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9.

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Der Bronzegießer – ein Bruder im Schmerz

Auf den ersten Blick wirkte der Mann an der frischen Grabstelle wie eine Statue. Vollkommen unbeweglich stand er trotz der heiß von einem wolkenlosen, blauen Himmel herunterbrennenden Sonne. Nur wer dicht an ihn herantrat, konnte sehen, dass seine geschlossenen Augenlider zuckten, ein kleines Schweißrinnsal von der Stirn herunterlief und sich auch die Lippen gelegentlich bewegten.

Nur ein einziger weiterer Mensch war auf dem von einer Mauer eingefassten Stätte auf der Westseite des Kirchenbaus unterwegs. Er kam, wie auch sonst an jedem Tag, an ein anderes Grab und sprach dort ein Gebet. Heute aber blieb er scheu zwischen den Gräbern stehen, die zumeist aus eingesunkenen und mit Unkraut überwucherten Stellen bestanden, gelegentlich mit kleinen Steinen begrenzt oder auch mit hellen Kieseln belegt.

Immer wieder blickte der neue Besucher hinüber zu der großen, schwarzen Gestalt, und wagte es schließlich, zu seinem Andachtsort zu gehen. Hier verriet nur die ständige Säuberung von Unkraut, dass auch hier vor nicht langer Zeit eine Beerdigung stattgefunden hatte. Es gab keine angelegten Wege, die Grabstellen waren mehr zufällig angeordnet und wiesen nur eine Gemeinsamkeit aus: Nahezu alle waren nach Westen ausgerichtet. Sonst gab es hier keine frisch aufgeworfene Erde, die davon kündete, dass man erst kürzlich einen Toten der Erde übergeben hätte. Särge waren ohnehin eher selten in Mogontiacum und wurden nur von hochgestellten Persönlichkeiten in Auftrag gegeben. So auch bei diesem Mann, der allem Äußeren nach ein Handwerker sein mochte. Sein lieber Verstorbener wurde auf ein Brett gebunden und dann in die Grube gelegt, bei deren Aushub er selbst mitgeholfen hatte. Er sah das als seine Pflicht an, und in diesem Augenblick war er wieder bei seinem ungetauften Kind. Es war ein Junge und sollte den Namen Frix bekommen.

Jetzt war dieser Mann mit seinem stillen Gebet fertig und hockte sich einen Moment hin, wobei er mit einer Hand über die Erde fuhr und sich wieder langsam aufrichtete. Er hatte nur wenige Falten im sonnengebräunten Gesicht, aber zahlreiche silberne Fäden zogen sich durch sein noch dichtes, dunkles Haupthaar und färbten noch stärker seinen Vollbart. Ein zweiter Blick in seine Augen, und man musste erkennen, dass er wesentlich jünger sein musste, als man aufgrund seines Äußeren vermutete.

Als er sich umdrehte und den Platz an der Kirche wieder verlassen wollte, fiel sein Blick erneut auf die starre Erscheinung in kurzer Entfernung vom Grab seiner Liebsten. Der andere schien plötzlich zu schwanken, und noch ehe er ihm zu Hilfe eilen konnte, schlug er der Länge nach auf die Erde.

Mit ein paar schnellen Schritten war er an der Seite des Unbekannten und bemerkte, dass dessen Gesicht dunkelrot angelaufen war. Rasch weitete er ihm das schwarze Gewand am Hals und sah sich um, ob er irgendjemand um Hilfe bitten konnte. Doch hier war außer ihm in der Mittagshitze niemand, und rasch entschlossen eilte er zur Kirchentür und zog sie auf.

Kühle Luft schlug ihm hier entgegen, aber auch hier war niemand zu sehen.

Rasch nahm er das Tuch ab, das er als Schutz gegen den Schweiß um den Hals trug, und befeuchtete es aus dem kleinen Becken mit dem Weihwasser. Wenig später kniete er neben dem Ohnmächtigen, rieb ihm behutsam Stirn und Schläfen ab und wischte ihm mit dem nassen Tuch um den Hals.

