Читать книгу Schwertmeister der Magie: Drei Fantasy Sagas auf 2500 Seiten - Alfred Bekker - Страница 53
Kapitel 22: Basilisken
Оглавление„Ich muss Euch noch von Hochmeister Aberian erzählen“, sagte Gorian zu Meister Thondaril.
„Wenn es um seinen Verrat geht, ist das für mich nichts Neues. Meister Rhaawaan hat mich per Handlichtlesen darüber unterrichtet, dass Aberian die Bannsprüche aufgehoben hatte, sodass die Burg über keinen magischen Schutz mehr verfügte, und dies auf eine Weise, dass es nicht so einfach rückgängig zu machen war. Zuvor erzählte mir in Ameer ein sterbender Schattenmeister, dass Aberian auch dort an der Grenze die Bannsteine unwirksam machte, doch ich wollte es erst nicht glauben. Dann aber fügte sich eins zum anderen und ergab ein scheußliches Bild.“
„Ich habe versucht, Euch über Handlichtlesen zu erreichen, Meister“, sagte Gorian. „Aber das war nicht möglich, sodass ich schon befürchtete ...“
„... dass ich gefallen wäre?“
„Ja.“
Ein mattes Lächeln huschte über Thondarils sonst so hartes Gesicht. Das flackernde Lagerfeuer ließ Schatten darauf tanzen. Es brannte schlecht, weil das Holz feucht war. Eine Handbewegung und eine alt-nemorische Formel von Thondaril ließen die fast erlöschenden Flammen jedoch wieder auflodern.
„Das war der Sinn der Sache, Gorian“, antwortete er dann. „Jeder sollte denken, dass ich nicht mehr am Leben wäre – vor allem Hochmeister Aberian. Nur so hatte ich die Möglichkeit, ihn bei seinem Treiben auf frischer Tat zu ertappen. Aber ich kam zu spät. Wahrscheinlich war das Blatt ohnehin nicht mehr zu wenden.“
Am nächsten Morgen überschritten sie den gefrorenen Gont und zogen dann tagelang durch die Wildnis des Estlinger Landes. Der Frostwinter war schon sehr weit nach Süden vorgedrungen. Immer wieder kamen sie an verlassenen Siedlungen vorbei, die offenbar schon vor dem Angriff von Morygors Horden verlassen worden waren. Die Bewohner waren vor der Kälte nach Süden geflüchtet.
Während sich Torbas dafür entschieden hatte, allein auf einem Wollnashorn zu reiten und es seinem Willen zu unterwerfen, teilte sich Sheera nach wie vor eines der Tiere mit Gorian. Meister Thondaril ritt voran.
Abends, wenn sie am Lagerfeuer saßen, erzählte der zweifache Ordensmeister von seinen Erlebnissen in Ameer, wo die Streitmacht von Kaiser und Orden so vernichtend geschlagen worden war, wie niemals zuvor in ihrer Jahrtausende währenden Geschichte. „Das, was dort geschehen ist, wird die Grundfesten des Heiligen Reichs erschüttern und es vielleicht sogar zerstören“, befürchtete er. „Der gesamte Norden des Reiches wird nicht zu halten sein, und es wird sehr schwer werden, überhaupt noch irgendwo eine Widerstandslinie aufzubauen.“
„Man muss sich nur den Schattenbringer ansehen, wie er sich vor die Sonne schiebt, dann weiß man, wie groß unsere Chancen stehen“, meinte Torbas pessimistisch.
„Der Schlüssel zu allem ist Morygor selbst“, sagte Gorian. „Wenn ich seine Schicksalslinie kreuzen und ihm gegenübertreten könnte ...“
„Zunächst mal werden wir einiges dafür tun müssen, dass es für uns – dich eingeschlossen – überhaupt noch ein Schicksal gibt“, unterbrach ihn Torbas.
„Vielleicht hören wir uns erst mal an, welche Pläne Meister Thondaril hat“, lautete Sheeras Ansicht.
„Wir werden das tun, was ich Gorian schon anriet, bevor ich nach Ameer aufbrach.“
„Wir reisen ins Basilisken-Reich?“, entfuhr es diesem.
„Ja.“
„Das klingt nicht, als wolle er mit uns darüber diskutieren“, erreichte Gorian ein Gedanke von Sheera.
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Die Tage gingen ziemlich eintönig dahin. Sie nutzen die Helligkeit, um weiter nach Süden zu ziehen. Wenige Stunden Schlaf mussten in den Nächten genügen.
Ein Schwarm Eiskrähen tauchte einmal am Horizont auf, was Meister Thondaril sofort veranlasste, mit den Schülern Schutz in einem nahen Waldstück zu suchen. „Morygors Spione sind nicht zufällig hier“, war er überzeugt.
„Meint Ihr, sie sind noch auf der Suche nach uns?“
„Wahrscheinlich in erster Linie nach dir, Gorian.“
Wenn sie am Lagerfeuer saßen, nutzte Meister Thondaril häufig die wenigen Ruhestunden dazu, um durch Handlichtlesen Verbindung mit anderen Ordensmeistern aufzunehmen, etwa mit dem Gesandten des Ordens am Kaiserhof oder Ordensmeistern in allen Herzogtümern. So erhielt er nach und nach einen Überblick über die sich abzeichnende Lage, und die war geradezu deprimierend.
„Die Leviathane kriechen durch Estrigge und Nemorien, und es gibt niemand, der sie aufhalten könnte“, berichtete er seinen Begleitern. Zwar waren auch Gorian und die beiden anderen ehemaligen Ordensschüler des Handlichtlesens mächtig, aber nur Meister Thondaril hatte die nötigen Kontakte innerhalb des Ordens, um Neuigkeiten zu erfahren, und zudem hatte er Gorian strengstens untersagt, mit irgendjemandem, den er vielleicht kannte, Verbindung aufzunehmen. Aus Sicherheitsgründen.
„Ich hoffe, dass sich der Kaiser mit seinem Heer dem Feind entgegenstellt“, sagte Torbas. „Es ärgert mich, dass wir nicht dabei sein werden und uns stattdessen ins Basilisken-Reich davonmachen.“
„Dafür gibt es Gründe“, gab Thondaril streng zurück. „Gründe, die ich euch ausführlich erläutert habe. Davon abgesehen wird der Kaiser kein Heer entsenden. Er hat vielmehr den Hof in Olandor aufgegeben, um ihn nach Arabur in Laramont zu verlegen. Er soll bereits unterwegs in seine laramontische Stammlande sein.“
„Das Reich zerfällt“, stellte Sheera fest. „Es wird zerbrechen wie die Mauern der Ordensburg unter den Leibern der Leviathane.“
„Was ist mit dem Orden?“, hakte Gorian nach.
