des Eises, das immer noch weiter anwuchs.

Gorian versuchte, über das Handlichtlesen mit Meister Thondaril in Verbindung zu treten. Aber das wollte ihm einfach nicht gelingen. Immer wieder starrte er in das Licht in seinen Händen und versuchte, eine Botschaft von ihm zu empfangen. Ein einziges Gedankenbild hätte ihm als Beweis, dass Thondaril noch lebte, genügt. Aber da kam nichts, selbst als Gorian seine Kräfte vollständig darauf konzentrierte.

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Meister Rhaawaan rief ein paar Tage später alle Schüler, Meister und die Kommandanten der Burgwachen in den großen Versammlungsraum. Da Hochmeister Aberian schon seit geraumer Zeit nicht mehr täglich über einen Schattenpfad in die Burg zurückkehrte und es im Augenblick auch nicht möglich war, mit einer genügenden Anzahl von anwesenden Mitgliedern die Beschlussfähigkeit des Entscheidungskonvents herzustellen, hatte Rhaawaan als Stellvertreter des Hochmeisters derzeit nahezu unumschränkte Befehlsgewalt.

Allerdings schien er darüber alles andere als glücklich. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen. Vielleicht hatte er zu viele Nächte damit verbracht zu berechnen, ob das, was für ihn als Seher vom Netz der Schicksalslinien erkennbar war, noch eine Hoffnung auf Rettung zuließ oder nicht.

Gorian wechselte einen kurzen Blick mit Sheera, die neben ihm Platz genommen hatte.

„Gute Nachrichten können das wohl kaum sein“, murmelte Torbas auf der anderen Seite des Tisches, womit er wohl die Empfindungen vieler zum Ausdruck brachte.

„In Ameer hat sich Furchtbares ereignet“, ergriff Meister Rhaawaan das Wort. „Die Truppen unseres Ordens wurden vernichtend geschlagen. Sie konnten den Feind nicht einmal für eine Weile aufhalten, und so kommt die Bedrohung auf breiter Front auf uns zu. Das Eis der Mittlinger See und zwischen den Inseln der Axtlande wird in Kürze zu einer Heerstraße für Morygors Kreaturen werden. Die meisten Schwertmeister sind gefallen, und auch den Meistern der anderen Häuser, die nach Ameer aufgebrochen sindist es kaum besser ergangen. Selbst den Großteil der Schattenmeister dürfte dieses Schicksal ereilt haben, zumindest haben wir zu keinem von ihnen noch Verbindung. Bestenfalls könnte man sie als verschollen bezeichnen. Leider gilt das auch für unseren ehrenwerten Hochmeister Aberian.“

Ein Raunen ging durch die Reihen der Anwesenden.

Meister Rhaawaan machte eine Geste mit der Linken und sprach dazu ein paar Worte in alt-nemorischer Sprache. Seine nächste Handbewegung öffnete eine grauweiße Sphäre, die einer ovalen Blase glich und schließlich aufquoll, und nachdem Rhaawaan einige weitere Worte auf Alt-Nemorisch gesprochen hatte, erschienen dort bewegte Bilder. Horden von untoten Orxaniern waren zu sehen, die sich schlachtend durch die Reihen von heiligreichischen Rittern und Landsknechten schlugen. Unzählige von ihnen sammelten sich am Horizont. Sie ritten auf gezähmten Wollnashörnern, die in den Ländern des Nordens weit verbreitet waren. Es musste eine Wollnashornkavallerie sein, die viele zehntausend Berittene zählte.

„Dies sind die letzten, nicht immer in voller Deutlichkeit übermittelten Handlichtbotschaften von Meister Padril“, erklärte Rhaawaan. „Seither haben wir nichts mehr von ihm empfangen.“

Kurz war noch ein gewaltiger, grauweißer Wurm zu sehen, der sich schlangenähnlich über eine vereiste Ebene bewegte. Anhand der zahlreichen Wollnashornreiter, die ihn begleiteten, konnte man ermessen, wie gewaltig diese Kreatur sein musste.

