Читать книгу Schwertmeister der Magie: Drei Fantasy Sagas auf 2500 Seiten - Alfred Bekker - Страница 57

Kapitel 24: Speerstein-Pilger

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Gorian blickte durch das Fenster der Greifen-Gondel auf eine endlose Eislandschaft. Trecks von Flüchtlingen zogen nach Süden, und in der Ferne kreisten Schwärme von Eiskrähen am Himmel. Es gab mehr als genug Beute für Morygors kleine Spione.

Dann folgten endlose menschenleere, verschneite Weiten. Für Centros Bal war die Orientierung schwierig, denn Städte und Flüsse, die ihm auf seinen bisherigen Flügen stets als markante Orientierungspunkte gedient hatten, waren oft genug derart unter Schnee und Eis bedeckt, dass sie allenfalls noch zu erahnen waren. Selbst der Verlauf der Küste bot keine verlässlichen Anhaltspunkte mehr, denn nicht nur die Mittlinger See, sondern auch ein beträchtlicher Teil des Meeres von Ost-Erdenrund war längst vereist. Die thisilische Bucht war nicht mehr zu erkennen. Ein Turm ragte irgendwo aus dem weißen Nichts, und Gorian vermutete, dass es sich um das letzte sichtbare Gebäude der Stadt Thisrig handelte, wo der Herzog von Thisilien residiert hatte. Aber wirklich sicher war er da nicht.

Das Meer zwischen Thisrig und den Küsten von Torheim und Orxanien war eine einzige weiße Kältewüste. Schneeverwehungen wanderten langsam mit dem Wind dahin wie ehedem die Sanddünen an der Küste nördlich von Thisia. Und immer wieder waren Leviathane zu sehen, begleitet von unzähligen Wollnashornreitern, die wohl in den Bäuchen dieser riesenhaften Würmer keinen Platz mehr gefunden hatten.

„Wer soll sich diesem Heerzug des Grauens entgegenstellen?“, fragte Sheera. „Der Kaiser hat sich nach Arabur zurückgezogen und wird auch dort kaum bleiben können, wenn die Leviathane weiterhin so schnell vordringen.“

„Wir“, gab Gorian zurück. „Jemand anderes wird es nicht wagen.“

„Spürst du inzwischen auch diese Kälte, die alles durchdringt und in die Seele kriecht?“ Sie sprach diese Frage nicht aus, aber Gorian empfing ihren Gedanken und wandte ihr das Gesicht zu. Das ihre war blass geworden.

Es war Morygors Aura. Dass sie bereits zu diesem Zeitpunkt zu spüren war und nicht erst tausend Meilen weiter nördlich, war kein gutes Zeichen.

Centros Bal ließ auf Thondarils Weisung hin den Greifen höher fliegen, sodass sie der Aura nicht in voller Stärke ausgesetzt waren. Zunächst linderte dies tatsächlich deren verderbliche Wirkung auf die Reisenden, dann aber wurde es wieder schlimmer. Es gab zwar in der Gondel einen Brennofen, der das Innere angenehm aufheizen konnte, doch gegen jene Art Kälte, die in die Seele kroch, vermochte das nichts auszurichten.

Torbas wirkte ziemlich gereizt und stellte zwischenzeitlich den Sinn des ganzen Unternehmens in Frage. Sheera versank in Apathie, und auch Thondaril war ausgesprochen wortkarg, so als wollte er diesmal jener Kraft, die den Willen brach, mit stoischem Schweigen widerstehen.

Auch Gorian spürte die Aura immer stärker, je weiter sie nach Norden kamen. Sie lähmte den Geist und ließ den Willen immer schwächer werden. Aber ebenso gut konnte sie dafür sorgen, dass jemand völlig unvorhergesehen reagierte, wie Thondaril allen warnend eingeschärft hatte.

Sowohl Centros Bal selbst als auch seinen Zweiten Greifenreiter Fentos Roon belegte der Magie- und Schwertmeister mit einem besonderen Zauber, sobald einer von ihnen den anderen beim Ritt auf dem Greifen ablöste. Auf diese Weise hoffte er, sie gegen die Einflüsse der Aura zumindest teilweise zu schützen.

Allerdings mussten sie ebenso sehr auf den Greifen selbst achten, denn dieses majestätische Geschöpf war ebenfalls Morygors Einfluss ausgesetzt. Dies galt sogar für die Seilschlangen, die für den Transport der Gondel sowie für die Reiterwechsel während des Fluges unverzichtbar warten.

Gorian ertappte sich dabei, wie in ihm Gleichgültigkeit um sich griff. Er sah in die bleich gewordenen Gesichter seiner Gefährten und ahnte, dass er selbst inzwischen nicht besser aussah. Jedes Gefühl, jede Empfindung, jeder Gedanke in ihm schien allmählich abzusterben.

„Wir müssen dagegen ankämpfen!“, empfing er Sheeras Gedanken. Er sah sie an und stellte fest, dass ihre Augen vollkommen schwarz geworden waren. Sie benutzte bereits all ihre Magie, um den lähmenden Einfluss der Aura zurückzudrängen.

Gorian hatte das bisher noch nicht getan – zumindest nicht andauernd. Er wollte Kräfte sparen.

Auf einmal waren da Gedanken in seinem Geist. Fremde Gedanken. Morygors Einflüsterungen? Oder stammten diese Gedanken gar nicht von dem Frostherrscher, sondern kamen aus den Untiefen seines eigenen Geistes? Er hätte es nicht mit Bestimmtheit zu sagen vermocht.

Höhnisches Gelächter, dann wieder Versprechungen, verbunden mit dem Angebot, in den Dienst des Frostreichs zu treten. „Untot. Was für ein hässliches Wort. Du solltest es nicht mehr benutzen. Ersetze es durch ›ewiges Leben‹. Denn das ist es letztlich: eine Existenz, losgelöst von den Notwendigkeiten des Lebens. Die Kälte wird zu deinem Element werden ...“

„Das fürchte ich auch“, sagte Gorian laut, um seine Gedanken besser konzentrieren zu können. Das anschließende „Nein!“ klang schon fast wie ein Kraftschrei.

––––––––




Inzwischen war Fentos Roon in eine Art Dämmerzustand verfallen und wirkte beinahe wie tot. Sheera kümmerte sich um ihn, und unter Aufbietung ihrer Heilkünste erreichte sie immerhin, dass der sich ständig verlangsamende Herzschlag des Zweiten Greifenreiters wieder etwas beschleunigte. Daraufhin fantasierte Fentos Roon vor sich hin und schien niemanden an Bord mehr zu erkennen.