„Es gibt Pläne, irgendwo im Süden die überlebenden Meister zu versammeln und den Orden zu rekonstituieren. Aber das wird problematisch werden. Das Schwierigste dabei wird es sein, das Vertrauen zurückzugewinnen. Schließlich war unser Hochmeister ein Verräter.“ Thondarils Blick wurde düster, während er fortfuhr: „Ich gebe es ungern zu, Gorian, aber inzwischen denke ich manchmal, dass dein Vater recht hatte.“
Am Ufer des in der Eiswüste kaum noch sichtbaren Flusslaufs des Gont, dessen mäandernde Linie die Grenze zwischen dem Estlinger Land und Nemorien bildete, stießen sie auf ein Fischerdorf, dessen Einwohner auf schreckliche Weise niedergemetzelt und entstellt worden waren. Den Toten fehlten die Augen, und Fleischstücke waren aus ihren Körpern gerissen.
„Eiskrähen!“, murmelte Gorian.
„Der Feind ist schneller als wir“, stellte Thondaril fest.
„Folgen wir weiter dem Fluss bis Gontia?“, wollte Torbas wissen.
Thondaril schüttelte den Kopf. „Nein. Wir werden einen geraden Weg Richtung Omont nehmen.“
„Also über die Berge.“
Thondaril wandte sich nach Torbas um. „Du hast dir die Karten in der Ordensbibliothek gut eingeprägt.“ Er machte eine ausholende Geste und fuhr dann fort: „Aber präg dir auch die Dinge ein, die man am liebsten aus seinem Gedächtnis verbannen möchte, und vergiss nie, wozu unser Feind imstande ist.“
––––––––
Fast eine Woche waren sie bereits unterwegs, als sie die ersten Ausläufer des Estlinger Gebirges erreichten. Aber auch dort hatte der Frosthauch das Land fest in seinem Griff. In einer kleinen Siedlung am Fuß eines Bergmassivs übernachteten sie und deckten sich mit frischem Proviant ein. Die Preise, die dafür verlangt wurden, waren außergewöhnlich hoch, was daran lag, dass die Leute befürchteten, bald nicht genug für sich selbst zu haben. Und wahrscheinlich hatten sie recht damit, denn wann und ob es eine nächste Ernte geben würde, war völlig ungewiss. Immerhin war zu hören, dass es südlich der Berge, in Nomrigge und Omont, zurzeit deutlich wärmer sei, wie Reisende bezeugt hätten. Auf der Nordseite seien allerdings alle Pässe tief verschneit.
Zunächst waren die Einheimischen wegen der Wollnashörner sehr misstrauisch. Aber Thondarils Ordensmeister-Ringe erweckten Vertrauen.
„Ihr seid eine Legende, ehrwürdiger Meister“, sagte der Dorfälteste. „Thondaril, der Meister in zwei Ordenskünsten ... Wisst Ihr, dass man Lieder über Euch singt?“
„Ich fürchte, es wird bald niemand mehr hier sein, der diese Lieder zu singen vermag“, gab Thondaril bedrückt zurück. „Ich kann euch nur den Rat geben, alles zu nehmen, was ihr tragen könnt, und über die Berge zu ziehen, wenn ihr dem Verhängnis entgehen wollt.“ Er berichtete von dem Fall der Ordensburg, vom Vordringen der Leviathane und von den untoten Heeren, die aus den Bäuchen dieser Kreaturen strömten, und auch von den Eiskrähen, die in Schwärmen über die Dörfer herfielen.
„Dies ist unser Land, das uns seit hundert Generationen gehört“, sagte der Dorfälteste daraufhin. „Wir werden es nicht preisgeben!“
„Könnten wir nicht ein paar Bannsteine besprechen, um diese Leute wenigstens vor den Eiskrähen zu schützen?“, fragte Gorian später, als sie allein bei den Wollnashörnern waren, um sie zu versorgen.
„Dadurch verlieren wir wertvolle Zeit“, entgegnete Thondaril. „Du kannst nicht jedem helfen und nicht jeden retten wollen.“
„Sollen wir deswegen so mitleidlos wie unsere Gegner werden?“, fragte Gorian grimmig.
Thondaril dachte kurz nach und seufzte schließlich. „Also gut. Dann werden wir das jetzt gleich erledigen und auf den Schlaf, den wir eigentlich dringend benötigen, verzichten. Ich hoffe nur, wir werden es nicht später bereuen.“
Gorians Laune besserte sich schlagartig. „Ich danke Euch!“
„Es wird sich noch zeigen, ob du mich deswegen nicht noch verfluchen wirst“, grummelte der Schwert- und Magiemeister.
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Drei Tage später kampierten sie bereits mitten in den Höhenzügen des Gebirges, das die Grenze zwischen dem Estlinger Land und den Herzogtümern Nomrigge und Omont im Süden bildete. Die Wollnashörner hatten wenig Mühe mit den Steigungen, was die drei Ordensschüler zunächst erstaunte, bis ihnen Meister Thondaril erklärte, dass diese Tiere ungezähmt bis in die kältesten Gebirgszüge von Eisrigge und Nord-Orxanien zu finden seien.
Gorian schlief schlecht und erwachte irgendwann wegen der grausamen Kälte. Das Feuer hatte von Anfang an nicht richtig gebrannt und war trotz magischer Unterstützung in der Nacht verloschen.
„Ich finde dich überall ...“
Die Gedankenbotschaft, die er auf einmal empfangen hatte, war von einfacher Klarheit und eindeutiger Eindringlichkeit – ganz anders als der chaotische Schwall von Bildern und Empfindungen, der danach auf ihn eindrang.
Ein Schatten schnellte über den nächtlichen Himmel, und dunkle Schwingen hoben sich gegen das fahle Mondlicht ab. Dann landete das katzengroße Wesen drei Schritte von Gorian entfernt im Schnee und veränderte seine Farbe zu einem leuchtenden Purpur.
Ar-Don hatte ihn erneut gefunden!
„Mich vermisst?“
„Ich dachte, du wärst ...“
„... tot?“
Fast hatte Gorian den Eindruck, dass sich das Gesicht des Gargoyle zu einem Lächeln verzog – oder zu dem, was für seinesgleichen vielleicht eins sein mochte.
„Solltest mich besser kennen ...“
In diesem Moment schreckte Thondaril aus dem Schlaf und von seinem Lager hoch. Er musste die Anwesenheit des Gargoyle gespürt haben, denn Ar-Don hatte sich bisher vollkommen lautlos verhalten. Der Ordensmeister griff sofort zum Schwert und stieß einen Kraftschrei aus. Es bedurfte nicht der Voraussicht eines Schwertmeisters, um seine Absicht zu erkennen.
Aber Gorian war nicht gewillt, das zuzulassen. Auch er sprang auf und stellte sich Thondaril in den Weg.
„Nein!“, rief er, und dieser Ruf ging übergangslos in einen Kraftschrei über, der Thondarils niedersausende Klinge abbremste.
Der zweifache Ordensmeister hielt in der Bewegung inne. „Das ist eine Kreatur Morygors!“, rief er.