Das hatte Erfolg.

Die Augenlider des Ohnmächtigen flatterten stärker, dann riss er sich plötzlich weit auf und starrte seinem Helfer mit großen Augen ins Gesicht.

„Was ist geschehen?“, erkundigte sich der Mann, dessen Kleidung dem anderen nun auch den Berufsstand anzeigte. Offenbar war es ein Mönch, der hier in stummer Andacht in der Sonne gestanden hatte und ohnmächtig wurde.

„Das dürft Ihr nicht machen, Herr Pfarrer!“, sagte er leise und überlegte, ob er das Tuch noch einmal in das Weihwasser halten sollte. Aber der Ohnmächtige schien sich rasch zu erholen und richtete jetzt seinen Oberkörper auf.

„Was nicht machen?“, kam die Frage mit krächzender, heiserer Stimme.

„Ihr dürft nicht so lange in der Sonne stehen, guter Mann! Ich kenne mich da aus, arbeite sehr viel im Freien, weil es mir die Hitze nicht anders gestattet. Ehe man sich versieht, fällt man um, und wenn man dann keinen kühlen Schatten findet, kann man sterben.“

Der andere stöhnte nur, dann probierte er, aus seiner nun halb hockenden Haltung aufzustehen. Hilfreich streckte ihm der andere die Hand entgegen, dann standen sich die beiden Männer gegenüber.

Der im Gewand eines Mönches wankte erneut hin und her, und der andere packte seinen Unterarm und führte ihn in den Schatten des Gotteshauses, wo er sich mit ihm auf den Boden setzte.

„Warum steht Ihr so lange in der Sonne, bis es Euch das Hirn austrocknet, Pfarrer?“, erkundigte er sich, aber der andere machte eine abwehrende Handbewegung.

„Egal, ob es austrocknet. Mir ist alles egal!“

„Wenn Ihr einen Augenblick hier im Schatten sitzen bleibt, Herr Pfarrer, bin ich gleich wieder bei Euch. Ich habe an der Kirchmauer meinen Handwerkskarren stehen, und dort ist auch meine Brotzeit, etwas Käse und ein Krug mit Wein. Ich glaube, das könnt Ihr jetzt vertragen, denn eben war Euer Gesicht noch rot wie Feuer, und jetzt seid Ihr ganz weiß geworden.“

„Lass mich ruhig hier liegen, ich gehe gewiss nicht wieder fort. Eher lege ich mich zu ihr und unserem Kind!“, flüsterte der Schwarzgekleidete und stieß einen langen Seufzer aus.

Der Handwerker eilte davon und kehrte gleich darauf zurück, wickelte aus einem Tuchstück Brot und Käse und stellte den Steinkrug daneben ab. Dann brach er etwas von dem Brotlaib, verfuhr ebenso mit dem Käse und reichte beides dem anderen. Der Steinkrug wurde geöffnet und ebenfalls herübergereicht. Einen Moment schien sich der andere zu besinnen, dann griff er zum Steinkrug, setzte ihn an die Lippen und nahm einen tiefen Zug.

Das schien ihn bereits zu beleben, denn seine Gesichtszüge veränderten sich, und nach einem weiteren Schluck biss der Mann herzhaft in das Brot, dass er dann langsam malmend zerkaute.

„Ich bin der Goldschmied und fusarii (Bronzegießer) Berenger. Wenn ich es einrichten kann, bin ich jeden Tag bei meinem Sohn Frix. Er ist bei der Geburt gestorben, aber der Herr hat mir meine Frau erhalten, und der Medicus sagte, dass wir noch viele Kinder bekommen können, wenn wir das wollen. Aber es ist doch unser erstes Kind gewesen, und deshalb ist mein Herz so schwer.“