„Dies ist einer der Leviathane, die Morygor vor kurzem erst durch das Weltentor holte. Sie messen mehr als zwanzig Schiffslängen, und es heißt, dass Dutzende davon ausgesandt wurden.“ Die Sphäre wurde grau, und wenige Augenblicke später war nichts mehr zu sehen, sodass Meister Rhaawaan sie mit einer schnellen Handbewegung und einer dazugehörigen magischen Formel in sich zusammenfallen und verschwinden ließ. „Eine Flucht ist angesichts der Witterungsverhältnisse niemandem anzuraten. Die Bewohner des Gontlands werden sich in der Burg sammeln. Viele sind ohnehin schon hier. Bis auf vierzig Meilen flussaufwärts ist der Gont bereits zugefroren, was noch nie vorgekommen ist, solange die Geschichte dieses Landes aufgezeichnet wird. Wir können nur darauf vertrauen, dass die Bannsteine den Feind aufzuhalten vermögen.“

Was schon an der Grenze von Ameer offenbar nicht geklappt hat!, ging es Gorian verärgert durch den Kopf.

Der Gedanke war so intensiv, dass Meister Rhaawaan ihn wohl mitbekam. Zumindest blickte er Gorian geradewegs an, aber er sagte kein Wort dazu.

Stattdessen erklärte er in feierlichem Ernst: „Es mag sein, dass die große Mehrheit in diesem Raum noch keinen Meisterring in einer regulären Prüfung errungen hat, aber ich fürchte, die Umstände verlangen schon in Kürze wahre Meisterschaft von jedem hier, der dazu das nötige Talent aufbringt.“

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Die nächsten Tage wurden genutzt, um die Burg so gut wie möglich gegen die anrückende Bedrohung zu rüsten. Vor allem mussten die magischen Bannsprüche der Katapult-Munition erneuert werden. Gleichgültig ob Steine, Pech, Eisenkugeln, die mit Triböcken dem Feind entgegengeschleudert wurden, oder die gewaltigen, balkendicken Pfeile, die mit fahrbaren Riesenarmbrüsten – Springalds genannt – verschossen wurden: Die Katapultmunition musste vor dem Einsatz mit magischen Kraftformeln versehen werden, wodurch ihre Wirkung erheblich verstärkt wurde. Vor allem aber konnten die Geschosse dann ohne Problem die Schutzbarriere zwischen den Bannsteinen von innen nach außen durchdringen, ohne dass ihnen eine Verbindung zur Burg anhaftete, die der Feind nutzen konnte, seinerseits die Barriere zu durchdringen.

Unglücklicherweise wurde die Wirkung solcher Munitionsbannsprüche rasch schwächer und musste daher ständig erneuert werden, günstigenfalls erst unmittelbar vor dem Einsatz des entsprechenden Katapults.

Überall wurden zusätzliche Katapulte in Stellung gebracht, und die Magierschüler mussten die Bannsprüche der Munitionsvorräte so schnell wie möglich erneuern. Jabaldo, ein noch sehr junger Magiemeister, dem Damaraan am Tag vor seinem Tod die Prüfung abgenommen hatte, unterwies auch die Schüler der anderen Häuser in der Anwendung dieser Bannsprüche, denn die Fähigkeit dazu hatte im Prinzip jeder, der ein genügend großes magisches Talent mitbrachte. Wenn die Schlacht erst einmal im Gange war, wurde ständiger Nachschub an magisch besprochener Munition gebraucht.

Früher hatte es innerhalb des Ordens sogar ein eigenes Haus der Bannsprecher gegeben, aber das war aufgelöst worden, nachdem sich herausgestellt hatte, dass zahlreiche Bannsprechermeister vom Glauben an den Verborgenen Gott abgefallen waren, woraufhin man die Bannsprecherkunst der Magiemeister-Ausbildung zugeordnet hatte.