Für Centros Bal bedeutete dies, dass er nun überwiegend allein für die Lenkung des Greifen zuständig war und kaum noch Ruhepausen einlegen konnte. Zwar hatte er noch einen weiteren Greifenreiter in seinen Diensten, aber der hatte nur wenig Erfahrung, und so brachte ihn Centros Bal nur dann zum Einsatz, wenn es wirklich nicht anders ging.

„Ich hätte mich niemals auf diesen Ritt einlassen sollen“, knurrte er, kurz bevor er sich von einer der Seilschlangen zu seiner letzten Reiteretappe vom Gondelbalkon auf den Rücken des Greifen tragen ließ.

Der Greif flog inzwischen sehr tief, und auch Centros Bal war unter Aufbietung all seiner Greifenreiterkunst nicht mehr in der Lage, das majestätische Flugtier wieder höher steigen zu lassen. Die Gondel schwebte nur noch eine halbe Mastlänge weit über dem Eis, und wenn eine Schneeverwehung kam, schabte sie manchmal darüber hinweg.

Schließlich veranlasste Centros Bal den Greifen, die Gondel abzusetzen. Der Greif landete daneben.

In diesem Moment fiel die Lethargie von Gorian völlig ab. Alles, was er an Kleidung besaß, zog er an und gürtete sich jenes gewöhnliche, namenlose Schwert auf den Rücken, das ihn bis nach Basaleia begleitet hatte.

„Was hast du vor?“, fragte Sheera.

„Der Greif kann der Aura nicht mehr widerstehen und ist schon weiter geflogen, als er es hätte tun sollen“, antwortete Gorian. „Aber das bedeutet nicht, dass ich aufgebe.“

„Das werden wir ja sehen!“, entgegnete Thondaril, der erschreckend schwach und blass wirkte und mit ungewöhnlich dünner, brüchiger Stimme sprach. „Centros Bal schuldet uns eine vollständige Passage!“

Die anderen Besatzungsmitglieder äußerten sich nicht dazu. Fentos Roon war inzwischen in einen so tiefen Schlaf gefallen, dass selbst die Heilschülerin Sheera ihn zunächst für tot hielt. Der andere Greifenreiter in Diensten Centros Bals redete nur noch wirres Zeug und knurrte hin und wieder wie ein wildes Tier. Gorian sah ihn an und murmelte: „Jetzt ist es an denen, weiterzugehen, die noch die Kraft dazu haben.“

Insgeheim aber fragte er sich, ob er selbst noch dazugehörte.

Thondaril trat als Erster ins Freie. Ein eisiger Wind wehte ihm feinen Schnee ins Gesicht.

Centros Bal kümmerte sich um den Greifen, redete dem Tier gut zu, woraufhin dieses einen Laut ausstieß, der eher einem Röcheln ähnelte.

„Ich fliege keine Meile mehr“, wandte sich der Greifenreiter an Thondaril. „Ihr könnt verlangen, was Ihr wollt, hier ist die äußerste Grenze. Wir hätten schon früher umkehren sollen.“ Centros Bals Atem bildete ein Wölkchen vor Mund und Nase, als er laut seufzte. Dunkle Ringe hatten sich unter seinen Augen gebildet, deren Blick eigenartig flackerte. Immer wieder wandte er suchend den Kopf, sah in das undurchdringliche Schneegestöber. „Hört Ihr sie nicht, Thondaril? Die Stimmen ... Sie sind so nahe und bedrängend ...“

„Ich höre gar nichts“, behauptete der Ordensmeister.

„Sie scheinen Euch nicht zu mögen, Meister Thondaril – denn manche von ihnen versuchen mich dazu zu überreden, Euch zu töten! Und eins sage ich Euch: Wenn mein Greif diesen Höllenflug nicht überlebt, dann werde ich das sogar tun!“

„Wir sind kurz vor dem Ziel“, entgegnete Thondaril mürrisch. „Und da wollt Ihr aufgeben?“

„Wie weit ist es noch bis zum Speerstein?“, mischte sich Gorian ein.

Centros Bal zuckte mit den Schultern. „Ein oder zwei Tage.“

„Ihr meint mit einem Greifen!“

„Ob zu Fuß oder mit einem Greifen, das ist kaum noch ein Unterschied!“, behauptete der Kaufmann. „Bei dem Gegenwind und vor allem dieser verfluchten Kraft, die uns alle schwächt und selbst meinen Greifen niederzwingt, kommt man ohnehin nur im Schneckentempo voran. Davon abgesehen kann ich euch nicht einmal genau sagen, wo wir sind.“

Inzwischen hatten auch Torbas und Sheera die Gondel verlassen. Gorian wandte sich ihnen zu. „Jeder von euch muss nun für sich selbst entscheiden, ob er noch die nötige Kraft hat, um mit mir zu kommen.“

„Was ist das für eine Frage!“, gab Torbas großspurig zurück. „Auch wenn mir diese Stimmen ziemlich auf den Geist gehen, das ist noch längst kein Grund, dich allein in den Untergang stiefeln zu lassen!“ Seine Leichtigkeit wirkte aufgesetzt.

„Und irgendwer wird dich ja auch heilen müssen“, sagte Sheera. „Ob nun von den Wunden, die du im Kampf davontragen könntest, oder von deinem Wahn, etwas zu vollbringen, wozu die ganze Armee des Kaisers und alle Ordensmeister bisher nicht in der Lage waren.“

„Sparen wir uns das Gerede und gehen“, entschied Thondaril. Er deutete mit dem Finger in eine bestimmte Richtung und sagte: „Da lang!“

„Also für mich sieht hier alles gleich aus“, meinte Gorian. „Ich hoffe nicht, dass wir auf den letzten Meilen zum Speerstein noch im Kreis herumlaufen!“

„Wozu bist du ein Schüler der Magie?“, rief Thondaril, der schon ein paar Schritte gegangen war. „Du wolltest doch in allen fünf Häusern ausgebildet werden. Jetzt kannst du deine Ausbildung in einer Disziplin vervollständigen, die magische Orientierung genannt wird!“

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Das Schneegestöber nahm an Heftigkeit zu. Es dauerte nicht lange, und sie konnten den Greifen und die Gondel nicht mehr sehen. Ob Centros Bal auf sie warten oder baldmöglichst zurückfliegen würde, war ungewiss, doch momentan hinderte ihn die Schwäche seines Reittieres daran, sich einfach auf- und davonzumachen.