„Dieses Wesen hat mich vor Morygors Schergen gerettet und sich meinetwegen zerschlagen lassen“, gab Gorian zurück. „Einmal übrigens von Euch, wenn mir diese Bemerkung gestattet ist.“
Ar-Don stieß ein Fauchen aus, das dann allerdings in ein katzenhaftes Wimmern überging.
Thondaril ließ die Klinge sinken und atmete tief durch, wobei sich in der eisigen Luft Wölkchen vor seinem Mund und seiner Nase bildeten. „Du denkst doch wohl nicht allen Ernstes daran, dass uns dieses Wesen auf unserer Reise begleitet?“
„Ich fürchte, so wird es sein“, entgegnete Gorian. „Auf irgendeine Weise scheinen unsere Schicksalslinien miteinander verwoben, auch wenn ich den Grund dafür nicht begreife. Aber Ar-Don hat bewiesen, dass er ein Verbündeter ist. Er hat mir in der Kanzlei des Hochmeisters geholfen, als drei Schattenmeister mich angriffen, die wie Aberian Verräter waren. Wollte er mir Übles, hätte er nichts anderes zu tun brauchen, als sie ihr Werk vollenden zu lassen.“
Meister Thondaril streckte die freie Hand aus und ließ daraus einen Blitz hervorzischen, mit dem er das Feuer wieder anzufachen versuchte. Es gelang erst beim dritten Mal, so feucht war das Holz. „Ich gebe dir trotzdem einen guten Rat, Gorian: Vertrau einer solchen Kreatur niemals!“
„Seltsame Freunde hast du“, lautete Torbas' Kommentar, der wie Sheera inzwischen längst erwacht war. Er schien Thondarils Abneigung gegenüber Ar-Don zu teilen.
Sheera hingegen hatte offenbar keinerlei Furcht vor dem Gargolye. Auch sie hatte sich inzwischen von ihrem Lager erhoben und näherte sich ohne irgendeine erkennbare Vorsicht dem steinernen Wesen, kniete vor ihm nieder und berührte den Nacken der katzengroßen Kreatur. Das Fauchen, das zunächst zwischen den nadelartigen Steinzähnen des kleinen Monstrums hervordrang, wurde zu einem Hauchen, nicht lauter als ein heftiger Atemzug.
Sheeras Augen schimmerten zunächst grünlich und füllten sich dann mit purer Schwärze. „Dieses Wesen ist arg verwundet worden“, sagte sie schließlich. „Schlimmer, als dass irgendein noch so begabter Heiler ihm helfen könnte ...“
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Ar-Don folgte ihnen an den nächsten Tagen mit einigem Abstand. Manchmal war er für Stunden hinter den zurückliegenden Anhöhen verschwunden und tauchte dann urplötzlich wieder auf. Am vierten und fünften Tag allerdings war keine Spur von ihm zu entdecken.
„Diese Kreatur hat ihren eigenen Willen, Gorian“, versuchte Thondaril das Verhalten des Gargoyle zu erklären. „Und du wirst sie niemals richtig einschätzen können.“
Zwei Tag später sahen sie unter sich bereits die grünen Landschaften Nomriggens. Noch waren die Gebirgszüge im Süden des Estlinger Landes eine Barriere für die grausame Kälte, die den Leviathanen Morygors den Weg ebnete. „Seht euch dieses Land gut an und behaltet es in Erinnerung“, mahnte Meister Thondaril, der sein Wollnashorn hatte anhalten lassen. „So wird es vielleicht nie wieder sein.“
Der Schattenbringer bedeckte die Sonnenscheibe noch weitaus mehr als vor dem Angriff auf Grontland und die Ordensburg. Fahl und kraftlos wirkte sie.
„Seht, dort hinten!“, rief Torbas plötzlich und deutete nach Nordosten, wo hinter einer Bergkette ein Greif mit einer Gondel hervorgetaucht war. Mit kräftigem Flügelschlag mühte er sich ab, die Höhenzüge zu überwinden.
„Das ist der Greif von Centros Bal“, war Gorian im nächsten Moment überzeugt. „Er scheint sich auf der verspäteten Reise von den Mittlinger Inseln ins Basilisken-Reich zu befinden.“
„Und für eine Verspätung gibt es ja durchaus nachvollziehbare Gründe“, knurrte Thondaril. „Er kann froh sein, es überhaupt bis hier geschafft zu haben.“ Der Meister des Schwertes und der Magie zog einen Handschuh aus, hielt die offene Handfläche empor, und innerhalb weniger Augenblicke bildete sich eine flimmernde Lichtaura, in der Schriftzeichen und Runen wild durcheinandertanzten, bis sie sich zu einem Text geordnet hatten. „Ich werde Centros Bal eine kurze Botschaft zukommen lassen“, erklärte Thondaril dazu.
Die Lichtaura hatte inzwischen die Größe eines menschlichen Kopfes angenommen, doch was dort geschrieben stand, vermochten weder Gorian noch Sheera vollständig zu erkennen. Mit einem Kraftschrei stieß Thondaril die Aura in die Höhe, woraufhin sie dem Greifen entgegenflog und beständig beschleunigte. Schließlich war sie so schnell wie ein Blitz und erreichte den aus dieser Entfernung winzig wirkenden Greifenreiter, bei dem es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Centros Bal persönlich handelte, denn der überließ ja nur äußerst ungern einem anderen die Führung seines Flugtiers.
Was auch immer genau in der Botschaft stand, Centros Bal reagierte darauf, indem er den Greifen dazu veranlasste, die Flugrichtung geringfügig zu ändern. Mit mächtigem Flügelschlag kam das riesenhafte Wesen auf die Flüchtlinge zu.
„Er wird uns mit nach Basaleia nehmen“, kündigte Thondaril an. „Dadurch gewinnen wir wertvolle Zeit.“
Centros Bal ließ seinen Greifen samt Gondel im Schnee des Hochpasses landen. Er befand sich tatsächlich auf dem Rückflug von den Mittlinger Inseln und hatte die Laderäume voller Bernstein, den er nach Basaleia, die Hauptstadt des Basilisken-Reichs, schaffen wollte. Um die Wollnashörner zu transportieren war daher kein Platz, weshalb sie einfach freigelassen wurden.
„Wahrscheinlich ist es gleichgültig, wohin sie laufen, denn Omrigge und Omont werden bald eine genauso eisige Einöde sein, wie es die nördlicheren Herzogtümer schon sind“, meinte Thondaril.