Der Pfarrer schien ihm nicht zugehört zu haben, denn sein Blick war erneut auf die Stelle gerichtet, an der er gestanden hatte. Plötzlich aber legte er eine Hand auf den Unterarm des Goldschmiedes und sagte: „Da hat uns Gott der Herr auf wundersame Weise zusammengeführt, Berenger. Ich habe durch einen furchtbaren Mord Frau und Kind verloren und trauere sehr um sie. Aber ich fühle auch, dass die Wege des Herrn wieder einmal wunderbar sind. Du bist also Goldschmied und Bronzegießer? Arbeitest du in der Stadt, Berenger?“

Der andere schaute ihn verwundert an

Was ist los mit diesem Pfarrer oder Mönch, der eben noch in tiefer Ohnmacht lag und nach dem ersten Schluck Wein und etwas Brot wie umgewandelt scheint? Warum interessiert ihn so sehr meine Tätigkeit? Er sieht nicht danach aus, als wolle er meine Dienste nutzen!, dachte Berenger, aber laut antwortete er: „Ja, Herr, ich habe ein paar Reparaturen ausgeführt und auch die Leuchter von St. Johannes in Ordnung gebracht. Außerdem hat einer der Ratsherren bei mir eine Kette bestellt, so dass ich mich nicht über einen Arbeitsmangel beklagen kann.“

„Gut, aber ich hätte vielleicht einen sehr großen Auftrag für dich, wenn du das kannst. Was war bislang deine größte Arbeit, die du vollbracht hast, Berenger?“

„Ich habe Türen und Glocken in Verona, Canossa und sogar in Gnesen gegossen. Bei manchen Sachen habe ich allein gearbeitet, bei anderen, noch größeren, mit Gehilfen. Bevor ich hierher kam, habe ich die alten Bronzetüren am Dom zu Aachen überarbeitet, sie hatten sehr gelitten und sind ja auch schon fast zweihundert Jahre alt, da kann schon einmal ...“

Der Geistliche griff fester zu. „Dort drüben, das Bischöfliche Palais, das kennst du?“

„Ich sehe es wohl, daneben soll ja eine Kathedrale errichtet werden. Warum fragt Ihr?“

„Komm morgen zur Mittagszeit dorthin und frage nach Willigis.“

„Warum? Wer ist dieser Willigis?“

Zum ersten Mal lächelte der Geistliche und wirkte damit wie umgewandelt.

„Mein lieber Berenger, tue einfach, um was ich dich bitte. Du hast mir heute einen Gefallen erwiesen, vielleicht kann ich dir morgen einen anderen erweisen. Melde dich bei der Torwache und sag, dass du zu Willigis willst.“

„Willigis – und wer ist das nun?“

Der Geistliche lächelte und klopfte dem anderen auf die Schulter.

„Das bin ich. Lass dich nicht abweisen und komm bitte wirklich. Es wird dein Schaden nicht sein!“

Damit drehte sich der Mann auf den Absätzen um und schien jetzt wie verwandelt leichten Fußes über den Bestattungsplatz zu gehen. Berenger aber sah ihm kopfschüttelnd nach und war sich nicht sicher, ob er der Einladung folgen würde.

Dann erkannte er jedoch, dass dieser Geistliche in die bezeichnete Richtung ging und sich offenbar auskennen musste. Eine Weile zögerte Berenger noch, dann packte er die Reste seiner Brotzeit zusammen, ging zu seinem Karren zurück und schob ihn dann nach Hause, um seiner Frau von der seltsamen Begegnung auf dem Friedhof zu erzählen.

Eigentlich wollte ihn seine Hildegard schon längst bei diesen Gängen begleitet haben, doch der Medicus hatte ihr streng jede Anstrengung bei der herrschenden Hitze verboten. Aber sie war sichtlich vergnügt, als sie ihrem Mann selbst die Tür öffnete und ihn freudig begrüßte.

Sie war erstaunt von seiner Erzählung, unterstützte ihn dann jedoch in dem Gedanken, auf alle Fälle in das Palais des Erzbischofs zu gehen und sich nach diesem Willigis zu erkundigen.