Thondaril verriet den drei Schülern ein paar einfache Formeln, die dabei halfen, den Geist auf Orte, Gegenstände oder Personen zu konzentrieren, über die einem zumindest ein wenig bekannt war, sodass man sie selbst bei widrigsten Wetter- oder Wegverhältnissen zu finden vermochte.

„Verliert euch nicht gegenseitig“, mahnte der zweifache Ordensmeister. „Und achtet aufeinander. Wer sich zu stark verändert oder glaubt, gegen die Macht der Aura nicht mehr ankämpfen zu können, der soll zurückbleiben, denn er würde nur eine zusätzliche Gefahr darstellen, sollte es Morygor gelingen, die Herrschaft über seinen Geist zu übernehmen. Glaubt es mir, ich selbst habe diese bittere Erfahrung machen müssen.“

Und wenn es Euch diesmal erneut so ergeht?, ging es Gorian durch den Kopf, aber er stellte die Frage nicht laut.

Meister Thondaril blieb stehen und wandte sich zu ihm um. „Dann werde ich diesmal hoffentlich die innere Stärke haben, das zu erkennen“, antwortete er seinem Schüler mit einem intensiven und offenbar sehr ernst gemeinten Gedanken.

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Die meiste Zeit über gingen sie schweigend durch die weiße Einöde. Der Schneefall ließ zwar nach, aber der eisige Wind wurde dafür heftiger. Er blies ihnen direkt entgegen und wirbelte immer wieder feinen Schnee auf.

Gorian murmelte die Formel vor sich hin, die Thondaril ihm beigebracht hatte. Er sah den Speerstein vor seinem inneren Auge in einer überwältigenden Klarheit, und wenn er seine Kräfte genug konzentrierte, wusste er auch, ob er sich seinem Ziel näherte oder sich von ihm entfernte.

Zunächst ging Thondaril der Gruppe voran. Er sah sich nur selten nach den anderen um und schien auch keinen Zweifel daran zu hegen, in welche Richtung sie marschieren mussten.

Alle hörten sie die Stimmen immer lauter, die ihnen einzuflüstern versuchten, entweder auf Morygors Seite zu wechseln oder umzukehren. Selbst Gorian erschien sein Vorhaben zeitweilig völlig absurd und ohne jede Aussicht auf Erfolg. Er versuchte, die Stimmen so gut es ging zu ignorieren.

Die Stunden gingen dahin. Der Himmel war so grau, als würde eine immerwährende Dämmerung herrschen. Von der Sonne war ebenso wenig etwas zu sehen wie von ihrem dunklen, durch Morygors Magie gelenkten Schatten. Der Übergang zur Dunkelheit der Nacht kam allmählich, brennbares Material gab es nirgends, und so konnten sie auch mithilfe der Magie kein wärmendes Feuer entfachen. Daher machten sie nur eine kurze Rast, denn einzuschlafen hätte den sicheren Tod bedeutet.

Oder den Untod und eine Existenz als ein Geschöpf, das Morygor willfährig zu Diensten war.

„Mit jedem Augenblick wird unser aller Kraft weniger“, erklärte Gorian. „Wir sollten daher keinen Moment vergeuden und weiterziehen.“

Es war das erste Mal seit Stunden, dass überhaupt einer von ihnen einen längeren Satz äußerte oder auch nur einen eindringlichen Gedanken formuliert hätte.

Gorian erhob sich, als Meister Thondaril auf einmal einen knurrenden Laut ausstieß. Sein Gesicht hatte sich innerhalb eines einzigen Lidschlags auf furchtbare Weise verändert. Es wirkte verzerrt und hatte fast etwas Tierhaftes an sich.

Das, was Gorian jedoch am meisten alarmierte, waren die Augen. Es war keine Schwärze mehr in ihnen, stattdessen schimmerten sie dunkelrot und erinnerten an glühende Kohlen.

Der Meister des Schwertes und der Magie schnellte empor und hatte im nächsten Moment die Hand am Griff seiner Klinge.

„Aber, Meister!“, stieß Sheera hervor.

Gorian konnte ihn nur fassungslos anstarren.

Meister Thondaril hielt inne. Seine Haltung entspannte sich wieder, und das rötliche Leuchten in seinen Augen wich jener Schwärze, die das Anzeichen für höchste Konzentration auf magische Kräfte war.

Er wirkte niedergeschlagen. Seine Hand löste sich vom Schwertgriff. „Mein Weg ist hier zu Ende“, sagte er. „Ich kann nicht weiter. Ich hatte gehofft, inzwischen stärker zu sein als damals, aber ich habe mich getäuscht. Doch dieses Mal will ich nicht den Fehler wiederholen, den ich damals beging. Diesmal nicht.“

„Was wird mit Euch?“, fragte Gorian.

Ein mattes Lächeln glitt über Thondarils totenbleich gewordenes Gesicht. „Mach dir keine Sorgen und verlier dein Ziel nicht aus dem Fokus deines inneren Auges. Du wirst den Speerstein finden. Und ich werde hier auf dich warten.“

„Wir bleiben über Handlichtlesen in Verbindung“, versprach Gorian.

„Gewiss.“

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Sie gingen bis zum Morgengrauen, und Gorian hatte die ganze Zeit über den Speerstein vor seinem inneren Auge, was er mit der Formel, die er von Meister Thondaril gelernt hatte, unterstützte.

Inzwischen war anhand einiger herausragender, wenn auch erfrorener Bäume und Anhöhen erkennbar, dass sie sich nicht mehr auf zugefrorenem Meer, sondern auf festem Land befanden.

Plötzlich sank Torbas in den Schnee. Gorian bemerkte es zunächst gar nicht, zu sehr war seine Aufmerksamkeit auf sein Ziel konzentriert.

„Gorian!“

Erst Sheeras Ruf ließ ihn anhalten und sich herumdrehen. Sie kniete bereits bei dem reglos am Boden Liegenden.

Gorian kehrte das Dutzend Schritte, das er vorausgegangen war, zurück. Torbas war so bleich wie ein Toter, den das Eis bereits mit Frost durchdrungen hatte.