Dass Centros Bal bereit war, die vier Flüchtige mitzunehmen, entsprang keineswegs nur reiner Menschenfreundlichkeit. Thondaril versprach ihm, dass der Orden ihn großzügig dafür entlohnen würde. Auch wenn die Ordensburg zerstört und sein Hochmeister ein Verräter gewesen war, so bedeutete dies nicht, dass der Orden selbst nicht mehr existierte. Überall im Heiligen Reich hatte er Besitzungen, und oft genug hatte er in der Vergangenheit auch den einen oder anderen Kaiser mit einem Kredit zur Macht verholfen oder ihn dort gehalten. Unter anderem hatte der Orden eine eigene Gesandtschaft in Basaleia, wo Centros Bal sein Lohn ausgezahlt werden sollten. Wahrscheinlich war außer Thondaril kaum noch ein Mitglied des Entscheidungskonvents am Leben, doch der Schwert- und Magiermeister hatte genug Befugnisse, um jederzeit über größere Beträge verfügen zu können.
Beim Flug über Nomrigge und Omont ließ sich Centros Bal von seinem Zweiten Greifenreiter Fentos Roon vertreten, um mit seinen Passagieren in der Gondel sitzen zu können. Beide Seiten hatten viel zu erzählen.
„Ich musste einen weiten Umweg nach Osten machen“, berichtete Centros Bal. „Die Mittlinger See ist nahezu völlig zugefroren, und die Leviathane dringen auf breiter Front gen Süden vor. Ganz Nemorien und Pantanela dürften schon von diesem Unheil erfasst sein und auch weite Gebiete des Ogerlandes. Über die Mittlingeer Inseln brach das Verhängnis ein, kurz nachdem wir das Gebiet verlassen hatten. Es sieht wohl überall ziemlich hoffnungslos aus.“
„Ich denke, dies wird für lange Zeit Euer letzter Greifenflug in den Norden gewesen sein“, sagte Thondaril.
Gorian wandte sich an Torbas. „Wenn die Leviathane so schnell nach Süden dringen, dürften sie längst Thisilien erreicht haben.“
„Muss man wohl annehmen“, erwiderte Torbas mürrisch. „Aber es soll mir gleichgültig sein. In meiner Heimatstadt lebt schon lange niemand mehr, der mir etwas bedeutet.“
„Und deine Eltern?“
„Sind schon vor Jahren gestorben, als der Blaue Tod die heiligreichischen Häfen eine nach dem anderen heimsuchte“, antwortete der Thaskarener. „Ich wuchs in einem städtischen Waisenhaus auf, habe mich anschließend als Bettler und Dieb durchgeschlagen und war Kunstbogenschütze auf dem Jahrmarkt. Dass ich die Pfeile mit Magie beeinflusste, war mir nicht bewusst, bis mich ein Ordensmeister ansprach ...“
„Das wusste ich nicht.“
Torbas verzog das Gesicht. „Ich habe dir doch gesagt, dass du im Grunde nichts über mich weißt.“
„Wer ...“ Gorian stockte und sprach nicht weiter.
Torbas begegnete seinen Blick. „Na los, frag, was du wissen willst?“
„Wer war der Ordensmeister, der dich angesprochen und dazu gebracht hat, ein Ordensschüler zu werden?“
„Spielt das jetzt noch eine Rolle?“
„Ist es ein Geheimnis?“
„Es war Hochmeister Aberian.“
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Der Greif folgte dem Fluss Om bis zu seiner Mündung ins Laramontische Meer, was einige Tage dauerte. Danach flog er die Küste entlang bis zum Fjord von Naraig. Dort lag Basaleia, die Stadt der zehntausend Türme.
Sie machte den Eindruck, als hätten ihre Erbauer darum gewetteifert, wer von ihnen der Sonne am Nächsten kommen würde. Tatsächlich stammten auch einige der berühmtesten Sterndeuter aus Basaleia. Oben in den Türmen lebten die Basilisken, Wesen, deren Oberkörper an einen Hahn erinnerte, während der Unterleib der einer Schlange war. Ihre Größe war unterschiedlich, und es gab Basilisken mit und ohne Flügel. Giftiger Atem und die mitunter tödliche Magie ihres Blickes ließen sie ein großes Reich beherrschen, in dem ihr eigenes Volk nur eine kleine Minderheit darstellte. Mehrheitlich lebten Menschen, Schlangenmenschen, Menschenschlangen und Angehörige einiger versprengter Oger-Völker in diesem Reich.
Die Angehörigen dieser Völker wohnten allerdings nicht in den Türmen von Basileia; dort arbeiteten sie höchstens als Dienstpersonal. Sie lebten in den zahlreichen kleinen Häusern, die in den Schatten der vielen Türme standen, so als wären sie von einem künstlichen Wald umgeben.
Die Straßen dort waren von unzähligen Rikscha-Fahrern verstopft, die zumeist von Ogern gezogen wurden, aber auch hin und wieder von Menschenschlangen, die in den Rikscha-Geschirren steckten. Sie hatten einen menschenähnlichen, allerdings durchweg sehr schmalen Oberkörper und wie die Basilisken den Unterleib einer Schlange. Wie aufgerichtete melagosische Kobras bewegten sie sich über den Boden und zogen dabei die Rikschas hinter sich her.
Gondeln verkehrten vom Boden aus in die oberen Geschosse der Türme und wurden von menschengroßen Riesenlibellen getragen, deren erstaunliche Kraft offenbar von einer geheimen Form der Basilisken-Magie herrührte.
„Die Riesenlibellen sind Züchtungen der Basilisken-Magier“, erklärte Thondaril, während er durch eines der Fenster der Greifengondel auf den schwirrenden Luftverkehr in und um Basileia blickte, der die Stadt wie einen wimmelnden Bienenstock wirken ließen.
„Sollen nicht auch die Schlangenmenschen und Menschenschlangen durch magische Experimente entstanden sein?“, fragte Sheera.
„Ja, so heißt es. Die Basilisken habe immer wieder versucht, Geschöpfe zu erschaffen, die besser geeignet sind, ihnen zu dienen, als Menschen und Oger.“
„Die Heilerin Hebestis äußerte während des Unterrichts immer wieder ihr Bedauern, dass uns nicht dasselbe Wissen über die Natur des Lebens zur Verfügung stehe wie den Basilisken-Magiern.“
Thondaril lächelte, aber sein Gesicht behielt dabei die harten Konturen. „Ein Basilisken-Magier würde eher sterben, als diese Geheimnisse Außenstehenden anzuvertrauen“, war er überzeugt. „Viele Menschenschlangen und Schlangenmenschen verfügen über keinerlei eigenen Erwerbssinn“, fuhr er dann mit seiner Erläuterung fort. „Sie dienen ohne Gegenleistung und sind zufrieden damit, Sklave zu sein. Das drückt natürlich die Löhne der Menschen- und Oger-Angestellten.“
Centros Bal ließ es sich nicht nehmen, seinen Greif höchstpersönlich durch die Turmstadt zu steuern. Meister Thondaril hatte ihm zuvor beschrieben, wo das Haus der Ordens-Gesandtschaft zu finden war, in dem Meister Yvaan residierte. Für heiligreichische Verhältnisse wäre dieses am Fuß eines hohen Turms gelegene Gebäude durchaus groß gewesen. Doch mit seinen fünf Stockwerken wirkte es im Schatten der Türme nahezu winzig. Dennoch war es von Baumeistern aus Mitulien errichtet worden, die im Basilisken-Reich einen besonders guten Ruf genossen.