„Weißt du, Berenger – ich glaube, das hat etwas zu bedeuten. Etwas Gutes, da bin ich mir sicher. Du trauerst auf dem Kirchplatz um unseren Sohn, und dieser Pfarrer oder Mönch trauert an gleicher Stelle um Frau und Kind. Das hat der Herr so gefügt, und wenn er dir vielleicht Arbeit vermitteln kann, könnten wir doch hier bleiben! Nach allem, was wir erlebt haben, Berenger – ich würde gern in der Nähe des Ortes bleiben, an dem wir unseren Frix begraben haben.“

„Aber ich weiß nicht recht, Hildegard – ein Pfarrer, oder, wie du sagst, ein Mönch – welche Arbeit soll er für einen Goldschmied und Bronzegießer haben? Sicher doch nichts anderes als kleine Reparaturen. Ein paar Leuchter, vielleicht ein Kruzifix. Gut, das ist Arbeit für wenige Tage und für wenig Geld. Dann müssen wir erneut überlegen, wohin wir ziehen können. Ich werde dort gebraucht, wo etwas Neues entsteht und nicht immer nur diese armseligen Reparaturen von Dingen, die ich selbst nicht gefertigt habe.“

„Du weißt nicht, was alles möglich ist. Vielleicht steckt mehr dahinter, und schließlich wird doch neben dem Wohnsitz des Bischofs eine neue Kirche gebaut, das kann man doch bis hierher zu uns hören! Jeden Tag das Hämmern und Klopfen, dazu die vielen Menschen, die zur Baustelle ziehen, um Arbeit zu finden. Berenger, sei nicht dumm – geh zu diesem Mönch!“

„Also gut, Hildegard, ich will es versuchen. Aber jetzt habe ich Hunger und würde gern etwas von deiner köstlich riechenden Suppe probieren!“

Berenger hatte den Bitten seiner Frau am nächsten Tag nachgegeben. Er ging zum Sitz des Erzbischofs und sprach die beiden untersetzten Soldaten an, die ihn misstrauisch musterten, die eine Hand auf den Knäufen ihrer Schwerter, die andere fest um eine kurze Lanze geklammert. Mit ihren Nasalhelmen und den gepolsterten Jacken, den Gambessons, wirkten sie schon sehr beeindruckend auf Berenger.

Mit spöttischer Miene musterten ihn die beiden Soldaten.

„Wer soll dir das gesagt haben, guter Mann? Ein Pfarrer hat dich eingeladen, in die bischöfliche Residenz zu kommen und nach Willigis zu fragen?“

Beide lachten plötzlich sehr laut und standen breitbeinig vor dem Tor, offensichtlich nicht bereit, auch nur ein kleines Stück von ihrem Platz zu weichen.

„Ja, wie der Mann hieß, kann ich auch nicht sagen. Ich traf ihn auf dem Begräbnisplatz, wo er plötzlich ohnmächtig wurde. Beim Grab meines Sohnes stand ich, als das geschah, und ich zog ihn in den Schatten. Als er wieder zu sich kam, sagte er zu mir, dass ich mich unbedingt heute hier melden sollte und nach Willigis fragen müsse.“

„Auf dem Platz dort drüben bei der Kirche hast du ihn getroffen?“

„Ja, ein großer, breitschultriger und kräftig wirkender Mann, gewandet wie ein Benediktiner. Hätte er so etwas an, wie ihr es tragt, so würde ich annehmen, er wäre ein Ritter. Habe ich mich geirrt? Gibt es keinen solchen Pfarrer oder Mönch hier im Haus?“

Die beiden Wachen wechselten einen raschen Blick.

„Warte hier!“, antwortete schließlich einer der beiden. „Ich muss unseren Hauptmann benachrichtigen. Eigentlich glaube ich kein Wort von der Geschichte, aber es gibt nur einen im bischöflichen Palais, der an jedem Tag dorthin geht. Rühr dich inzwischen nicht von der Stelle!“

Tore aus Bronze – Die Trilogie

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