„Sein Herzschlag ist kaum noch zu spüren“, sagte Sheera. „Wenn wir ihm nicht helfen, stirbt er!“

„Dann hilf ihm.“

„Danach werde ich selbst nicht mehr genügend Kraft haben, zum weiterzugehen.“

„Bleib bei ihm“, entschied Gorian, „und versuch ihn zu retten. Aber ich kann nicht warten.“

„Ich weiß.“

„Morygors Aura ist sehr stark, und ich weiß nicht, ob ich es selbst noch bis zum Speerstein schaffe.“

„Das wirst du“, sagte Sheera, aber es schwang wenig Überzeugung darin mit; eher hörte es sich an wie der Ausdruck einer verzweifelten Hoffnung. „Das wirst du, Gorian“, wiederholte sie, so als sei ihr selbst aufgefallen, wie schwach ihre Worte klangen, und als wollte sie diesen Eindruck revidieren.

Gorian blickte in Torbas’ starr gewordenes, totenbleiches Gesicht. Aus seinen Augen war jegliche Schwärze gewichen, und für einen Moment glühte es darin ebenfalls rötlich auf, aber auch das verging. Er schien Gorian nicht zu sehen, und dennoch war Gorian sicher, dass der Gefährte seine Anwesenheit spürte.

Torbas bewegte sich ganz leicht. Seine dunkelblau verfärbten Lippen öffneten sich ein wenig, aber kein einziges Wort drang zwischen ihnen hervor.

Doch da war ein intensiver Gedanke.

„Scheint, als stünde unser Plan unter keinem guten Stern, Gorian ... Aber wundert dich das? Es ist ein fallender Stern, unter dem wir geboren wurden ...“

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Gorian fühlte sich innerlich vollkommen leer, während er durch knietiefen Schnee stapfte. Mit großer Mühe überwand er eine Anhöhe. Aber es war nicht die körperliche Anstrengung, die ihm zu schaffen machte, sondern Morygors Aura, die wie ein lähmendes Gift wirkte.

Vorwärts! Zum Speerstein!

Gorian versuchte, einen anderen Gedanken gar nicht mehr zuzulassen, und die Leere, die ansonsten in seinen Gedanken herrschte, empfand er als Gnade.

„Ich erwarte dich bereits!“, dröhnte eine Stimme in seinem Kopf, und dann folgte ein hämisches Gelächter. „Komm nur ... Erreiche den Ort deiner größten Bestimmung im Augenblick deiner größten Schwäche und – stirb! Oder bleib zurück und werde zu einem wimmernden Stück Fleisch, an dem sich meine Eiskrähen laben werden!“

„Schweig!“, brüllte Gorian in das dunstige Eisgrau, das ihn von allen Seiten umgab und die Sicht auf kaum mehr als drei oder vier Schiffslängen begrenzte. Er schalt sich einen Narren. Das wollte diese Kreatur doch nur. Dass er seine Kräfte völlig verausgabte, noch ehe er den Ort, an dem sich sein Schicksal erfüllen sollte, überhaupt erreichte.

„Erinnere dich dessen, was du über Meister Domrich erfahren hast“, meldete sich die Gedankenstimme erneut. „Und bereite dich auf ein ähnliches Schicksal vor, du großspuriger Narr!“

Gorian dachte an Ar-Don. In diesem Moment wünschte er sich wie selten zuvor die Anwesenheit dieses oftmals sehr zwiespältigen Wesens. Es war in den Bergen zwischen dem Estlinger Land und Nomrigge einfach verschwunden. Wahrscheinlich hatte Meister Thondaril recht gehabt, als er sagte, dass der Gargoyle, sein Handeln und seine Motive niemals wirklich einzuschätzen waren.

An dem Morgen, bevor sie aus Basaleia aufgebrochen waren, hatte Gorian einen Schatten auf dem hohen Fenstersims seiner Zelle im Gesandtschaftshaus des Ordens gesehen, dann war ein geflügeltes Wesen davongestoben. Gorian hatte nicht einmal den Schatten richtig erkennen können, und es konnte gut ein Exemplar der vielen heimischen Fledertierarten gewesen sein, für die das Basilisken-Reich bekannt war.

„Du bist allein, Gorian!“, hörte er erneut die dröhnende Stimme in seinem Geist. „Kein Meister an deiner Seite, keine Heilerin, die sich um deine Wunden kümmern könnte, und der Gefährte, der das zweite Schwert führen sollte, ist zu schwach, um sich noch auf den Beinen zu halten!“ Wieder folgte hämisches Gelächter. „Ist das nicht der Augenblick, die Realitäten des Polyversums anzuerkennen, statt sie sinnloserweise zu verfluchen oder zu bekämpfen? Du wirst keine andere Schicksalslinie beenden außer deiner eigenen!“

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Als dunkler Schatten tauchte der Speerstein aus dem grauweißen Dunst auf. Die Form des Felsens war so charakteristisch, dass es keinerlei Zweifel geben konnte, dass es sich um eben diesen handelte. Wie die Spitze eines gigantischen Speers ragte er aus dem gefrorenen Erdreich, und aus irgendeinem Grund blieben an dem dunklen Gestein kein Eis und kein Schnee haften.

Ganz oben in seiner Spitze steckten die beiden Schwerter Sternenklinge und Schattenstich. Der Stein selbst war über und über mit Runen und magischen Zeichen bedeckt. Manche waren einfach nur eingeritzt, andere hatte man mit Metall ausgegossen.

Sternenmetall, erkannte Gorian. Es musste sehr viel davon hier aufgeschmolzen und an dieser Stätte geopfert worden sein, in der Hoffnung, damit die diesem Material innewohnenden Kräfte zu bannen.

Gorian streckte unwillkürlich die Hand aus und konzentrierte die ihm innewohnende Magie. Seine Augen waren vollkommen schwarz, immerhin befand er sich in einem Zustand permanenter magischer Anspannung, was sehr kräftezehrend war. Aber anders wäre es ihm nicht möglich gewesen, gegen den Einfluss von Morygors Aura anzukämpfen.

Einige der mit Sternenmetall ausgegossenen Runen glühten auf einmal auf, schienen auf Gorians Magie zu reagieren.

Du hast nur noch wenig Kraft, meldete sich eine mahnende Stimme in seinem Inneren. Vergeude sie nicht!