Mehrmals gab es auf dem Flug dorthin Beinahezusammenstöße mit den Libellen-Gondeln und ihrem Vertikalverkehr hoch zu den Turmspitzen. Centros Bal musste seine gesamte Flugkunst als Greifenreiter aufbieten, um schließlich sicher neben der Gesandtschaft zu landen. Ein paar Tage hatte er für den Aufenthalt in Basaleia eingeplant – so lange, bis er den Bernstein, den er in den Laderäumen seiner Gondel transportierte, verkauft hatte. In dieser Hinsicht machte er sich keine Sorgen. Das bräunlich schimmernde Gold der Mittlinger See würde man ihm hier geradezu aus den Händen reißen.
Meister Yvaan empfing Thondaril, Gorian, Torbas und Sheera in der Eingangshalle der Gesandtschaft. Centros Bal war ebenfalls mitgekommen, denn er erhoffte sich von Meister Yvaan die Vermittlung von geschäftlichen Kontakten in der Stadt. Ein Schlangenmensch mit dem Körper eines Menschen und dem Kopf einer Schlange brachte Getränke.
Wie alle anderen schwitzte Gorian, denn es war heiß in Basaleia. Obwohl der Schattenbringer die Sonne auch in diesem Land verdunkelte, schien sie hier mehr Kraft zu haben als in den nördlicheren Gebieten.
„Wie ich sehe, habt Ihr Euch der Lebensart dieser Stadt bereits angepasst, Meister Yvaan“, stellte Thondaril fest und wies mit der Hand auf den Schlangemenschen. „Ich hoffe nicht, dass Ihr Euch auch noch den versteinernden Basilisken-Blick angeeignet habt.“
„Der ist nur den Angehörigen des Königsgeschlechts eigen“, entgegnete Meister Yvaan mit einem hintergründigen Lächeln.
„Eine Fähigkeit, die gewiss die Herrschaft dieses Geschlechts zu sichern hilft“, meinte Thondaril.
Yvaan, der den Ring eines Schwertmeisters an der Hand trug, lachte. „Gewiss – und ich bin überzeugt, so mancher Kaiser hat den Basilisken-König schon um seine Gabe beneidet.“
Thondaril und Yvaan hatten in letzter Zeit immer wieder durch Handlichtlesen in Verbindung gestanden. Der Gesandte des Ordens war daher über die deprimierenden Neuigkeiten bestens informiert, zumal ihn ständig weitere Nachrichten von anderen Ordensangehörigen erreichten, von überall, wo der Orden aktiv war.
Yvaan wandte sich an Gorian. „Meister Thondaril hat mich schon vieles über dich wissen lassen“, sagte er. „Und ich teile seine Hoffnungen.“
„Wir müssen das Basilisken-Reich als Verbündeten gewinnen“, kam Gorian ohne Umschweife zur Sache. Seiner Meinung nach musste so schnell wie möglich gehandelt werden, um dem Verhängnis zumindest Einhalt zu gebieten, das sich scheinbar unaufhaltsam ausbreitete.
„Ich war nicht untätig“ erklärte Yvaan lächelnd. „Morgen ist ein Treffen im Königsturm vorgesehen, und es scheint, dass man unserem Anliegen am Hof des Basilisken-Herrsches durchaus gewogen ist.“
Thondaril stieß Gorian leicht mit dem Ellbogen an, da dieser die gedankliche Ermahnunge seines Lehrers ignoriert hatte. „Verzeiht mir meine Ungeduld“, sagte Gorian daraufhin zu Meister Yvaan. „Ich wollte Eure Bemühungen keineswegs in Frage stellen.“
„Das weiß ich doch, Gorian. Aber du musst tatsächlich noch lernen, dich in Geduld zu üben, bevor man dir die geistige Selbstbeherrschung eines Meisters attestieren kann. Viele glauben, dass es nur auf die Beherrschung der Alten Kraft ankommt. In Wahrheit aber ist die Beherrschung des eigenen Selbst das Wichtigste, was ein Meister lernen muss, und das gilt für die Angehörigen aller Häuser.“
Meister Yvaan schien keinerlei Zweifel daran zu hegen, dass der Orden weiterhin existierte und sich neu formieren würde.
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In der Nacht schreckte Gorian aus einem Traum hoch. Er sah den Schattenbringer vor die Sonne ziehen, sodass nur noch ein schmaler Lichtkranz von ihr blieb.
Senkrecht und schweißgebadet saß er in dem winzigen Gemach, das man jedem von ihnen im basaleianischen Gesandtschaftshaus des Ordens zur Verfügung gestellt hatte. Sie glichen in Ausstattung und Einrichtung den Zellen auf der Ordensburg, schließlich waren sie vornehmlich für Ordensmitglieder bestimmt, denen es auch während eines Aufenthalts in der Fremde ermöglicht werden sollte, ihre Geistesübungen in der dafür nötigen Abgeschiedenheit durchzuführen.
Der Traum hatte Gorian sehr aufgewühlt.
„Es ist nichts geschehen. Wir sind in Sicherheit. Zumindest zurzeit“, erreichte ihn ein Gedanke von Sheera, die, obwohl in ihrer eigenen Zelle liegend, seine innere Unruhe – ja, seine Furcht - gespürt haben musste.
Ja, es war ein Angsttraum gewesen, das wurde Gorian in diesem Augenblick klar. Angst davor, dass all die großen Ziele, die er sich gesetzt hatte, nicht zu erreichen waren. Angst davor, jämmerlich zu scheitern, weil er es mit Mächten zu tun hatte, gegen die auch jemand, der im Zeichen eines fallenden Sterns geboren worden war, nichts ausrichten konnte.
Als er gegen Morgen wieder einschlief, träumte er den gleichen Traum ein zweites Mal. Aber diesmal verwandelte sich die dunkle, nur von einem schwachen Lichtflor umgebene Sonne in ein Gesicht.
Es war Morygors junges Caladran-Gesicht!
Und es lachte triumphierend.
„Ich weiß, wo du bist, du Narr! Hast du wirklich gedacht, du könntest mir entfliehen? Dein Vater wusste das besser, aber der war ja auch ein geprüfter Meister und kein großmäuliger Anfänger! Auserwählt bist du ...“ Das Gelächter wurde schmerzhaft schrill. „Ein auserwähltes Opfer!“
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Am nächsten Tag suchte ein Schlangenmensch das Gesandtschaftshaus von Meister Yvaan auf. Er brachte ein paar glatte schwarze Steine, jeweils so groß wie ein Fingernagel. In der Mitte hatte jeder dieser Steine ein Loch, durch das ein Lederband gezogen war.