Auch unter den Schülern wurden Wachen eingeteilt und Waffen ausgegeben. Nicht nur die angehenden Schwertmeister trugen ihre Klingen ständig bei sich, die sie ansonsten nur zu Übungszwecken verwendeten, auch die Angehörigen der anderen Häuser wurden bewaffnet. Mochte ihre Kampfkraft und ihr Geschick im Umgang mit der Klinge auch nicht an die der zukünftigen Schwertmeister heranreichen, sollten sie sich wenigstens nach Kräften verteidigen können, wenn sie angegriffen wurden.

„Vielleicht ist alles so vorherbestimmt“, meinte Sheera, als sie sich mit Gorian im Morgengrauen auf dem Südturm traf. Seine Geistesübungen hatte er die ganze Zeit über mit eiserner Disziplin fortgeführt. Schließlich litt seine Ausbildung schon genug darunter, dass der Unterricht derzeit nicht mehr fortgesetzt werden konnte. „Es könnte doch sein, dass nun der Augenblick bevorsteht, an dem Morygor dir begegnet.“

„Nein, das glaube ich nicht“, antwortete Gorian. „Morygor führt sein Heer nicht selbst in die Schlacht. Er reitet nicht voran, wie es ein Feldherr wie Entrok tut, von dem niemand weiß, was aus ihm geworden ist. Er sitzt in seiner Frostfeste und schickt seine Schergen aus. Nein, er würde mir nur dann freiwillig gegenübertreten, wenn für ihn kein Risiko damit verbunden ist.“

Sheera legte die Hände aneinander, so als hielte sie ein aufgeschlagenes Buch. Ihre Augen wurden schwarz, dafür begann es in ihren Handflächen zu leuchten. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ich habe das immer wieder geübt“, sagte sie.

„Ich dachte, wir beide hätten das nicht nötig“, antwortete er ihr in Gedanken.

„Ich habe es mir anders überlegt“, erklärte sie. „Wer weiß, wozu es mal nützlich sein kann. Unter uns Heilern ist das Handlichtlesen eigentlich verpönt, denn es gilt als eine Methode, die nur für eine sehr grobe Übertragung von Gedanken und Wissen taugt.“

„Genau dazu wurde diese Magie aber entwickelt“, sagte Gorian und eröffnete ihr dann: „Ich habe es inzwischen auch Torbas beigebracht.“

„Du scheinst wirklich davon auszugehen, dass wir das brauchen.“

„Ganz sicher“, war Gorian überzeugt.

Ein Geräusch ließ sie beide aufhorchen. Es hörte sich an wie fernes Donnergrollen. Seit das Eis die Mittlinger See bedeckte, waren die durchdringenden Laute aufbrechender und sich gegeneinander verschiebender Eisplatten an die Stelle des Meeresrauschens getreten. Sie erinnerten an das Heulen von Seehunden, traten aber nur hin und wieder auf, und Gorian hatte sich einigermaßen daran gewöhnt. Ansonsten herrschte oft über viele Stunden hinweg eine geradezu gespenstische Stille in der schneebedeckten Eiswüste, die die Ordensburg mittlerweile von allen Seiten umgab. Eine Stille, in der nur das Heulen des Windes zu hören war. Inzwischen klapperten auch die Taue nicht mehr gegen die Schiffsmasten, denn sie waren längst gefroren, viele Schiffe durch das Eis zerquetscht und die Masten unter Schneeverwehungen begraben.

So fiel dieses ferne Donnergrollen sofort auf.

Gorian trat an die Zinnen und blickte suchend in die Ferne, und Sheera stellte sich neben ihn. Im schwachen Licht der Morgensonne war zunächst nichts zu erkennen, das eine Gefahr bedeutet hätte. Grauer Dunst zog den nördlichen Horizont entlang und behinderte die Sicht.

Das dumpfe Donnern wurde allmählich lauter, dann tauchte eine breite Front von Wollnashornreitern aus dem Dunst auf, und in ihr Stampfen mischten sich die durchdringenden Schlachtrufe der untoten orxanischen Frostkrieger, die auf den mächtigen Reittieren auf die Ordensburg zustürmten.