Er konzentrierte sich auf die beiden Schwerter seines Vaters, und obwohl an diesem Ort mehr Sternenmetall versammelt war als vermutlich an jedem anderen in ganz Ost-Erdenrund, spürte er die beiden Klingen deutlich heraus. Er hatte sie im magischen Fokus seines inneren Auges, sah sie an der Spitze des Speersteins aufleuchten und streckte beide Hände offen empor.

Konzentriere alle Kraft in den Augenblick, der alles entscheidet!, erinnerte er sich an ein Axiom des Ordens. Und so stieß er einen Kraftschrei aus. Im Fokus seines inneren Auges konnte er genau sehen, wie beide Schwerter zu zittern begannen, so stark, dass Gorian schon fürchtete, ihre Klingen könnten brechen.

Bis zur Schmerzgrenze sammelte Gorian alles an Alter Kraft, was er mobilisieren konnte, sein Kraftschrei wurde zu einem durchdringenden Kreischen, das nichts Menschliches mehr an sich hatte, und Blitze fuhren aus seinen Händen und übertrugen zusätzliche Kraft auf die Klingen.

Solange es ging, hielt Gorian diese magische Spannung aufrecht, dann mischte sich in seinen Kraftschrei ein höhnisches Gelächter, dröhnte zugleich in seinem Kopf wie der Schlag einer riesenhaften Glocke, und für ein paar Augenblicke drehte sich alles vor seinen Augen. Namenlose Schwärze legte sich über ihn. Es war die Macht absoluter Blindheit. Er schwankte einen Moment und spürte gleichzeitig, wie sich ihm etwas näherte.

Ein Wesen.

Eine Kraft.

Ein Wille ...

Gorian drehte sich um, obwohl er noch immer nichts zu sehen vermochte. Blindheit kann eine Nebenwirkung vollkommener magischer Erschöpfung sein, erinnerte er sich daran, was er während der ersten Lektionen seiner Heiler-Ausbildung gelernt hatte.

Er zog das Schwert und den Rächer hervor.

„Sieh mich an! Oder hast du dazu schon gar nicht mehr die Kraft?“, höhnte die Gedankenstimme.

Gorian murmelte eine Formel, die ihm bei der Sammlung der Alten Kraft unterstützte. Notfalls musste er allein mit dem inneren Auge sehen, aber es war besser, wenn er darauf nicht angewiesen war.

Es war ein Fehler gewesen, gleich mit vollem Einsatz der Magie nach den Schwertern zu greifen. Er hatte dabei einen Großteil der ihm noch zur Verfügung stehenden Kräfte sinnlos vergeudet, die ihm für den entscheidenden Kampf fehlen würden. Und genau das schien die Absicht seines Gegners gewesen zu sein.

„Du hast keine Furcht, und wahrscheinlich hältst du das für einen Vorzug, du großspuriger Narr! Dabei könnte es der Grund deines Untergangs sein!“

Gorians Blick klärte sich gerade noch rechtzeitig, um den Schwarm von Eiskrähen zu erkennen, der in der Luft über ihm gekreist hatte und sich gerade wie auf ein geheimes Kommando hin auf ihn stürzte.

Blitzschnell ließ er seine Waffen durch die Luft wirbeln, wie er es von seinem Vater gelernt hatte. Er sah jeden Angriff voraus, und jeder seiner Hiebe, jeder Stich traf sein Ziel. Innerhalb weniger Augenblicke lagen ein Dutzend blutige Vögel regungslos im Schnee, und der Rest stob in heller Panik davon.

Die Gestalt, die das alles mit grausamer Ruhe betrachtete, bemerkte Gorian zunächst nicht.

„Beachtlich, wie du kämpfen kannst!“, sagte eine spöttische Stimme, die Gorian nur allzu bekannt war. Er hatte sie in seinen Gedanken zu oft gehört, seit er sich im Einflussbereich von Morygors Aura befand.

Ein junger Caladran befand sich gut ein Dutzend Schritte von ihm entfernt. Er trug Stiefel mit hohen Schäften, eng anliegende Hosen und ein weites Hemd, das fast bis zum Gürtel offen war und den Blick auf fast pergamentartige elfenbeinfarbene Haut freigab. Das Haar fiel dunkel und seidig über die Schultern herab und wurde durch ein edelsteinbesetztes Stirnband zusammengehalten. Das Kinn wirkte markant und das Lächeln, das in dem jugendlich wirkenden Gesicht stand, ausgesprochen zynisch.

„Na, freust du dich denn gar nicht, mich zu sehen?“, fragte der Caladran. „Ist es nicht das, wonach du gestrebt hast? Die Schicksalslinie des Herrn der Frostfeste zu kreuzen? Nun, dein Wunsch sei mir Befehl und werde hiermit erfüllt.“ Er lachte und stemmte überlegen die Hände in die schmalen Hüften.

Der Caladran trug keinerlei Waffen, wie Gorian verwundert registrierte.

Was ist das für ein Spiel, das er hier treibt?, ging es Gorian durch den Kopf.

Der Caladran – wer immer er auch sein mochte – schien tief genug in Gorians Geist eindringen zu können, um die Gedanken des Ordensschülers zu lesen. Manchmal spürte Gorian, wie die magischen Fühler eines fremden Wesens seine Seele durchforschten, ohne dass er sich im Moment dagegen zu wehren vermochte. Vielleicht lag das an seiner gegenwärtigen Schwäche, vielleicht aber auch an der ungeheuren Stärke seines Gegenübers. Er spürte die magischen Kraftlinien, die von dem jungen Caladran ausgingen.

„Na los, worauf wartest du?“, höhnte der Caladran. „Wolltest du mich nicht erschlagen? Bist du nicht deswegen hergekommen? Oder stört es dich, dass ich unbewaffnet bin. Du solltest dich nicht von Äußerlichkeiten täuschen lassen, Ordensschüler. Lernt man das bei euch nicht mehr? Oder haben mich meine Freunde, die ich unter den Ordensmeistern habe, vielleicht in diesem Punkt falsch informiert?“ Er zuckte mit den Schultern. „Wie auch immer, die Bezeichnung Magie ist für das, was in dieser Vereinigung von jämmerlichen Gestalten getrieben wird, etwas arg großspurig, würde ich sagen.“

„Du bist nicht Morygor!“, stellte Gorian fest.