„Das sind Sprechsteine“, erklärte Yvaan seinen Gästen. „Sie übersetzen die eigenen Worte in eine beliebige fremde Sprache und die Worte eines Fremden in die eigene.“
„Eine großartige Erfindung!“, fand Gorian.
„Es ist Basilisken-Magie, die wir nicht ganz zu durchschauen vermögen, und man macht uns dieses Geschenk nicht ohne Grund. Es bedeutet, dass euer aller Anwesenheit bei Hof erbeten ist, wenn ich mich mit dem Herrscher treffe.“
„Man weiß am Hof des Basilisken-Königs über uns Bescheid?“, fragte Meister Thondaril.
„Natürlich, was dachtet Ihr denn?“, erwiderte Yvaan. „Ich nehme an, dass man von euch Neuigkeiten über die Lage im Norden erwartet. Aber ihr werdet jegliche Bewaffnung ablegen müssen, ja, sogar jegliches Metallstück, das ihr bei euch tragt. Die Mitglieder des Basilisken-Königshauses können durch Blicke den Willen ihres Gegenübers brechen, ihn sogar erstarren lassen oder gar töten. Das einzige Mittel dagegen ist ein Metallspiegel. Würde der Blick des Basilisken-Königs reflektiert, bekäme er dessen Wirkung selbst zu spüren.“
„Dann habe ich für diese Maßnahme vollstes Verständnis“, mischte sich Torbas mit spöttischem Unterton ein.
„Am Hof ist daher sämtliches Metall verboten. Kein glänzender Silberschmuck, keine Haarspangen, keine Gürtelschnallen, keine Schwerter und keine Lanzen mit Metallspitzen, keine Harnische ...“
Gorian sah zu dem Schlangenmensch hin, der vom Hof gesandt worden war, und ihm fiel auf, dass er tatsächlich nicht ein einziges Metallstück am Körper trug.
Yvaan schien Gorians Gedanken zu erraten. „Die Palastwachen tragen Schwerter aus Obsidian.“
„Das bedeutetet, es ist nicht ganz ungefährlich, dem Basilisken-König gegenüberzutreten“, stellte Sheera fest.
„Man ist in diesem Land der Ansicht, dass man einen Herrscher fürchten sollte“, erklärte Yvaan.
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Eine Riesenlibellen-Gondel kam, um sie zum Palast-Turm des Königs zu bringen. Gorian musste sein Schwert, den Rächer und alles andere, was von seinem spärlichen Eigentum aus Metall war, ablegen und in der Gesandtschaft zurücklassen, darunter auch das Amulett mit Morygors Caladran-Rune, das Hochmeister Aberian bei sich getragen und mit einem Illusionszauber in seiner äußeren Erscheinung verändert hatte.
Thondaril sah dies, ließ sich das Amulett geben und betrachtete es eine Weile. Gorian brauchte ihm nichts zu erklären, Thondaril erkannte es trotz der veränderten Erscheinung mithilfe der Magie sofort wieder. „Wir hätten alle erkennen können, was mit Hochmeister Aberian los war, hätten wir richtig hingeschaut“, sagte er düster. „Aber wir ließen uns auf sehr einfache Weise täuschen, selbst erfahrene Meister!“
„Vielleicht wollten manche die Wahrheit gar nicht sehen“, gab Gorian zurück.
Die von der Riesenlibelle getragene Gondel brachte Meister Yvaan sowie Gorian und seine Gefährten zum Palast-Turm des Basilisken-Königs, der aus all den sich dem Himmel entgegenreckenden schlanken Bauwerken noch einmal ein ganzes Stück herausragte.
An seiner Spitze wurde der Turm breiter und hatte von seiner Form her Ähnlichkeit mit einer sich entfaltenden Blüte. Es gab dort einen Landeplatz für die Libellen-Gondeln, auf dem reger Betrieb herrschte.
Meister Yvaan und seine Begleiter stiegen aus, Gorian ließ staunend den Blick schweifen, und Torbas meinte: „Gegen die Baukunst der Basilisken wirken sämtliche Städte des Heiligen Reichs nur wie kleine Hüttendörfer.“
Schlangenmenschen-Diener brachten die Gruppe ins Innere des Palastes. Zunächst wurden alle noch einmal nach Metall durchsucht. Das übernahmen grobschlächtige Oger-Söldner.
„Man verlässt sich hierzulande ungern nur auf magische Mittel“, erläuterte Meister Yvaan.
Danach erfolgte eine Musterung durch einen geflügelten Basilisken, dessen Blick zwar nicht tödlich war, wie man es von den Mitgliedern des Königshauses berichtete, dafür aber jede Art von Metall zu erkennen vermochte, und war es noch so gut verborgen.
Der Basilisk gab in seiner zischelnden Sprache Anweisung, wie man sich aufzustellen hatte. Die Laute aus seinem Schnabel hätte keine menschliche Zunge nachzuahmen vermocht, aber durch die sprechenden Steine, die jeder der Gäste vor der Brust trug, wurde ihnen jedes Wort übersetzt; die Steine flüsterten es ihnen mit einer Gedankenstimme zu.
„Ich hoffe, die Dinger müssen wir nicht wieder abgeben“, äußerte Torbas.
„Untersteh dich“, mahnte Meister Yvaan. „Das sind Geschenke, und sie zurückzugeben wäre die schlimmstmögliche Beleidigung für unseren Gastgeber.“
Dann betraten sie den Thronsaal.
Der Basilisken-Herrscher saß auf einem Thron, der seinem Körperbau angepasst war. Sein Schlangenleib hatte fast die Dicke eines Wollnashorns, und der Hahnenkopf trug eine Krone, die allerdings kein Metall enthielt, sondern aus mit Edelsteinen besetztem Ebenholz bestand. Die roten Augen kennzeichneten ihn als Mitglied des Königshauses. Und vor diesen Augen nahm man sich besser in Acht.
Am Vorabend hatte Meister Yvaan davon berichtet, dass alle Basilisken, die solche Augen hatten und nicht einem königlichen Ei-Gelege entschlüpft waren, sofort getötet wurden. Das Königshaus wollte keinerlei Konkurrenz entstehen lassen. Zumindest nicht außerhalb der eigenen Verwandtschaft.
Mit Obsidian-Schwertern bewaffnete Schlangenmenschen flankierten den Thron, aber angesichts der furchtbaren Kraft seiner Augen schien der Basilisken-König, dessen genauer Name für keine menschliche Zunge auszusprechen war, auf deren Hilfe gar nicht angewiesen zu sein. Die Krieger hatten wohl eher eine dekorative Funktion.
Ansonsten waren Hunderte von anderen Basilisken in unterschiedlichster Art und Größe anwesend. Man konnte an ihren Augen erkennen, wer von ihnen ein Verwandter des Königs war. Außerdem gab es Menschenschlangen-Diener, die mit ihren Schlangenkörpern über den Boden rutschten, während sie mit den Armen und Händen ihres menschenähnlichen Oberkörpers Getränke reichten.