„Beim Verborgenen Gott!“, flüsterte Gorian. „Das sind noch viel mehr, als man in Meister Rhaamaans Sphäre erkennen konnte ...“

––––––––




Die Alarmhörner der Wachmannschaften ertönten, und zudem sorgten vorgeschobene und mit den Zeichen der Erkenntnis versehene Bannsteine dafür, dass Meister Rhaawaan sofort geweckt wurde, als der Feind auftauchte. Schon das Vibrieren des Eises, das die Mittlinger See bedeckte, hatte ausgereicht, um diesen magischen Mechanismus auszulösen.

„Ich muss vom Turm runter!“, sagte Gorian.

„Bist du zurzeit irgendwo eingeteilt?“, fragte Sheera.

„Nein. Erst ab Mittag. Aber welche Rolle spielt das jetzt?“

Gorian trug ein warmes Fellwams und gefütterte Hosen, dazu Lederstiefel. Die Sachen stammten aus den Kleiderkammern des Ordens und entsprachen der typischen Untergewandung eines Schülers aus dem Haus der Schwerter. Sein Schwert trug er über den Rücken gegürtet und den Rächer an der Hüfte.

Sheera hingegen war in einem kuttenartigen Gewand gekleidet, das der bei Heilern üblichen Tracht entsprach. In der Scheide an ihrer Hüfte steckte ein leichtes Rapier, denn Meister Rhaawaan hatte für alle ständige Bewaffnung zur Pflicht gemacht. Sie war natürlich im Umgang mit einer solchen Klinge nie ausgebildet worden, und Gorian hatte daher in den letzten Tagen versucht, ihr zumindest ein paar grundlegende Dinge darüber beizubringen. Zum Beispiel, wie man durch einen Kraftschrei die Alte Kraft in das Rapier konzentrierte statt in einen Heilstein, wie Sheera es gewohnt war.

Gorian lief so schnell er konnte die Stufen der Turmtreppe hinab, und Sheera folgte ihm. Sie erreichten den inneren Burghof. Überall liefen Menschen durcheinander. Zumeist waren es Angehörige der Burgwache, aber auch Schwert- und Magieschüler, die zu den Katapulten eilten, für die sie als Munitionsbannsprecher eingeteilt waren.

„He! Scheint so, als würde es jetzt losgehen!“, rief Torbas den beiden zu. Er trug sein Schwert an der Hüfte und versuchte sich einen Harnisch über das dicke Fellwams zu schnallen, der aber dafür zu eng war. Schließlich ließ er ihn einfach zu Boden fallen. „Das Ding lässt einen ja nicht mal atmen“, beschwerte er sich.

„Es ist wichtiger, beweglich zu ein“, meinte Gorian.

„Du musst es wissen. Schließlich hast du schon gegen Frostkrieger gekämpft.“

„Seht nur, sie brechen durch!“, rief in diesem Moment eine heisere Stimme, die Gorian als die von Alrado erkannte, der auf dem Wehrgang des inneren Burghofs stand.

Wenig später standen auch Gorian, Torbas und Sheera an den Zinnen und sahen, was sich abspielte. Die erste Angriffswelle der Wollnashornreiter hatte die Hafenmauer erreicht. Die Katapulte schleuderten magisch besprochene Steine in die heranstürmende Horde. Die Geschosse leuchteten auf, zersprangen, und die aus ihnen heraussprühenden Funken und zuckenden Blitze rissen so manchen Frostkrieger aus dem Sattel. Aber es waren einfach zu viele Angreifer, um sie nur auf diese Weise aufhalten zu können.

Schon warfen die ersten Wollnashornreiter Seilhaken und zogen sich daran an der Hafenmauer empor, um sich anschließend brüllend auf die Mannschaften der Katapulte zu stürzen.