Der Caladran lächelte erstaunt. „Du hast ja sogar deine Sprache wiedergefunden, Bürschchen. Bemerkenswert. Allmählich scheinst du wieder zu Kräften zu kommen, und ich täte wohl gut daran, dafür zu sorgen, dass du bald erschlagen wirst. Warum, meinst du, kann ich nicht Morygor sein? Weil man erzählt, dass der sich im Laufe der Zeit und unter dem Einfluss magischer Kräfte in ein abgrundtief hässliches Wesen verwandelt habe? In ein Monstrum, das die Frostfeste seit hundert Jahren nicht mehr verlassen hat und bei dessen Anblick selbst ein Orxanier Grauen verspürt?“ Er schüttelte wie mitleidig den Kopf. „Man sollte erstens nicht alles glauben, was so erzählt wird. Und zweitens gebe ich zu, auf mein Äußeres zu achten, wenn ich auf die Jagd gehe. So wie jetzt!“

Er streckte die Hand aus und entriss Gorian den Rächer durch die Kraft seiner Magie. Die Waffe flog in die ausgestreckte Rechte des Caladran. „Überrascht?“ Er lächelte kalt. Ansatzlos schleuderte er den Rächer zurück.

Gorian wollte ausweichen, schaffte es aber nicht rechtzeitig und wurde an der Schulter getroffen. Tief drang die Klinge in sein Fleisch, er ging zu Boden und stöhnte laut auf, als er mit der freien Hand den Rächer aus der Wunde zog. Schwarzes Blut trat aus, und für einen kurzen Moment schwanden ihm erneut die Sinne.

„Man erzählt so vieles, und es zeigt sich immer erst später, ob es der Wahrheit entspricht oder nicht“, sagte der Caladran. „So sagt man auch, dass dieser Speerstein die letzte Hinterlassenschaft eines Geschlechts von Riesen sei, die man einst von hier durch das Weltentor vertrieb. Einer blieb zurück, weil ein Erdrutsch ihn begrub, und nur die Spitze seines Speers ragt noch hervor. Und damit er nicht eines Tages wieder hervorkommt, damit er sich nicht aus der Erde gräbt, belegte man den Fels mit einem Bann, der aber durch unbedacht angewendete Magie gelöst werden könnte.“ Der Caladran kicherte auf eine Weise, der eine beinahe kindlich-spielerische Grausamkeit innewohnte. „Also sei vorsichtig, welche Kräfte du hier möglicherweise entfesselst. Vielleicht aber ist es dir ja auch lieber, von einem Riesen zertreten als von mir erschlagen zu werden.“

In diesem Moment ertönte ein Geräusch, so als würde sich etwas Schweres über das Eis schieben. Aus dem Dunst schälte sich ein zunächst formlos erscheinender, riesenhafter Schatten – das Kopfende eines Leviathans. In einem Abstand von zwei Schiffslängen schien er Richtung Süden an dem Speerstein vorbeiziehen zu wollen, und es war anzunehmen, dass er bis zum lippenlosen Maul mit Wollnashornreitern und untoten Kriegern gefüllt war. Auf seinem Rücken liefen winzig erscheinende Torheimer Armbrust- und Bogenschützen herum, vermutlich ebenfalls Untote, und an den Seiten wurde der Wurm von einzelnen orxanischen Wollnashornreitern flankiert. Keiner von ihnen machte irgendwelche Anstalten, sich in den bevorstehenden Kampf am Speerstein einzumischen.

Dann aber, als der Leviathan schon eine halbe Kopflänge am Stein vorbeigekrochen war, kam der Zug des Grauens wie auf einen stummen Befehl hin zum Stillstand. Die Wollnashornreiter hielten ihre Tiere an, und die untoten Armbrustschützen positionierten sich so auf dem Rücken des Leviathans, dass sie Gorian und den Caladran gut in Blick hatten, so als wollte sich keiner von ihnen das Schauspiel am Speerstein entgehen lassen.

Der Caladran machte eine großspurige Geste. „Du siehst, mein Heer erwartet mich. Ich soll es nach Süden führen. Es wird also Zeit, dass ich den mir angeborenen Spieltrieb etwas im Zaum halte und die Sache beschleunige.“ Er kicherte erneut, aber diesmal ging sein Kichern in einen knurrenden, fast raubtierhaften Laut über.

Gorian hatte sich längst wieder erhoben, hielt den Rächer, von dessen Klinge noch sein eigenes Blut troff, zitternd in der einen Hand und in der anderen sein Schwert. Die Wunde an der Schulter verursachte einen pulsierenden, sich allmählich über den ganzen Körper ausbreitenden Schmerz.

Der Caladran streckte die Hand aus und entriss Gorian mit seiner unwiderstehlichen Kraft das Schwert. Es flog durch die Luft, drehte sich mehrmals um seinen Schwerpunkt, und der Griff landete schließlich genau in der Handfläche von Gorians Widersacher. „Na los, greif mich an! Oder fehlt dir dazu der Mut?“ Der Caladran schritt auf Gorian zu, umfasste dabei das Schwert mit beiden Händen, und seine Augen begannen, rot zu glühen, Strahlen schossen daraus hervor, trafen Gorian und rissen ihn von den Beinen. Er prallte gegen den Speerstein und rutschte daran zu Boden.

Ein weiterer Schwall schwarzen Blutes quoll aus der Wunde an seiner Schulter.

Und während sein Rücken den Speerstein berührte, drang eine Flut von Bildern und Gedanken in seinen Geist. Uralte Erinnerungen. Er sah Riesen, die von Scharen von Orxaniern vertrieben wurden, und einen, den ein Erdrutsch verschüttete, sodass nur die Spitze seines Speers noch aus dem Erdreich ragte. Er fühlte die geballte Wut, die sich in all den Zeitaltern in dieser Kreatur angesammelt hatte, da sie unter der Erde gelegen hatte, ohne sterben zu können. Denn der Bann, den man über diesen Ort verhängt hatte, um zu verhindern, dass sich der verschüttete Riese jemals an die Oberfläche kämpfte und sich für die erlittene Schmach blindwütig rächte, hatte ihn am Leben erhalten. Die Wut brauchte ein Gefäß – den Körper des Riesen, erkannte Gorian. Und dieses Gefäß war zum Bersten gefüllt.

Etwas davon nur für mich, dachte Gorian. Vielleicht würde das den entscheidenden Unterschied ausmachen.