Zischelnde Laute drangen aus dem Schnabel des Basilisken-Herrschers. Der Sprechstein, den Gorian trug, übersetzte ihm unmittelbar deren Bedeutung.
„Geht! Alle hinaus! Sofort! Bis auf einen!“, rief der Basilisken-König. Er beugte sich vor. Sein Hahnenschnabel öffnete sich weit, und er sah Gorian direkt an.
„Solange die Augen nicht glühen, ist ihr Blick ungefährlich“, raunte Yvaan dem jungen Ordensschüler zu.
„Du bleibst hier!“, befahl der Basilisken-König Gorian.
„Habt Ihr die Loyalität des Herrschers vielleicht falsch eingeschätzt?“, flüsterte Thondaril dem anderen Schwertmeister zu.
„Schweigt!“, zischte Yvaan. „Wenn Ihr ihn verärgert, überlebt Ihr das nicht!“
„Ich habe eine Botschaft für dich, Gorian, im Zeichen des fallenden Sterns Geborener!“, sagte der Herrscher mit seiner zischelnden Stimme, und die Sprechsteine übersetzten es den Menschen.
Woher wusste er, wer Gorian war? Allein durch Basilisken-Magie?
„Trau ihm nicht“, flüsterte Sheera.
„Mir wird nichts anderes übrig bleiben, fürchte ich.“
Auch wenn es Meister Thondaril missfiel, so mussten er und alle anderen den Raum verlassen. Selbst die Schlangenmenschen-Wächter zogen sich zurück. Daraufhin war Gorian allein mit dem Basilisken-Herrscher.
„Komm näher!“
Gorian gehorchte. Bis auf ein halbes Dutzend Schritte trat er auf die rotäugige Kreatur auf dem Thron zu.
Unter seinem massigen Schlangenkörper zog der Basilisken-König eine vogelähnliche Klaue hervor, die etwas umschlossen hielt. Die Klaue passte größenmäßig nicht zu den gigantischen Ausmaßen des übrigen Körpers und wirkte wie eine Fehlbildung.
Er streckte Gorian die Klaue entgegen, öffnete sie und zeigte Gorian ein Amulett mit Morygors Caladran-Rune. Der einzige Unterschied zu dem Amulett, das Hochmeister Aberian bei sich getragen hatte, war das Material: Dieses hier bestand aus dunklem Holz.
„Ein Bote war hier und bat mich, dir dies zu geben, sobald du Basaleia erreichst.“
„Was für ein Bote?“
„Nimm das Amulett.“
Gorian gehorchte, nahm dem Basilisken-Herrscher das Amulett aus der Klaue, die dieser daraufhin wieder unter seinem Körper verschwinden ließ.
Aus der Caladran-Rune zuckte ein Lichtstrahl und bildete eine leuchtende ovale Sphäre. Das Bild einer eisbedeckten Landschaft erschien darin. Und ein Stein, der säulenartig aus dem Weiß von Eis und Schnee herausragte. Er hatte die Form einer Speerspitze und war so hoch wie einer der kleineren Türme von Basaleia.
„Der Runenstein von Orxanor!“, entfuhr es Gorian. Er war das uralte Heiligtum der Orxanier, und von seinem Vater wusste er, dass sein Großvater Erian dort an einer gewaltigen Schlacht gegen Morygors Horden teilgenommen hatte, in der es wohl ein letztes Mal gelungen war, der Ausdehnung des Frostreichs Einhalt zu gebieten, wenn auch nicht dauerhaft.
Der Stein mit der Form einer Speerspitze war überall in den Ländern von Ost-Erdenrund bekannt, und es rankten sich viele Geschichten darum, unter anderem auch die Legende von einem orxanischen Riesengeschlecht, das nur aus Stein gehauene Werkzeuge gekannt und dieses eine hinterlassen habe, bevor das gesamte Volk durch das Weltentor von Torheim entschwunden sei.
„Sieh weiter!“, forderte der Basilisken-Herrscher.
Ganz oben ragten zwei Schwerter aus dem Runenstein, den man auf den Torlinger Inseln auch den Speerstein nannte, ein Begriff, der sich später in fast allen Gebieten des Heiligen Reichs verbreitet hatte. Nur in Thisilien und Estrigge sprach man noch immer vom Runenstein.
Gorian erkannte die Schwerter sofort wieder: Schattenstich und Sternenklinge, die sein Vater aus dem Metall des Sternenstücks schuf, das in der Nacht seiner Geburt vom Himmel gefallen war ...
„Diese Schwerter stellen für dich einen unschätzbaren Wert dar“, stellte der Basilisken-Herrscher fest. Die Sphäre löste sich auf. „Morygor ...“
„Steht Ihr auf seiner Seite?“, fuhr Gorian dazwischen.
„Er ist bereit, dir die Schwerter zu überlassen. Du brauchst sie dir nur zu holen. Da du den Ort kennst, spricht nichts dagegen, sofort dorthin aufzubrechen.“
„Nein!“, widersprach Gorian heftig. „Das ist eine Falle.“
„Einen Herrscher sollte man fürchten. Jeder im Basilisken-Reich fürchtet mich. Ich aber bin klug genug, Morygor zu fürchten.“
Gorian ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten. Wieder war ihm Morygor einen Schritt voraus gewesen. Er hatte die Schicksalslinie erkannt, während Gorian wie ein blinder Narr dastand, der versuchte, mit einem Schwert um sich zu schlagen, ohne etwas sehen zu können.
„Du fragtest nach dem Boten. Deine Neugier soll gestillt werden, Gorian aus Twixlum“, übersetzte der Sprechstein die gezischelten Laute des Basilisken-Herrschers.
Eine Tür seitlich des Throns öffnete sich, und eine Gestalt im dunklen Umhang betrat den Audienzsaal. Sie hatte die Kapuze über den Kopf gezogen, schlug sie nun aber zurück.
„Wir haben uns einige Zeit nicht gesehen“, sagte eine dunkle, brüchig klingende Stimme.
„Matos!“, entfuhr es Gorian. „Matos aus Pantanela! Ich dachte, du wärst ...“
„... tot?“
Gorian sah das bleiche Gesicht des jungen Meisters, mit dem er einige Zeit durch Handlichtlesen in Verbindung gestanden hatte. Seine starren und blicklosen Augen hatten schwarze Ränder, ein verzerrtes Lächeln spielte um dünn gewordene, wie dunkle Striche wirkende Lippen.
„Du bist zu einer untoten Kreatur Morygors geworden“, stellte Gorian fassungslos fest. Und dabei fiel ihm all das ein, was ihm Meister Damaraan zu diesem Thema gesagt hatte.