„Was ist mit den Bannsteinen?“, rief Gorian. Kaltes Entsetzen packte ihn, als er sah, dass die magische Barriere überhaupt nichts bewirkte. Es war nicht einmal ein bläulicher Schimmer zu sehen, wenn ein Frostkrieger die unsichtbare Grenze überschritt, so wie es beim Angriff von Frogyrrs Horde auf Nhorichs Hof gewesen war. Ohne auf irgendein magisches Hindernis zu treffen, überwanden die Frostkrieger die Hafenmauer.

Dutzendweise schwangen sie sich von ihren Wollnashörnern an Seilhaken empor. Hier und dort versuchte ein zum Besprechen der Tribock-Munition abgestellter Magieschüler, die Feinde mittels der Alten Kraft zu bekämpfen. Blitze zuckten aus seinen Händen, versengten dem einen oder anderen Untoten den Kopf oder den Waffenarm. Aber die Angreifer waren zu zahlreich.

Innerhalb kurzer Zeit waren die Katapultmannschaften in tödliche und aussichtslose Nahkämpfe verstrickt. Selbst die Schwertschüler, die bereits sehr gut vorauszuahnen vermochten, was ihr Gegner als Nächstes tat, konnten sich kaum ihrer Haut erwehren. Todesschreie gellten, und da kein einziges Katapult mehr abgeschossen wurde, hatten es die Angreifer noch leichter, die Mauern zu überwinden. Die Katapulte des inneren und äußeren Burghofs konnten nicht zum Einsatz gebracht werden, da man unweigerlich die eigenen Leute getroffen hätte.

„Verdammt, was ist mit dem magischen Schutz durch die Bannsteine?“, rief Gorian grimmig.

„Ich weiß nicht, aber für mich sieht das so aus, als hätte jemand alle Bannsteine über Nacht entfernt“, meinte Torbas.

„Es gibt bestimmt einen Zauber, der ihre Schutzwirkung aufhebt“, war Sheera überzeugt.

Inzwischen ergriffen die Verteidiger der Hafenmauer auf breiter Front die Flucht. Die Ordnung löste sich auf, und jeder dachte nur noch daran, das eigene Leben zu retten. Manche waren verletzt.

Die Frostkrieger jedoch machten keinerlei Anstalten, den flüchtenden Menschen zu folgen. Aus gutem Grund, denn dann wären sie ein leichtes Ziel für die Katapulte in der Burg gewesen. Ein paar der untoten Orxanier schleuderten den Flüchtenden Wurfbeile hinterher oder schossen mit Bögen und Armbrüsten auf sie. Andere machten die Katapulte unbrauchbar. Sie übergossen sie mit einer brennbaren Flüssigkeit und zündeten sie an. Grünlich schimmernde Flammen loderten überall dort empor, wo ein Katapult an der Hafenmauer in Stellung gebracht worden war.

Unterdessen hatte man den Flüchtenden das Tor zum äußeren Burghof geöffnet.

„Eine Gedankenbotschaft von Heiler Faroch“, sagte Sheera. „Alle Heiler sollen sich im äußeren Burghof einfinden. Ich muss los.“

„Ich werde mitkommen“, erklärte Torbas. „Und was ist mit dir?“, fragte er Gorian.

„Das alles riecht nach Verrat und Sabotage“, sagte dieser. „Ich will wissen, was da geschehen ist. Beim Verborgenen Gott, ich war dabei, als wir unter Meister Damaraans Anleitung die Bannsteine überprüft und die Zaubersprüche erneuert haben!“ Er musste an das denken, was ihm Damaraan kurz vor seinem Tod noch anvertraut hatte. Er hatte den jungen Hoffnungsträger des Ordens dazu ermutigt, stark zu bleiben und kein Verräter zu werden, auch wenn das Angebot noch so verlockend sein sollte.

Es schien, als hätte irgendjemand in der Burg nicht die nötige Stärke besessen, den leeren Versprechungen des Frostherrschers zu widerstehen.

„Was hast du vor?“, fragte Torbas.

„Geht nur. Ich werde Meister Rhaawaan suchen“, sagte Gorian. „Es wundert mich, dass er hier nirgends zu sehen ist.“



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