Der Caladran wog unterdessen Gorians Schwert in seinen Händen. „Es ist lange her, dass ich mit einer derart primitiven Waffe getötet habe. Aber die metamagischen Berechnungen der Schicksalslinien lassen mir nun mal keine Wahl bei der Art und Weise, wie du zu vernichten bist.“

Gorian schleuderte ihm den Rächer entgegen, legte alle Kraft in diesen Wurf, aber der Caladran hob nur die Hand, und die Waffe drehte ihre Flugbahn und fuhr Gorian erneut in die Schulter, genau dort, wo er bereits verwundet war. Er unterdrückte einen Schrei und hörte das Gelächter seines Gegenübers. „Du Narr! Waffen wie dein Dolch haben die unangenehme Tendenz, zu ihrem Ausgangspunkt zurückzukehren. Das wusstest du doch. Gewiss hast du diese Eigenschaft im Kampf des Öfteren für dich genutzt. Nur so wie jetzt hast du dir das bisher nie vorgestellt, was?“

Der Caladran trat auf ihn zu, hob das Schwert wie ein nemorischer Henker.

Gorian zog den Rächer diesmal nicht aus der Schulterwunde. Der Dolch schien gegen diesen Gegner einfach nichts ausrichten zu können. Am Boden kauernd und mit dem Rücken gegen den Speerstein gelehnt, hob er beide Hände empor und streckte die Arme aus. Dabei stieß er einen Kraftschrei aus.

Alle unterirdische Wut für mich!

Ein letzter Versuch, die einzigen Waffen in die Hände zu bekommen, die für einen Kampf wie diesen geschaffen worden waren.

Sternenklinge ...

Schattenstich ...

Dieses Mal zitterten die Klingen an der Spitze des Steins nicht, sondern zuckten daraus hervor, rasten als glühende Blitze herab und verstofflichten sich einen Wimpernschlag später wieder in Gorians Händen. Der Schwertstreich, mit dem der Caladran Gorian den Schädel zu spalten versuchte, wurde durch das Klingenkreuz abgefangen, das sie bildeten. Blitze zuckten die Schwerter entlang und griffen auf den Caladran über, der zitternd zurückwich. Ein weiterer Kraftschrei Gorians folgte. Das in Runen gegossene Sternenmetall auf der Oberfläche des Speersteins platze teilweise ab, wie Geschosse schnellten die Stücke durch die Luft, und mehrere davon durchbohrten den Körper seines Gegners.

Schwankend stand dieser da, versuchte das Schwert noch einmal zu heben. Aus seinem Körper trat an einem Dutzend Stellen schwarzes Blut.

Er war nicht mehr fähig, zu sprechen.

Stattdessen erreichte Gorian ein Gedanke.

„Scheint, als hätte ich dich ... unterschätzt ... Aber nun beende es! Oder lässt du immer nur Gargoyles für dich töten ... Ja, die Erinnerungen deiner Seele sind für mich ein offenes Buch – und wie es scheint, haben wir ein paar gemeinsame Bekannte.“

Gorian erhob sich. Auf den Rächer in seiner Schulter achtete er nicht. Er spürte nicht einmal mehr den Schmerz, wobei er sich nicht sicher war, ob das wirklich ein gutes Zeichen war. Schwankend trat er auf den Caladran zu und hob Sternenklinge, um den letzten Hieb auszuführen.

In diesem Moment verwandelte sich der Caladran. Innerhalb eines Augenblicks stand Thondaril vor Gorian – so wie er den zweifachen Ordensmeister zuletzt gesehen hatte, mit rot leuchtenden Augen und totenbleichem Gesicht.

Das Einzige, was er mit dem Caladran gemein hatte, waren das Schwert in der Hand und die Wunden durch das vom Speerstein abgeplatzte Sternenmetall.

Heiseres Gelächter brandete dem jungen Ordensschüler entgegen, als er innehielt und sein Arm, dessen Hand Sternenklinge führte, mitten im Schlag verharrte.

Gleichzeitig zuckte das Schwert seines Gegenübers vor.

Gorian wich aus, aber zu spät. Der Anblick seines Mentors hatte ihn den entscheidenden Moment lang zögern lassen, und so traf ihn die Klinge seines Gegners noch in die Seite. Blitze zuckten aus dem Schwert, aber die Magie seines Feindes war schwach geworden.

Gorian stieß im selben Moment mit Schattenstich und Sternenklinge zu.

Thondarils Gestalt wich schwankend zurück und fiel dann schwer zu Boden. Dort verwandelte sich sein Körper abermals und wurde zu einem menschengroßen, tödlich verwundeten Wolf.

Honyrr!, durchfuhr es Gorian. Der Gestaltwandler unter den Frostgöttern, den Thondaril einst verfolgt hatte ...

––––––––




Die Armbrustschützen auf dem Rücken des Leviathans hatten beobachtet, was geschehen war, und Gleiches galt für die den Riesenwurm eskortierenden Wollnashornreiter.

Ein Dutzend Armbrustbolzen wurde in Gorians Richtung abgeschossen, die Hälfte verfehlte ihn knapp, und die restlichen wehrte er mit ein paar sicheren Bewegungen seiner Schwerter ganz nach Art eines Ordensmeisters ab. Aber Gorian spürte gleichzeitig, wie sich eine tödliche Schwäche in ihm ausbreitete. Sie ging von den Wunden aus, die ihm geschlagen worden waren. Der Rächer steckte noch immer in seiner Schulter. Während des Kampfes hatte er den Schmerz unterdrücken können, nun aber kehrte er mit Macht zurück und ließ ihn taumeln.

Da erbebte das Eis zu seinen Füßen. Risse taten sich im gefrorenen Erdreich auf. Spalten, so breit wie ein kleiner Bach und zwanzig Klafter tief.

Einer dieser Risse führte geradewegs unter dem Leviathan her, und auch die Schützen auf dessen Rücken wurden darauf aufmerksam. Niemand legte noch einen Bolzen ein, um Gorian damit zu beschießen.

Der Riese erhob sich, erkannte dieser. Der Bann war gebrochen, und die grenzenlose Wut, von der Gorian einen Bruchteil genutzt hatte, um sich selbst zu stärken, brach sich Bahn.

Er stolperte vorwärts. Dabei musste er den sich ständig verbreiternden Rissen ausweichen, die Eis und Erdreich auseinanderteilten und gefährliche Furchen schufen. Ohne die Fähigkeit der Voraussicht, wie sie einem Schwertmeister eigen war, wäre er verloren gewesen.