„Ich stehe jetzt auf der Seite des Stärkeren“, sagte Matos. „Diese Möglichkeit eröffnet sich auch dir, und wenn du klug bist, ergreifst du sie, bevor du so furchtbar zerschlagen im Eis liegst, dass dir keine Ordensmagie und keine Heilerkunst mehr zu helfen vermögen. Aus irgendeinem Grund legt Morygor großen Wert darauf, dir das zurückzugeben, was er dir genommen hat: Die Schwerter liegen für dich bereit. Du musst nur ...“
„... zum Verräter werden!“, fiel Gorian ihm ins Wort. „Niemals!“
„... auf die richtige Seite wechseln“, führte Matos seinen Satz zu Ende.
„So würde ich das nicht nennen!“
„Morygor würde dir gern persönlich sein Angebot unterbreiten. Am Speerstein. Du musst nur dort erscheinen. Morygor wird wissen, wenn du dort bist. Keine Ahnung, weshalb du so wichtig für ihn bist. Jedenfalls macht der Frostherrscher nicht mit jedem so ein Aufhebens, der auf seine Seite überwechselt.“
„Es ist sinnlos“, entgegnete Gorian. „Ich werde mich niemals auf seine Seite schlagen!“
„Das habe ich befürchtet“, sagte Matos. „Gorian, es stehen Schattenmeister in den Diensten Morygors, die dich innerhalb von Augenblicken zum Speerstein bringen können.“
„Meine Antwort habe ich bereits gegeben.“
„Um ehrlich zu sein, Gorian: Du hast gar nicht die Wahl. Es liegt einzig und allein bei dir, in welchem Zustand du den Ort erreichst, der dir soeben gezeigt worden ist. Glaub mir, ich meine es gut mit dir. Es ist besser, wenn du mir freiwillig folgst und ...“
Gorian schleuderte Matos das Amulett, das ihm der Basilisken-König gegeben hatte, entgegen und ließ es aufglühen. Eine Anfängerübung für angehende Magiemeister.
Matos hob die Hand und lenkte das Amulett zur Seite, sodass es irgendwo zu Boden fiel. Innerhalb eines Augenblicks verbrannte es zu Asche.
Matos, der ebenfalls über einen Sprechstein verfügte, wandte sich an den Basilisken-Herrscher. „Ich fürchte, ich bin auf Eure Hilfe angewiesen.“
„Selbstverständlich“, lautete die durch den Sprechstein übersetzte Antwort der Kreatur auf dem Thron.
Die Augen des Basilisken begannen zu glühen. Als erstarrte, versteinerte Statue sollte Gorian an jenen Ort geschafft werden, der für Morygor aus irgendeinem Grund eine besondere Bedeutung hatte. Wahrscheinlich trafen sich im Speerstein irgendwelche polyversalen Kraftlinien, bildeten vielleicht Schnittpunkte, die dafür sorgten, dass sich von dort aus das Schicksal besonders leicht beeinflussen ließ. Morygor allein kannte die genauen Gründe.
Gorian blieb nur ein einziger Moment, um zu reagieren. Einem Basilisken-Blick auszuweichen war nicht möglich. Ihm war eine zwingende Kraft eigen, die dafür sorgte, dass jeder diesen Blick erwidern musste.
Obwohl ihn eine unheimliche Macht daran zu hindern versuchte, den Kopf zur Seite zu drehen, wandte er das Gesicht ab. Er kniff die Augen zusammen und riss gleichzeitig beide Hände empor, stellte sie im Rechten Winkel gegeneinander, so wie er es beim Handlichtlesen zu tun pflegte, nur dass die Handflächen diesmal nach außen gerichtet waren.
Die Hände begannen zu leuchten, während Gorian einen Kraftschrei ausstieß. Auf diese Weise ließen sich Bilder von dem, was sich gerade ereignete, einfangen und jemand anderem, der dieser Kunst auch mächtig war, übermitteln. In diesem Fall jedoch wurde nichts übermittelt. Gorians Hände wurden zu einer Art Spiegel und reflektierten all das, was der Strahlenkegel über seinen Handflächen einfing. Und das war das Gesicht des Basilisken-Herrschers.
Dessen Schrei gellte durch den Audienzsaal und erstarb. Zur steinernen Statue erstarrt saß der Basilisken-König auf seinem Thron.
„Was hast du getan?“, rief Matos.
In diesem Augenblick öffnete sich eine Tür in der Nähe des Throns, und ein nur menschengroßer Basilisk rutschte auf seinem Schlangenleib herein, unterstützt von mehreren dürren Vogelkrallen, die er allerdings in erster Linie zum Greifen nutze und nicht zur Fortbewegung. In einem dieser Greifer hielt er einen länglichen Gegenstand, der in ein schwarzes Tuch eingeschlagen war. Die zweite Vogelkralle umschloss einen Obsidian-Dolch.
Die roten Augen wiesen auch diesen Basilisken als Mitglied des Königshauses aus, auch wenn er von seiner körperlichen Erscheinung her gewiss nicht mit dem bisherigen, gerade versteinerten Träger der Königswürde konkurrieren konnte.
Weder Matos noch Gorian kamen dazu, auch nur ein einziges Wort zu sagen, dafür handelte der Basilisk zu schnell. Er schleuderte mit erstaunlichem Geschick den Dolch. Matos hatte mit diesem Wurf offensichtlich nicht gerechnet und sank getroffen zu Boden. Die Obsidian-Klinge steckte ihm in der Brust. Er stöhnte, versuchte sie sich aus dem Leib zu ziehen.
Der Basilisk näherte sich und hackte blitzschnell mit seinem Schnabel auf dem am Boden Liegenden ein, so oft, dass sich selbst ein Untoter davon nicht erholen konnte.
Nur Augenblicke hatte der Basilisk gebraucht, um Matos furchtbar zuzurichten. Dann holte er unter dem schwarzen Tuch ein Schwert hervor, das aus glänzendem Stahl gearbeitet war, und legte es Matos in die kaum noch vorhandene Hand.
Zum Schluss stieß er einige Zischlaute aus, die Gorians Sprechstein nicht alle zu übersetzen vermochte. Aber offenbar rief er die gesamte Hofgesellschaft herbei.
Mehrere Türen öffneten sich, und die illustre Gesellschaft aus Basilisken, Schlangenmenschen, Menschenschlangen, Oger-Wachen und den wenigen ganz gewöhnlichen Menschen strömte voller Neugier in den Audienzsaal.
„Der König ist tot! Es gab ein Attentat – und dies war der Übeltäter!“, übersetzte Gorians Sprechstein die Worte, die der Basilisk der Hofgesellschaft entgegenrief. „Seht, er hat eine spiegelnde Metallwaffe in diesen Saal schmuggeln können! Entlasst all die Oger-Stümper, deren Aufgabe es gewesen wäre, für die Sicherheit des Königs zu sorgen und die Gäste zu durchsuchen. Wie kann man eine so große Metallwaffe übersehen!“