Er versuchte die letzten Kraftreserven in sich wachzurufen, hetzte vorwärts und sank dann in den Schnee. Sternenklinge schob er in die Lederscheide auf seinem Rücken, Schattenstich klemmte er hinter den Gürtel, stand wieder auf und rannte weiter. Er versuchte sein inneres Auge auf irgendetwas zu fokussieren, anstatt nahezu blindlings in die graue Eiswüste zu laufen, aber seine Kraft war erschöpft.

Er bekam nicht mit, dass seine Augen für einige Momente genauso rot glühten, wie er es bei Thondaril gesehen hatte, als er den Meister zurückließ.

Zweimal versuchte er, sich den Dolch aus der Schulter zu ziehen, aber auch dazu fehlte ihm die Kraft.

Lautes Getöse veranlasste ihn, sich umzudrehen. Was er sah, ähnelte einem in die Höhe schießenden Geysir. Die Gestalt eines Riesen brach aus dem Eis hervor, und gleichzeitig spritzten ungeheuere Wassermassen in einer Fontäne gen Himmel. Die Hitze seiner entfesselten Wut hatte offenbar das Eis unter der Oberfläche geschmolzen. Brüllend stand der Riese da, eine bleiche, zottelige Gestalt in halb zerfallener Kleidung. Es mussten die Häute von Walen sein, die er sich einst als Gewand zusammengenäht hatte. Ein magischer Lichtflor umgab sowohl ihn als auch den Speerstein, denn das alte Heiligtum der Orxanier war wieder das, was es ursprünglich gewesen war: die Steinspitze eines gewaltigen Speers.

Gorian sah noch, wie der verschüttete Riese den Speer mit beiden Pranken umfasste und ihn dem Leviathan durch den Leib stieß. Er spießte den Riesenwurm regelrecht auf, hob ihn empor, und aus dem Maul des Leviathans fielen Wollnashornreiter und Frostkrieger, deren Schreie sich mit dem Gebrüll der beiden Giganten mischten.

Der Riese schleuderte den Speer mitsamt dem aufgespießten, sich daran windenden und vor Schmerz kreischenden Leviathan hoch in die Luft. Nach endlos langen Augenblicken schlug der Riesenwurm mit einem dumpfen Laut auf den gefrorenen Boden, der unter dem Aufprall erzitterte.

Dann stampfte der Riese davon und entschwand im grauen Dunst.

Das Letzte, was Gorian sah, war sein gewaltiger entschwindender Schatten. Danach umgab ihn nur noch Schwärze, und die tödliche Schwäche ließ ihn in sich zusammensinken.

Er fühlte noch, wie etwas nach ihm griff.

„Ich wollte helfen ... Aber ich hatte zu große Furcht, mich zu nähern ...“ Gorian wusste nicht einmal mehr, ob dies ein fremder Gedanke war, der ihn erreichte, oder die Reflektion seiner eigenen Erinnerungen.

Und dann war da plötzlich nichts mehr.

Nichts außer der Kälte des Todes ...

Epilog

Ein Ruck, dann ein schriller Laut, der von einem Greifen stammen musste.

Gorian öffnete die Augen und sah in Sheeras blass gewordenes Gesicht. Die Augen waren schwarz, gewannen aber für einen Moment ihre normale meergrüne Farbe zurück. „Habe ich dir nicht gesagt, dass unsere Schicksalslinien miteinander verwoben sind und ich dich eines Tages werde heilen müssen?“, empfing er ihren Gedanken.

„Was ...?“

Er versuchte sich aufzurichten, aber die Kraft eines Heilsteins, der auf seiner Schulter lastete, hinderte ihn daran.

„Centros Bal hat ganz schön Mühe, den Greifen so hoch zu halten, dass Morygors Aura nicht mehr auf uns wirkt“, sagte Thondaril und wandte sich herum, um Gorian anzusehen.

„Er ist erwacht“, stellte Sheera fest, und die Erleichterung war ihr anzuhören. „Morygors Aura ist hier offenbar bereits so schwach, dass er seine Kraft zurückgewinnt.“

„Sheera hat sich wirklich als mustergültige Heilerin bewiesen, als sie dir den Dolch entfernte“, war nun Torbas zu hören, der sich anscheinend ebenfalls etwas erholt hatte. Allerdings war er noch immer so bleich wie ein Untoter und wirkt sehr abgeschlagen.

„Was ist geschehen?“, fragte Gorian. „Wie komme ich hierher?“

„Der Gargoyle brachte dich zur Gondel“, berichtete ihm Sheera. „Du warst fast ohne Leben und furchtbar verwundet.“

„Ar-Don? Wo ist er?“

„Wieder fort.“

„Er muss uns die ganze Zeit über gefolgt sein. Und die Schwerter?“

„Sie sind hier“, sagte Thondaril und holte die Klingen herbei. In der rechten Hand hielt er Sternenklinge, in der linken Schattenstich. „Du hast es tatsächlich geschafft! Allerdings hast du beinahe einen zu hohen Preis dafür gezahlt. Drei Tage hat Sheera um dein Leben gerungen, und wäre sie nicht eine offenbar außerordentlich begabte Heilschülerin, wäre es um dich geschehen gewesen.“

„Leider hat sich Morygor mir nicht selbst zum Kampf gestellt, sondern einen seiner Lakaien geschickt, um mich zu erschlagen.“

„Hast du wirklich etwas anderes erwartet?“, fragte Thondaril. „Morygor geht kein Risiko ein. Er will die absolute Gewissheit des Sieges schon im Voraus.“

„Das ist ein Punkt, der uns wohl grundlegend unterscheidet.“

„Wer war es, den er schickte?“

„Ich glaube, es war Honyrr.“

Thondarils Gesicht wurde düster. „Der Gestaltwandler unter den Frostgöttern ...“

„Er wird mit seiner Gabe niemanden mehr verwirren.“

Der Meister des Schwertes und der Magie nickte bedächtig. Sein Blick war nach innen gekehrt, und seine Worte schienen mehr ihm selbst als Gorian zu gelten. „So hast du vollendet, woran ich scheiterte, mein Schüler.“

ENDE


Schwertmeister der Magie: Drei Fantasy Sagas auf 2500 Seiten

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